Jean-François Martin/Ricore Text
Quentin Tarantino mag Cannes und Cannes mag Tarantino
Autodidakt Quentin Tarantino
Interview: Fragen an den Meister
Man hasst oder man liebt diesen Regisseur, aber niemand ignoriert Quentin Tarantino. In Cannes verehrt man ihn. 1994 gewinnt er mit seinem Kultfilm "Pulp Fiction" die Goldene Palme. 2008 erklärt er sich bereit, bei den Festspielen die so genannte "Cinema Mater Class" abzuhalten. In deren Rahmen erläutern renommierte Regisseure alljährlich dem Nachwuchs ihre Arbeit. Martin Scorsese, Stephen Frears, Nanni Moretti oder Sydney Pollack standen in früheren Jahren hier bereits Rede und Antwort.
erschienen am 25. 05. 2008
Buena Vista International (Germany)
Kill Bill - Volume 1
Autodidakt Tarantino hatte einen ungewöhnlichen Weg zum Film. Die Regielegende besuchte nie eine Filmhochschule. Tarantino berichtete wie er in einer Videothek jobbte und verrät, wie er sich das Schreiben beibrachte.

Ricore: Ich habe gehört, Sie haben fünf Jahre lang in einer Videothek gearbeitet. Wie sind Sie schließlich dazu gekommen, selbst Filme zu machen?

Quentin Tarantino: Ein großer Vorteil war natürlich, dass ich mein Filmwissen in dieser Videothek ausbauen konnte. Eigentlich wurde ich eingestellt, weil ich mich so gut mit Filmen auskannte. In den fünf Jahren musste ich kaum arbeiten. Der Laden war so etwas wie ein Club und wir sahen den ganzen Tag lang Filme. Sie hatten eine große Klassiker-Abteilung. Vorher habe ich die TV-Zeitschrift jede Woche studiert und jeden Film angestrichen, den ich sehen wollte. Jetzt hatte ich Zugang zu all diesen Filmen. Ich sah sie jeden Tag. Ich wurde ein großer Fan von Eric Rohmer. Ich sah einen seiner Filme nach dem anderen. Ich vollzog so die Karriere einiger berühmter Regisseure nach. Ich mach das heute noch so. Wenn ich einen Regisseur entdecke, der mich inspiriert, will ich alle seine Filme sehen.

Ricore: Welche Regisseure haben Sie besonders beeindruckt?

Tarantino: Als ich noch jünger war, haben einige Arbeiten mir geholfen, meine eigene Ästhetik zu entwickeln. Das waren zum Beispiel Brian De Palma, Martin Scorsese und Howard Hawks. So sehr ich Scorsese mochte, so sehr war De Palma mein Rockstar. Als ich das erste Mal auf Howard Hawks stieß, verbrachte ich eineinhalb Jahre damit, alle seine Filme zu sehen. Ich habe die TV-Zeitschriften regelrecht nach ihm durchsucht. Jetzt stehen diese Filme beieinander. Damals musste ich sie mir zusammensuchen. All die anderen - wie Samuel Fuller, Douglas Sirk und George A. Romero liebte ich natürlich auch.
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Quentin Tarantino
Ricore: Dann wurden Sie aber zuerst Schauspieler. Sie studierten das sechs Jahre lang. Wie hat Ihnen das als Regisseur geholfen?

Tarantino: Ich persönlich würde jedem raten, der als Regisseur oder Drehbuchautor arbeiten will, eine Schauspielausbildung zu machen. Das ist besser als Schreibkurse zu besuchen. Man muss selbst spielen und herausfinden, was ein Schauspieler durchmacht. Man darf sich aber nicht auf sich konzentrieren, sondern man muss Verantwortung für die ganze Szene übernehmen. Alles, was ich jemals über das Schreiben gelernt habe, lernte ich so.

Ricore: Gab es dort einen Lehrer, der Sie besonders beeinflusst hat?

Tarantino: In einem unserer Kurse war der Schauspieler James Best zu Gast. Er spielt den Sheriff Rosco P. Coltrane in der Serie "Ein Duke kommt selten allein" und ist auch in Samuel Fullers "Schock-Korridor" zu sehen. Er lehrte uns Kameratechnik und sagte: "Wenn ihr in Los Angeles seid, wird eure Arbeit aus TV-Serien bestehen. Wenn ihr dann nicht wisst, wie ihr mit einer Kamera umzugehen habt, wird man auch einfach rausschmeißen." Er erklärte uns also was ein Bildausschnitt ist und dass man sich beim Film nicht so frei bewegen kann, wie auf der Bühne. Indem er uns das beibrachte, lernte ich vor allem die entsprechenden Bezeichnungen. Ich fing wirklich an, über den Bildausschnitt nachzudenken. Wenn ich dann die Filme ansah, die ich schon immer liebte, konnte ich viel besser verstehen, was die Regisseure da taten. Ich begann, Filme mit ganz anderen Augen zu sehen. Von da ist es nur noch ein kurzer Weg dahin, eigene Aufnahmen zu machen.
Jean-François Martin/Ricore Text
Quentin Tarantino (Cannes 2007)
Ricore: Sie haben damals auch ein Video gedreht, das nie veröffentlich wurde. Es heißt "Der Geburtstag meines besten Freundes". Ist das ein gutes Training?

Tarantino: Ich habe öfter mit einigen Freunden zusammen gespielt. Oder wir haben einige Videoprojekte zusammen gemacht. Dann nahm ich mir vor, einen Kurzfilm zu drehen. Ich glaubte, dann wäre ich ein Filmemacher. Ich könnte dann zu all den großen Festivals gehen. Ich machte also eine ziemlich dämliche Komödie. Ich lieh mir eine 16-mm-Kamera. Unser Dreh dauerte vielleicht eine Woche. Uns gefiel, was wir da gemacht hatten. Wir dachten, wir könnten daraus einen Spielfilm machen. Drei Jahre lang haben wir an den Wochenenden daran gearbeitet. Ganz einfach, weil das billiger war. Wenn man sich die Kamera an einem Freitag lieh, musste man nur für den Samstag bezahlen. Am Sonntag hatte der Verleiher geschlossen. Wir drehten das ganze Wochenende. Manchmal wollte ich nur noch schlafen, nachdem wir acht Stunden am Stück gearbeitet hatten.

Ricore: Sie sind also ein Autodidakt?

Tarantino: Ich glaube, selbst einen Film zu drehen ist die beste Methode, etwas über die Arbeit als Regisseur zu lernen. Das ist besser, als Kurse zu besuchen und darum zu betteln, dass man das Equipment dort benutzen darf. Filmhochschulen sind sehr teuer. Wenn man das Geld, das sie kosten, dafür verwendet, einen Film zu drehen, und selbst wenn man das Endprodukt einfach wegwerfen kann, hat man sehr viel gelernt. Robert Rodriguez wurde so zum Star. Ich habe nicht mal einen High-School-Abschluss. Ich hätte gar nicht aufs College gehen können. Aber ich brauchte das auch nicht. Dies hier war meine Filmschule. Zweieinhalb Jahre später sah ich, dass einige von den Dingen, die wir am Anfang gemacht hatten, gar nicht so schlecht waren. Das ist unbezahlbar.
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Ricore: Sie haben auch in der Indie-Metropole Sundance einige Seminare besucht?

Tarantino: Ja. Damals wollte ich mit besonders langen Einstellungen experimentieren. Ich machte eine Szene aus dem Film "Reservoir Dogs - Wilde Hunde" so. In Sundance sagte man mir, ich solle so weitermachen. Ich solle einfach verschiedene Dinge ausprobieren. Das tat ich. Dort werden sehr viele Regisseure ausgebildet. Eine Gruppe nach der anderen kommt dort an. Als ich in der ersten Gruppe war, hassten alle meine Arbeit. Man sagte zu mir: "Was du da machst ist schrecklich, aber noch schlimmer ist, dass du dieses Zeug produzieren willst." Sie sahen sich den Film an, trafen sich mit mir und sprachen mit mir nur darüber, dass ich das alles anders machen sollte. Ich machte einen langen Spaziergang alleine. Und machte mir klar, dass ich das alles gut fand. Die nächste Gruppe war völlig begeistert. Nie in meinem Leben habe ich so einen Gegensatz erlebt. Nach einem weiteren Spaziergang war mir klar, dass man mich entweder lieben oder hassen würde. So würde meine Karriere aussehen.

Ricore: In der ersten Szene von "Reservoir Dogs - Wilde Hunde" kreist die Kamera um einen Tisch. Wie sind sie auf diese Idee gekommen?

Tarantino: Ich mochte Kreisbewegungen der Kamera immer. Ich hatte diese Szene also von Anfang an so geplant. De Palma geht immer so vor, wenn er Liebesszenen dreht. Wenn das Paar zusammen gefunden hat, dreht sich die Kamera einmal um sie. Aus diesem Grund wandte ich diese Technik nicht an. Viele Regisseure kamen später zu mir und sagten, immer wenn sie eine Gruppe von Menschen an einem Tisch filmen sollten, würden sie am liebsten mit der Kamera um den Tisch gehen. Aber sie tun es nicht. Die Idee ist verbraucht.
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Quentin Tarantino ist Autodidakt
Ricore: Was ist so einzigartig an dieser Szene?

Tarantino: Ich wollte vermeiden, dass man versucht, bei jeder der Personen am Tisch stehen zu bleiben. Es ist ein Zufall, wenn die Kamera einen von ihnen gerade dann filmt, wenn er spricht. Wir drehten die Szene sehr oft. Das war einer von den Augenblicken, wo es für mich sehr wichtig war, selbst in der Szene mitzuspielen. Im Grunde gab es bei den Dreharbeiten die Crew und die Schauspieler, die um den Tisch herum saßen. Wenn ich bei der Crew gewesen wäre, hätte ich diese Szene nicht erlebt. Ich hätte nur zugesehen. Als ich mit diesen Männern im Kreis saß, wusste ich, dass ich diese Formation nicht auflösen darf. Ich stand nicht auf. Der Kameramann, die Leute vom Ton, alle mussten zu mir kommen. Ich spielte und ich konnte zugleich sehr gut beobachten, was da am Tisch geschah. Ich konnte es spüren, wenn einer der Schauspieler erschöpft war. Wenn wir am Ende des Tages noch einige Großaufnahmen drehten, wusste ich, wer noch dazu im Stande war.

Ricore: Wurde die Szene jemals geprobt?

Tarantino: Wir haben zwei Wochen lang für den Film geprobt. Das war das Beste, das ich jemals tat. Wir machten einen Low-Budget-Film. Aber ich war überzeugt, wenn wir uns gut vorbereiten würden, würde uns das helfen. Die meisten Produzenten von Billigproduktionen denken anders. Letztlich sparte uns das sehr viel Zeit. Nach den Proben konnten wir den Film sehr schnell drehen. Diese zwei Wochen, die wir uns zum Einstudieren des Films nahmen hatten aber auch noch einen anderen Vorteil: wir verwandelten uns in unsere Figuren.
Buena Vista
Letzte Anweisungen vor der blutigen Trauung
Ricore: Wussten Sie von Anfang an, dass der Film ein Erfolg werden würde?

Tarantino: Während der ganzen Vorbereitungen hatte ich Angst, gefeuert zu werden. Ich hatte die Gelegenheit so zu arbeiten vorher nicht gehabt. Ich glaubte einfach, man ließe Leute wie mich keinen Film machen. Aber nach den Proben war ich mir ganz sicher: Diese Schauspieler würden weitermachen. Sie hätten es gar nicht zugelassen, dass ich gefeuert würde. Ich war überhaupt sehr nervös. Am Ende dieser zwei Wochen waren wir bereit.

Ricore: Es ist aber auch eine bemerkenswerte Szene, weil zehn Minuten lang nur gesprochen wird.

Tarantino: Das ist richtig. Ich sagte bereits, ich lernte das Schreiben als Schauspieler. Als ich auf der Schauspielschule war, hatte ich noch keinen Zugang zu Drehbüchern. Aber ich hatte ein gutes Gedächtnis. Wenn ich also eine Szene aus einem Film nachspielen wollte, lernte ich den Dialog auswendig. Ich schrieb ihn mir auf. An was ich mich nicht erinnern konnte, musste ich das eben ergänzen. Je häufiger ich das tat, desto größer wurden die Passagen, die ich selbst schrieb. Ich dachte gar nicht darüber nach, bis jemand aus meinen Schauspielkurs sagte, ich sei ein guter Autor. Da begriff ich das erste Mal, dass ich mein Schreiben ernster nehmen müsste. Ich begann Szenen für unsere Kurse zu schreiben.
erschienen am 25. Mai 2008
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So obskur wie sein Leben, so verrückt sind auch seine Filme. Quentin Tarantino neigt zur Übertreibung. Das zeigt er auch in seinen Filmen. Der Kultregisseur ist umstritten wie kein anderer. Tarantino inszeniert mit großem Enthusiasmus rohe Gewalt, in seinen Filmen fließt das Blut in Strömen. Dabei zollt er nur den Filmen seiner eigenen Jugend Hommagen. In diesen spielt Gewalt eine wichtige Rolle. Die Quellen seiner kreativen Einfälle sind vielfältig und reichen von Samuraifilme über Mangas bis..
2024