Jean-François Martin/Ricore Text
Cannes 2007
Der deutschsprachiger Film ist zurück
Feature: Renaissance in Cannes?
Es hat sich viel getan in Cannes 2008. Im 61. Jahr der Festspiele erregen barbusige Strandschönheiten bestenfalls die Aufmerksamkeit einiger Hobby-Fotografen aber schon lange nicht mehr die Gemüter. Catherine Deneuve flaniert nicht mehr unbehelligt unter Palmen und der Sandstreifen am Boulevard La Croisette ist für die Festivaldauer mit weißen Pavillons bepflastert. Aus dem bescheidenen Filmfest an der Côte d'Azur wurde ein wichtiges Branchenereignis. Gut, wenn manche Dinge ihr Revival feiern...
erschienen am 9. 05. 2008
Jean-François Martin/Ricore Text
Diane Kruger (Cannes 2007)
... so auch der deutschsprachige Film. Jahrelang ignoriert, kehrt er 2008 mit Cannes-Veteran Wim Wenders ("Palermo Shooting") und Andreas Dresen ("Wolke Neun") zurück.

2007 feiert der deutschsprachige Film ein kleines internationales Comeback. Florian Henckel-Donnersmarck bekommt für "Das Leben der Anderen" den Oscar für den besten ausländischen Film und Fatih Akins "Auf der anderen Seite" läuft in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme. Diane Kruger moderiert als erste Deutsche überhaupt die Eröffnungsfeier und die Preisgala der Festspiele im südfranzösischen Departement Alpes-Maritimes. Wer nun dachte der deutschsprachige Film werde nur ein kurzes Zwischenspiel haben und sich dann erneut von der Festivalbühne verabschieden, irrt.
Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Alexandra Maria Lara
2008 geht der Oscar für den besten ausländischen Film an den österreichischen Beitrag "Die Fälscher". Wim Wenders tritt 24 Jahre nach dem letzten deutschen Erfolg in Cannes ("Paris, Texas") erneut im Wettbewerb an, Andreas Dresens Liebesdrama "Wolke 9" läuft in "Un Certain Regard" und Fatih Akin ist zum Juryvorsitz dieser Reihe berufen worden. Ja, und mit Alexandra Maria Lara beteiligt sich auch wieder eine Deutsche an der Entscheidung über die Vergabe der Goldenen Palme. Kehren die großen Zeiten des deutschsprachigen Films zurück?
Cannes
Palme D'Or
"Papas Kino ist tot"
Als Wim Wenders 1976 das erste Mal in Cannes ausgezeichnet wird, bekommt er nicht die Goldene Palme, sondern den Fipresci-Preis der Internationalen Filmkritik. Die entsprechende Urkunde muss er sich im Festivalbüro abholen. Der Neue Deutsche Film steckt noch in den Kinderschuhen, Regiekollege Alexander Kluge läuft in kurzen Hosen und Sandalen auf. Als die beiden auf den Stufen des ehrwürdigen Palais einen ersten Blick auf die Dokumente werfen, stellen sie fest: ihre Namen sind falsch geschrieben. Kein Wunder: die jungen Filmemacher kennt selbst in Deutschland kaum einer.

Der Schlachtruf des Oberhausener Manifests "Papas Kino ist tot" schafft sich gerade etwas Gehör. Dort heißt es: "Der Zusammenbruch des konventionellen deutschen Films entzieht einer von uns abgelehnten Geisteshaltung endlich den wirtschaftlichen Boden." Eine selbstbewusste Riege junger Regisseure fordert gar die "Freiheit von der Bevormundung durch kommerzielle Interessengruppen" ein.
Cannes 2008
Cannes Festvalplakat 2008
Mit selbstbewusst und bestimmt vorgetragenen Vorstellungen, was die Bedingungen, die Form und die Absicht des neuen Film vom alten unterscheiden sollte, rufen sie zu einer Erneuerung auf, die bald auch international bemerkt wird. Während sich das kommerzielle Kino wegen der boomenden Fernsehkultur allerorten in die Krise rutscht und der miefige deutsche Heimatfilm vom jungen Publikum ignoriert wird, erlangt der Neue Deutsche Film vor allem international ein ungeheures Renommee. Seine Markenzeichen sind Realitätsnähe und politisches Engagement. Seine Protagonisten heißen Peter Schamoni, Volker Schlöndorff, Werner Herzog, Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder und viele andere. Die genannten stehen in den 1970er und 1980er Jahren allesamt im Wettbewerb um die Goldene Palme. 1979 gewinnt Volker Schlöndorff die Trophäe für seine Günter-Grass-Adaption "Die Blechtrommel" und ist damit der erste deutsche Gewinner in Cannes.

Für eine Erklärung des großen Erfolgs des deutschen Films in Frankreich reicht der Verweis auf das Ende der De-Gaulle-Ära und der Schub im deutsch-französischen Verhältnis nicht aus. Es sind junge Autorenfilmer, die mit ihrer Herangehensweise an die französische Nouvelle Vague erinnern. Wie ihre Vorbilder François Truffaut, Louis Malle, Claude Chabrol und Jean-Luc Godard wenden sie sich gegen das kommerzielle Kino, verzichten weitgehend auf etablierte Filmstars und verpflichten sich einer unkonventionellen Erzählweise. Anfang der 1980er Jahre spricht die Jury Werner Herzog die Auszeichnung für den besten Regisseur ("Fitzcarraldo" 1982) zu, Wenders' "Paris, Texas" gewinnt die Goldene Palme 1984.
Filmrevue
Curd Jürgens mit Schauspielkollegin Dorothy Dandridge in Cannes 1958.
Flaute an der Côte d'Azur
Ende der 1980er Jahre hat der deutschsprachige Film den Zenit in Frankreich überschritten. Nur Wim Wenders blieb in Frankreich ein gern gesehener Gast. Gekonnt verwaltet er seinen Ruhm an der Croisette. 1987 wählte man ihn zum besten Regisseur für seinen verträumten Engelsritt "Der Himmel über Berlin". Zwei Jahre später übernimmt mit ihm 25 Jahre nach Fritz Lang erstmals wieder ein Deutscher die Präsidentschaft der internationalen Jury. 1993, als er für "In weiter Ferne so nah" wieder einmal nominiert ist, begegnet der geborene Düsseldorfer zufällig dem Juryvorsitzenden Louis Malle. Natürlich ist ein solcher Kontakt streng verboten und natürlich taucht sofort ein Fotograf auf. Malle reagiert prompt und schreit: "Er hat versucht, mich zu bestechen!" Wenders zieht schnell ein Bündel Geldscheine aus seiner Tasche und streckt sie dem Altmeister entgegen. Der besteigt seine Limousine und verschwindet. Wim Wender bekommt in jenem Jahr als letzter Deutscher eine Auszeichnung in Cannes: den Großen Preis der Jury.
Pandora
Fatih Akin
Naserümpfen über deutsche Komödien
Obwohl die Lizenzkosten für amerikanische Spielfilme von 300.000 US-Dollar in den 1980er Jahren sich binnen kurzer Zeit verzehnfachen und das deutsche Filmförderwesen erheblich ausgebaut wird, gibt es in den 1990er Jahren nur ein Boom deutscher Beziehungskomödien, die im Ausland aber keinen Anklang finden. In Cannes rümpft man verschnupft die Nase. Auch die filmische Aufarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte in "Der Untergang" (2004), "Sophie Scholl - Die letzten Tage", "Der Neunte Tag" (2004) oder "Das Leben der Anderen" (2006), die wieder für Aufmerksamkeit sorgt, wird von der französischen Kritik wesentlich unnachgiebiger bewertet, als andernorts. Jenseits des Rheins sind in den letzten zehn Jahren ein gutes Duzend Dramen entstanden, die sich mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzen. Nur fünf davon finden in Frankreich überhaupt einen Verleih, von denen wiederum nur drei einen deutschen Regisseur haben. ("Moloch" von Alexander Sokurow, "Duell - Enemy at the Gates" von Jean-Jacques Annaud, "Nirgendwo in Afrika" von Caroline Link, "Rosenstraße" von Margarethe von Trotta und "Der Untergang" von Oliver Hirschbiegel). Jüngere anspruchsvolle Regisseure wie Kritikerliebling Tom Tykwer werden hingegen nicht nach Cannes eingeladen.

Erst in den letzen Jahren scheint der Bann wieder gebrochen. Das Festival ist immer größer geworden. 2008 tummeln sich über 4.000 Journalisten und 22.000 Produzenten, Schauspieler, Verleiher, Anwälte und Autoren im Süden Frankreichs. Unter den vielen Gesichtern finden sich endlich auch wieder einige, die Themen aus dem deutschsprachigen Raum Gehör verschaffen.
erschienen am 9. Mai 2008
2024