Polyband
Michel Petrucciani in "Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit"
Vielschichtiges Musikerporträt
Feature: Michel Petrucciani lebt gegen die Zeit
"Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit" ist das Porträt des Jazz-Musikers Michel Petrucciani, der trotz seiner Behinderung große Erfolge feierte. Regisseur Michael Radford entwirft ein vielschichtiges Bild eines Ausnahmekünstlers, der auch als Mensch eine schillernde Persönlichkeit gewesen ist.
erschienen am 9. 11. 2011
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Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit
Die ersten Bilder des Dokumentarfilms "Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit" zeigen einen kleinen Mann zwischen größeren. Sein Gang ist unsicher, um sich zu stützen, benutzt er Krücken. Die Menschen begrüßen ihn begeistert, sie reißen sich um seine Aufmerksamkeit. Wie der Gang, scheint auch das Lächeln des Mannes gequält und unsicher. Er lässt die Menschen hinter sich und geht an der Kamera vorbei direkt auf ein Klavier zu. Am Flügel, das hinter den Kulissen einer Musikveranstaltung aufgestellt wurde, fühlt er sich sichtbar wohler. Hier ist er sicher, hier ist er in seinem Element.
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Michel Petrucciani in "Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit"
Der kleine Mann am Klavier ist Michel Petrucciani, ein begnadeter Musiker und leidenschaftlicher Mensch. Bedingt durch eine angeborene Krankheit - Petrucciani litt unter Osteogenesis imperfecta, im Volksmund auch Glasknochenkrankheit genannt - wurde er nicht größer als ein Meter. Doch so fragil sein Körper, so vital war sein Geist. Als ahnte Petrucciani, dass er kein hohes Alter erreichen würde, gab er sich dem Leben hin, als wäre jeder Tag sein letzter.

Regisseur Michael Radford hat in seiner eindringlichen Dokumentation dieses Leben dokumentiert. In Interviews mit Weggefährten, Freunden und Familienangehörigen wird es Revue passiert. Ergänzt werden die Gesprächspassagen durch ein umfangreiches Archivmaterial, das interessante Einblicke in die Persönlichkeit eines bemerkenswerten Menschen und das Werk eines großen Künstlers vermittelt.
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Junger Michel Petrucciani
"Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit" ist ein vielschichtiges Porträt über einen außergewöhnlichen Künstler und Menschen. Das erstaunliche an der Dokumentation ist aber nicht nur das Objekt seines Interesses, sondern auch die Vielfalt der Themen, die Michael Radford anschneidet. Im Mittelpunkt steht natürlich die musikalische Seite Michel Petruccianis, wobei der Regisseur keinen Hehl daraus macht, dass wir es mit einem Wunderkind zu tun haben.

Assoziationen mit großen musikalischen Ausnahmeerscheinungen und tragischen Menschen wie Wolfgang Amadeus Mozart oder Ludwig van Beethoven kommen einem in den Sinn, wenn man die Entwicklung dieses Künstlers verfolgt. Mit vier Jahren bekommt Petrucciani sein erstes Klavier geschenkt. Zunächst ist es ein Kinderspielzeug, das der frühreife Michel - rücksichtslos wie er manchmal sein konnte - empört mit einem Hammer zerschmettert, weil er ein echtes Instrument haben wollte. Schon bald spielt der Kleine wie ein Erwachsener, mit 13 gibt er sein erstes Konzert, um schon bald zu einem gefeierten Jazz-Musiker aufzusteigen.
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Michel Petrucciani mit seiner ersten Frau Erlinda Montano
Radford verschweigt auch nicht die Schattenseiten des künstlerischen Erfolgs: Petruccianis durch die Krankheit bedingte Außenseiterposition. So muss er als kleiner Junge im Zimmer bleiben, während die anderen Kinder draußen Fußball spielen. Zudem leidet er unter großen Schmerzen und muss Zeitlebens damit zurechtkommen. Nicht selten bricht sich Petrucciani seine empfindlichen Knochen beim Klavierspielen, wobei er trotz der Schmerzen einfach weiterspielt.

Radford aber auch deutlich, dass Petruccianis Leiden allenfalls von physischer und nicht von psychischer Natur gewesen ist. Immer wieder muss der Künstler sich gegen Mitleidsbekundungen wehren, manche glauben, dass sein Gebrechen zwangsläufig mit seelischen Qualen verbunden sein müsse. Nein, so die entschiedene Antwort eines Menschen, der mehr und intensiver lebte als so manch Gesunder. "Ein Mensch zu sein bedeutet nicht, dass man zwangsläufig auch 1,80 m groß sein muss", so Petrucciani. "In Wirklichkeit zählt doch, was man im Kopf hat, es zählt das Potenzial des Körpers - und eine ganz besondere Rolle spielt dabei die Seele".
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Michel Petrucciani mit Sohn Alexandre
Vielleicht hatte Petrucciani durch das intensive Leben, das er führte, einfach keine Zeit für Trauer. Reflexion über sein tragisches Schicksal war nicht seine Sache. Radford macht dies indirekt deutlich, indem er einen kleinen Diskurs auf das Leben seines Sohnes Alexandre einfügt, der unter derselben Krankheit wie sein Vater leidet.

Hier passiert, was viele von dem Musiker erwarteten: das eigene Leben in Relation zum vermeintlich "Normalen" zu setzen. Er stelle sich einfach vor, die Welt um ihn herum bestünde nur aus Riesen, und nur er allein sei der Normale, so Alexandre. Solche Trost spendende Erkenntnisse scheint es beim Vater nicht gegeben zu haben. Petruccianis Leben war keine Ableitung des Philosophierens, er lebte und musizierte unmittelbar und direkt und kostete das Leben, die Kunst und sein Talent voll aus. Dass Petrucciani ein glücklicher Mensch war, konnten viele seiner Zeitgenossen nicht begreifen.
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Michel Petrucciani mit Ex-Frau Erlinda Montano
Andererseits, so hat man den Eindruck, führte Petruccianis unbedingter Lebenswille jenseits der Reflexion auch zu einem schwachen moralischen Bewusstsein. Auch diese Kehrseite seines Wesens verschweigt Radford in seinem vielschichtigen Porträt nicht. So sehr der Musiker andere Menschen durch seine enigmatische Persönlichkeit anzog, so sehr konnte er sie durch seine Rücksichtslosigkeit auch vor den Kopf stoßen.

Da habe es eine Engelsseite im Wesen ihres Ex-Mannes gegeben, so die erste Frau des Musikers, die er wegen einer anderen verlassen hatte. Andererseits habe er aber auch eine teuflische Seite gehabt. Auch das verband diesen Musiker mit anderen großen Künstlern, die zunächst für die Kunst, dann für sich selbst und erst an dritter Stelle für ihre Mitmenschen lebten.
erschienen am 9. November 2011
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Michel Petrucciani war ein Jazz-Pianist, der an der unheilbaren Glasknochenkrankheit litt. Obwohl er kaum einen Meter maß und das Musizieren ihm große Schmerzen bereitete, stieg er zur gefeierten Größe der Jazzmusik auf. Er starb er mit 36 Jahren. Regisseur Michael Radford hat dem Ausnahmekünstler mit "Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit" ein filmisches Denkmal gesetzt. Er zeichnet ein vielschichtiges Porträt eines Musikers und Menschen und verschweigt dabei auch die Schattenseiten..
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