Filmlichter
Brownian Movement

Brownian Movement

Originaltitel
Brownian Movement
Regie
Nanouk Leopold
Darsteller
Didier Colfs, Elodie Moreau, Lalit Parashar, Simone Tani, Hari Dostinov Atanasovski, Nilofer Raza
Kinostart:
Deutschland, am 30.06.2011 bei Filmlichter
Genre
Drama
Land
Niederlande, Belgien, Deutschland
Jahr
2010
FSK
ab 16 Jahren
Länge
100 min.
IMDB
IMDB
|0  katastrophal
brillant  10|
7,0 (Filmreporter)
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Formal strenger Film über die weibliche Sexualität
Charlotte (Sandra Hüller), mietet sich eine neue Wohnung. Bei der Vermieterin zahlt die junge Frau für ihre neue Unterkunft in Bar. Auf die kurze Frage ihres Gegenüber, woher sie denn komme, antwortet sie nur "aus Berlin". Wenige Einstellungen später sehen wir Charlotte allein in der Wohnung. Sie kommt aus der Dusche, hat einen Bademantel umgeworfen. Sie setzt sich aufs Bett und scheint vor sich hinzuträumen, das Gesicht von einem Lächeln umspielt. Anschließend hebt sie ihren Bademantel hoch - sie sitzt nackt auf dem Bett.

Spätestens hier wird die erotische Konnotation der scheinbar nebensächlichen Aktionen und Gesten der Frau erkennbar. Was Charlotte da tut, wird in den folgenden Bildern dieses ruhig erzählten Films nach und nach entrollt: Es sind genüsslich durchexerzierte Vorbereitungen - Vorbereitungen auf den geschlechtlichen Akt. Hier trifft sich Charlotte regelmäßig mit wechselnden Liebhabern, keine besonders attraktive, zum Teil sogar ziemlich unansehnliche Männer, und hat Sex mit ihnen. Die Frau ist Ärztin, auch das wird eher nebenbei erzählt, und im Krankenhaus nähert sie sich den Auserwählten. Die Wohnung ist der gemeinsame Treffpunkt. Anonym, kalt, ohne Worte geschieht das, worum es ausschließlich geht - Sex.

Charlotte führt zwei Leben. Das andere Leben ist eine bürgerliche Existenz mit Mann und Kindern. Die junge Familie führt ein harmonisches Dasein. Ehemann Max (Dragan Bakema) liebt sie augenscheinlich - und sie liebt ihn. Auch im Bett läuft es gut zwischen den beiden. Selbst als ihre heimliche Neigung entdeckt wird - in einer Szene, die so rätselhaft und schockierend ist wie der ganze Film -, hält Max zu ihr. Selbst als sie wegen ihrer Neigung ein Berufsverbot bekommt, steht er ihr bei. Die Gründe für ihr Verhalten will sie nicht preisgeben - oder kann sie es nicht? Dennoch will Max verstehen und ist wie der Zuschauer bis zuletzt auf der Suche nach Antworten. Wer ist Charlotte? Was treibt sie an? Was steckt hinter ihren sexuellen Neigungen?
"Brownian Movement" ist kein leichter, dafür ein äußerst provokanter Film. Nicht nur das Gezeigte, auch seine eigenwillige Filmsprache ist gewöhnungsbedürftig. Regisseurin Nanouk Leopold verweigert konsequent, das Verhalten ihrer Protagonistin zu erklären. Die Natur der sexuellen Neigungen Charlottes bleibt bis zuletzt unklar. Ebenso wenig klärt uns die Regisseurin über deren Ursachen oder die psychische Befindlichkeit der Frau auf. Dabei streift Leopold in einer signifikanten Szene den alles klärenden Grund von Charlottes Verhalten. Warum trifft sie sich mit Männern, die alle einem bestimmten Typus zuzuordnen sind? Die Frage der Therapeutin ist zentral, weil die Antwort alle anderen Fragen beantworten könnte. Charlotte überlegt lange, was sie sagen soll. Rätselhaft zwischen Scham und Entrückt sein schwankt ihr Gesichtsausdruck. Dann kommen ihr die Tränen. "Das möchte ich lieber nicht sagen", antwortet sie endlich. "Es würde alles noch schlimmer machen". Nicht nur wird mit dieser Weigerung Kontinuität auf inhaltlicher Ebene vermieden, sondern auch auf dramaturgischer. Max bleibt ebenso im Unklaren über die Motive und Neigungen seiner Frau wie der Zuschauer. Beide müssen mit dem, was sie gehört und gesehen haben, auskommen.

Die Reaktion Charlottes hat auch eine weitere Funktion. Sie suggeriert die monumentale Größe des ursächlichen Zusammenhangs, die nicht fassbaren Ausmaße ihrer sexuellen Natur. Das Verstehen ihres Verhaltens ist ein absurdes Unterfangen. Vielleicht gibt es nichts zu verstehen. Vielleicht ist es überhaupt unmöglich, das Wesen eines Menschen zu fassen, ihn in eine Struktur zu zwängen, ihn mit wenigen Strichen zu umreißen.

In seiner Weigerung, eine psychologische Linie in den Charakter der Protagonistin einzuschreiben ist "Brownian Movememt" so radikal wie selten ein Erzählfilm im zeitgenössischen Kino. Der Gestus des Dramas ist beobachtend, nicht erklärend, und schon gar nicht psychologisierend. Leopold nimmt keine wertende Haltung zum Treiben Charlottes ein. Indem die Kamera in langen und statischen Einstellungen die Figur einfängt, weist sie ihr Tun ebenso als Tatsache aus, wie sie ihre psychologische Disposition als Faktum charakterisiert.

Zur Absage an die Psychologie passt auch das Verhalten Charlottes. Es besteht eine schier unüberwindliche Diskrepanz zwischen ihrem äußerem Betragen und ihrem Innenleben. Dass sich im Ersten das Zweite spiegelt, das Zweite aus dem Ersten sich arbeiten lässt - auch dafür gibt es keinen Beleg. Eine ungeheure stoische Ruhe geht von dieser Figur aus, als wäre sie mit sich völlig im Reinen. Das leise Lächeln verlässt nur selten das Gesicht von Sandra Hüller. Selbst wenn Charlotte vor den Trümmern ihrer beruflichen Existenz steht, ist keine Regung erkennbar. Sie habe kein Bewusstsein für ihr Fehlverhalten entwickelt, begründet die Kommission Charlottes Entlassung. Der Ärztin einen moralischen Relativismus zu attestieren, wäre jedoch falsch. Ihre Tränen in der beschriebenen Szene oder der später implizierte Verzicht auf das Ausleben ihrer sexuellen Neigung sprechen dagegen.

Das Missverhältnis zwischen Innen- und Außenleben der Protagonistin spiegelt sich auch auf der formalen Ebene des Films. Die filmische Form verliert in "Brownian Movement" ein ums andere Mal ihre repräsentative Funktion. Wie Charlotte oft neben sich zu stehen scheint, läuft auch die Kamera neben dem Geschehen her. Anstatt dieses zu stützen, ist sie ihm gegenüber gleichgültig. Dadurch werden zwei Ebenen etabliert - eine inhaltliche und eine formale -, wobei eine Wechselbeziehung zwischen beiden nicht stattzufinden scheint. "Brownian Movement" ist eine radikale Absage an das illusionistische Kino und zugleich ein Film, der das Recht der Form auf Selbstzweck einfordert.

Wenn die Kamera etwa unendlich lange auf den Gesichtern der Darsteller verharrt, dann nicht weil sie etwas transparent machen will. Auch nicht weil sie auf Effekte aus ist, den Zuschauer rühren, seine Empathie für die Figur wecken will. Es sind Augenblicke, in denen die Kamera als solche sichtbar wird. Wenn Leopold sich weigert, in Dialogen auf das Gegenüber zu schneiden, sondern konsequent die einmal gewählte Einstellung beibehält, dann ist das Ausdruck eines unbedingten Stilwillens. Dann wird die Künstlerin Leopold hinter der Kamera spürbar. Wenn Musik einsetzt, dann begleitet diese nicht das Geschehen, sie wird darüber gestülpt. Sie ist weder Nachahmung, noch Erhöhung, sondern Teil einer Struktur. "Brownian Movement" erinnert ein ums andere Mal an das Frühwerk von Chantal Akerman ("Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles", 1975). Nicht umsonst, schließlich ist Leopolds Film ästhetisch wesentlich dem antiillusionistischen Kino der 1970er Jahre verpflichtet. Einem Kino, dessen Reiz darin bestand, die formalen Mittel des Films zu entdecken.
Willy Flemmer, Filmreporter.de
Videoclip: Brownian Movement
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2024