dcm
Angeschlagene Familienidylle
Jean-Pierre Jeunet Traumkarte ist Dreidimensional
Feature: Liebevoll-skurriles Kunstmärchen
Der zehnjährige Tecumseh Sparrow Spivet (Kyle Catlett), von allen T.S. gerufen, verbringt seine Kindheit auf einer Ranch am Fuße der Rocky Mountains. Während eine Tragödie das Leben des verkannten Genies überschattet, reist er heimlich allein nach Washington, um im Smithsonian Museum den Baird-Preis für seine Erfindung entgegenzunehmen.
erschienen am 14. 04. 2014
dcm
Alleinreisender Kyle Catlet in "Die Karte meiner Träume 3D"
Vergnügliches Reiseabenteuer durch ein malerisches Retro-Amerika
Für sein englischsprachiges Heimatmärchen hat der französische Regiezauberer Jean-Pierre Jeunet das verschrobene Buchdebüt des Brooklyner Literaturshootingstars Reif Larsen aus dem Jahr 2009 gewählt. In dem für ihn typischen magisch-poetischem Realismus spinnt Jeunet zwölf Jahre nach "Die fabelhafte Welt der Amélie" in dessen Façon eine verschrobene 3D-Familientragikomödie, die mit Detailversessenheit und Sentimentalität beglückt.

Hinter den vergnüglichen Reiseabenteuer eines Mini-Genies durch ein malerisches Retro-Amerika - obschon in der Gegenwart spielend - verbirgt sich eine Suche nach Erlösung von Schuld und Trauer um den ihm als imaginären Ratgeber zur Seite stehenden Zwillingsbruder, der bei einem Unfall mit Schusswaffen in T.S.' Anwesenheit ums Leben kam. Dieses lange nur angedeutete Trauma hat die Familie im Innersten zerrissen.

Die ebenso intelligente Forschermutter (Tim Burtons Muse und Liebe Helena Bonham Carter) hat sich zurückgezogen, der 100 Jahre zu spät geborene Cowboy-Vater (Billy Bob Thornton-Look-Alike: Callum Keith Rennie) in den Whisky und die ältere Schwester Gracie (Niamh Wilson) in dümmliche Starruhmfantasien geflüchtet. Sie harren der Wiedervereinigung als Familiennukleus, was anrührend und dennoch kitschfrei gelingt.
dcm
Jean-Pierre Jeunets Filmmärchen "Die Karte meiner Träume 3D"
Liebeserklärung an nordamerikanische Naturidylle
Davor allerdings dichtet Jeunet eine durch und durch pittoreske Ode an ein ländliches Paradies, eine aus Grashügeln und sonnigen Weiden bestehende Tom Sawyer-Naturidylle unter weitem Himmel. Die in Kanada entstandene Wunschvision Amerikas zeigt ein idealisiert-ikonisches Traumland mit einem Lebensstil wie von Norman Rockwell gezeichnet: Grandiose Postkartenansichten eines ganzen National-Geographic-Jahrgangs.

In dieser leuchtfarbenen Liebeserklärung an die Natur darf sich eine hübsch verschrobene Familie ausbreiten, die so kauzig und schrullig wie bei Wes Anderson ausfällt. Wo sich "Moonrise Kingdom" jedoch mit Absurditäten begnügt, erzählt Jeunet die Bildungsreise eines Dreikäsehochs, dessen nützlicher Da-Vinci-Erfindergeist ebenso wie seine Sehnsucht nach Liebe von allen Erwachsenen ignoriert wird.

Auf Augenhöhe beschreibt Jeunet seine Welt, visualisiert Abbildungen, Zeichnungen und Skizzen liebevoll in genuinem 3D, inszeniert aber dennoch keinen Kinderfilm, sondern wählt einen optimistisch-märchenhaften Ansatz, kombiniert mit etwas französischem Surrealismus. In einem Wohnwagen auf einem Güterzug versteckt, reist T.S. bis nach Washington; nur um dort als Sensation von einer Schreckschraube und dem Fernsehen ausgebeutet zu werden.

Bemerkenswert, dass dem stillen Güterzug-Tramp dabei nur ein Hobo wie aus einem Zeichenbuch (Auftritt von Jeunets Regular Dominique Pinon) und ein tätowierter Trucker helfen: Polizei, offizielle Behörden, Amtsträger und Medien jagen und beuten ihn hingegen rücksichtslos aus. Wie in "Micmacs - Uns gehört Paris!" hat sich Jeunet ein Herz für Proletarier und Außenseiter bewahrt, wozu die kernige Landlust- und Eisenbahner-Romantik gut passt.
dcm
Kyle Catlett mit Filmmutte Helena Bonham Carter
Kreativkopf Jeunet erschafft eigene (Stil)Universen
Daneben schlagen zwei weitere Faktoren durch: Jeunets in wie immer in vorzüglicher Mise-en-scène drapierte Sammler-Vorliebe für alte Gerätschaften, Holzmobilar und Trouvaillen - sowie seine positive Grundhaltung. Mit ein paar Faustschlägen bekennen sich seine Eltern zu T.S. und befreien ihn aus dem satirisch überzeichneten Griff von Zynikern, um als Familie wieder in vertrauter Umgebung in Montana zu sich zu finden.

Seit sich ihre Wege nach dem Fantasy-Dyptichon "Delicatessen" und "Die Stadt der verlorenen Kinder" trennten, hat Jeunet seinen Ruf als kreativer Kopf gefestigt, der eigene Stiluniversen schafft, während sein damaliger Gefährte Marc Caro nur noch sporadisch bedeutungslose Filme wie "Dante 01" dreht. Der relativ misslungene "Micmacs" ist vergessen, das schillernde Wunderkind-Railmovie vielleicht nicht so fabelhaft wie "Amélie" - aber nahe dran.
erschienen am 14. April 2014
Zum Thema
Regisseur Jean-Pierre Jeunet hat bei "Die Karte meiner Träume 3D" nichts dem Zufall überlassen. Er inszenierte den 3D-Kinderfilm, produzierte ihn und hat mit Guillaume Laurant auch das Drehbuch verfasst. Eine vielversprechende Ausgangslage, denn beide entwickelten bereits das Script zu Jeunets bisher größtem Kinoerfolg, "Die fabelhafte Welt der Amélie" im Jahr 2001.
Oft ist der Weg von Kurzfilmen, Musikvideos und Werbespots bis hin zum Film weit und beschwerlich. Nicht so beim französischen Regisseur und Drehbuchautor Jean-Pierre Jeunet, der sich schon in seinen frühen Arbeiten durch seine ausgeprägte visuelle Gestaltungskraft auszeichnet. So ist es nicht verwunderlich, dass er bereits für seine Werbespots in den 1980er Jahren mit dem höchsten französischen Filmpreis, dem Delicatessen", den er wie alle frühen Filme im Tandem mit Marc Caro inszeniert. Es..
Weitere Kritiken
Zum Weinen lustig
"Lost City - Das Geheimnis der verlorenen Stadt"
2024