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Die Kommune (Kollektivet, 2016)
Berlinale 2016: Das große Leugnen
Thomas Vinterberg überzeugt mit "Die Kommune"
Die Berlinale steuert langsam aufs Finale zu. Bisher war der Jahrgang solide, gegen Ende fährt das Festival erwartungsgemäß noch einige größere Geschütze auf. Auf dem Programm des siebten Tages war die Regiearbeit des dänischen Filmemachers Thomas Vinterberg "Die Kommune" zu sehen. Zudem zeigte das A-Festival die außer Konkurrenz gestartete, herrlich-schräge Tragikomödie "Des nouvelles de la planète Mars" des Franzosen Dominik Moll.
18. Feb 2016: 'Zwischen meinem neunten und 19. Lebensjahr lebte ich in einer Kommune. Es war eine verrückte, warme und fantastische Zeit, in der ich von Genitalien, Bier, akademischen Diskussionen, Liebe und persönlichen Tragödien umgeben war (Thomas Vinterberg).' Ja, was der dänische Regisseur in seinem neuen Film erzählt, hat biographische Wurzeln. Das Drehbuch hat er erneut mit Tobias Lindholm geschrieben, es ist ihre dritte Zusammenarbeit nach "Submarino" und "Die Jagd". Vor der Kamera versammelte er nach "Zwei Helden" und "Das Fest" wieder Ulrich Thomsen und Trine Dyrholm, zwei Topstars des dänischen Kinos.

Die beiden spielen das Ehepaar Erik und Anna. Er ist erfolgreicher Architekt, sie erfolgreiche Nachrichtensprecherin. Tochter Freja (Martha Sofie Wallstrøm Hansen) ist das Produkt ihrer Liebe. Nach dem Tod von Eriks Vater, erben sie das große Anwesen des Verstorbenen. Für den knauserigen Erik ist die Villa viel zu groß, Anna jedoch möchte sie nicht verkaufen, sondern lieber selbst einziehen. Erik lässt sich überreden, er rechnet nach und kommt zu dem Schluss: Sie können sich die laufenden Kosten für das Gebäude nicht leisten. Die Lösung hat Anna schnell parat: Man kann doch daraus eine Kommune gründen, bestehend aus Freunden und Bekannten, die Kosten würden sich alle teilen.

"Die Kommune" beginnt als leichtfüßige Komödie. Ich habe Ole, einen gemeinsamen Freund, wegen der Idee bereits verständigt, eröffnet Anna ihrem verdutzten Ehemann und erklärt, warum sie es ohne dessen Einverständnis getan hat. Sie langweile sich nach all den gemeinsamen Jahren und möchte endlich mal etwas Neues, Aufregendes erleben. Eriks Reaktion: Aufregend? Ole und aufregend? Es folgt ein Schnitt, im Bild taucht Ole auf, ein Linksliberaler mit Lederjacke, Schnauzer, Zigarette im Mundwinkel und zwei Tüten in der Hand, die seinen gesamten Besitz enthalten. Es ist die Einführung des genannten Gewinners.

Fast unmerklich ändert sich die Tonlage und "Die Kommune" wandelt sich von der Komödie zur bitteren Farce. Während die Mitglieder der Kommune enger zusammenrücken, wagt Erik zunächst einen Alleingang. Eine Studentin macht ihm Avancen, er steigt drauf ein, die beiden beginnen eine Affäre. Es dauert nicht lange, bis das Verhältnis entdeckt wird, jedoch nicht von Ehefrau Anna, sondern von Tochter Freja. Erik entscheidet, in die Offensive zu gehen und die Affäre seiner Frau zu gestehen.

Spätestens hier spielt auch Vinterberg mit offenen Karten. Die Reaktion Annas auf Eriks Beichte pendelt nicht nur zwischen Komik und Tragik, sie hat auch entlarvenden Charakter. Und ist dabei wunderbar mehrdeutig. Meisterhaft seziert Vinterberg den linksliberalen Zeitgeist der 1970er Jahre, in denen die Tragikomödie angesiedelt ist. Die Parolen jener Zeit: Freiheit des Individuums jenseits bürgerlicher Zwänge, Antiautorität, Gleichheit, Toleranz und Verständnis stellen Vinterbergs Kommunen-Mitglieder rücksichtslos über die Gefühle eines Einzelnen. Oder sind die Maximen der Hippies nur Vorwand? Wollen sie die Wahrheit, das Leid des anderen nicht sehen, weil sie sonst mit den Konsequenzen konfrontiert werden würden? Es ist Vinterbergs Thema, das er bereits in "Das Fest" und zuletzt in "Die Jagd" eindrucksvoll behandelt hat: Das Leugnen der Wahrheit um der Selbsterhaltung willen.

Tragikomisch geht es auch im französischen Wettbewerbsbeitrag "Des nouvelles de la planète Mars" (Festivaltitel: "News From Planet Mars" von Dominik Moll zu. Im Zentrum der Geschichte steht der Informatiker Philippe Mars (François Damiens), dessen Welt nach und nach aus den Fugen gerät. Sein 12-jährige Sohn erklärt sich zum Vegetarier, der in einem Referat die Massentierhaltung mit dem Holocaust vergleicht. Seine Tochter ist eine altkluge Streberin, die lieber für die Schule lernt, als Papas Geburtstag zu feiern. Die Schwester verdingt sich als Malerin und stellt gerade Aktgemälde ihrer verstorbenen Eltern aus. Und als wäre das familiäre Chaos nicht schon schlimm genug, muss der 49-Jährige bald auch noch einen psychisch labilen Arbeitskollegen (Vincent Macaigne) und dessen neue Freundin, eine von einer psychiatrischen Klinik entlassene Vegetarierin, beherbergen.

Wie schon Mia Hansen-Løves "Was kommt" handelt auch Dominik Molls fünfter Spielfilm von einem Menschen, dessen Leben sich in einer Abwärtsspirale befindet. Während Hansen-Løve die Verlusterfahrungen ihrer Protagonistin nüchtern registriert, hat Moll aus dem Stoff eine bittersüße, warmherzige Wohlfühl-Tragikomödie inszeniert, die ihren Reiz vor allem aus den schrulligen und doch liebenswerten Charakteren bezieht. Und von der Strahlkraft seines Hauptdarstellers François Damiens, der einmal mehr mit der Rolle des netten, unscheinbaren Gutmenschen überzeugt. "Des nouvelles de la planète Mars" läuft auf der Berlinale außer Konkurrenz und ist eine schöne Abwechslung in einem Festival, das eher auf schwergewichtige, gesellschaftsrelevante Filme setzt.
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2024