Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Abel Ferrara
Mythos Künstlerhotel
Interview: Chelsea an der Isar
Das New Yorker Chelsea Hotel ist spätestens seit den 1960er Jahren ein Szenetreff für alternative Künstler. Andy Warhol dreht dort Kurzfilme, Musiker und Schriftsteller steigen reihenweise im "Chelsea" ab. Thomas Wolfe, Thomas Dylan, Janis Joplin oder Jimi Hendrix übernachten dort, Leonard Cohen schafft dem Zufluchtsort der Ausgeflippten mit seinem Titel "Chelsea Hotel #2" ein musikalisches Denkmal. 2008 stellt Abel Ferrara einen halbdokumentarischen Film über das verrückte Hotel vor. Da darf die Geschichte von Sex-Pistols-Bassist Sid Vicious nicht fehlen, der im gleichen Apartment an einer Überdosis Heroin starb, wo er zuvor seine Freundin Nancy Spungen erstach. Anlässlich des Publikumsgesprächs beim Filmfest München sprechen Ferrara und seine Darstellerin Bijou Phillips über die kuriosen Dreharbeiten und berichten von ihren Erfahrungen mit einem Mythos.
erschienen am 26. 06. 2008
Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Bijou Phillips
Ricore: Haben Sie jemals im Chelsea Hotel übernachtet?

Abel Ferrara: Ich habe während der Dreharbeiten Zeit dort verbracht. Aber ich war nie länger da. Das ist ein sehr bizarrer Ort. Es gibt kein anderes Hotel in der Welt, das dem ähnelt.

Bijou Phillips: Man sagt, es habe Ähnlichkeiten mit einer Psychiatrie. Wir waren sechs Monate lang dort. Die eigentlichen Dreharbeiten haben ungefähr vier Monate gedauert.

Ricore: Wieso haben Sie sich für diese Mischung aus Dokumentation und Spielfilm entschieden?

Ferrara: Für mich ist jeder Film eine Dokumentation. Es geht immer darum, etwas festzuhalten, es geht um Schauplätze, um Menschen. Wir alle sind Filmemacher, ob es um Western geht oder um einen Gangster-Film. In den USA zeigt das Fernsehen eine ideale Welt. Aber wir denken, es gibt noch mehr. Als man mich darum bat, eine Dokumentation über das Chelsea Hotel zu machen, wusste ich, dass das ein sehr wichtiges Thema sein würde. Es wird so viel dummes Zeug über das Hotel geredet, deshalb war es so wichtig, Interviews dazu zu bekommen. Menschen sagen sehr oft das, was die Leute hören wollen. Die Menschen mit denen ich am liebsten gesprochen hätte, sind leider zu einem großen Teil schon tot.
Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Abel Ferrara
Ricore: Waren die Dreharbeiten mit dem Hotel abgesprochen?

Ferrara: Wir gingen einfach hin. Wir sagten, wir wollen das machen und wir taten es einfach. Wir hatten eine kleine Crew und eine junge Produzentin. Sie sagten uns dann, geht ins Zimmer 188, 112 oder 419. Wenn wir dahin kamen und sich die Türen öffneten, sahen wir eine Zwei-Millionen-Dollar-Suite, mit Menschen, die Millionen verdienen. Wir kannten sehr schnell jeden im Hotel. Vor Menschen wie diesen muss man nur eine Kamera aufstellen und sie fragen, wie es ihnen geht und sie reden eine geschlagene Stunde. Diese Leute bereiteten sich seit 20 Jahren für diesen Film vor. Es musste nichts einstudiert werden.

Ricore: Hatten Sie am Angang des Films eine fertige Geschichte oder entwickelte diese sich erst während des Drehs?

Ferrara: Wir fangen immer mit einem Drehbuch an. Natürlich verändert sich das im Laufe des Arbeitsprozesses. Alles ist in Bewegung. Wenn wir aufhören, uns zu verändern sind wir tot. Alle fragen mich, ob wir viel improvisiert haben. Wenn der Schauspieler einige Joints geraucht hat, spricht er viel freier. Ich habe ein Problem mit Hollywood-Filmen ,bei denen Schauspieler ein Drehbuch in die Hand gedrückt bekommen, ans Set gehen, sich kurz die Hände schütteln und dann ihre Szenen abdrehen. Da ist keine Zeit für Proben, weil die Darsteller ungeheuer teuer sind, das man sich keinen unnötigen Drehtag leisten kann. Wir arbeiten mit dem Text. Wir kommen von einem Drehbuch zu einem besseren. Als ich ein junger Regisseur war, dachte ich mir, ich werde den Leuten erzählen, wie man den Hasen aus dem Hut zaubert. Darum geht es.
Verleih
Chelsea on the Rocks
Ricore: In ihrem Film werden Unmengen an Material verwendet. Wie aufwendig war die Nachbearbeitung?

Ferrara: Wir haben den Film digital gedreht, dadurch war es kein Problem, viele Aufnahmen zu machen. Aber uns war auch klar, dass es länger dauern würde, das Material zu sichten als es bei anderen Filmen üblich ist. Wir sollten nach Sundance kommen und planten bis zum 27. Dezember 2007 mit dem Schnitt fertig zu werden. Letztendlich wurde der Film gerade so fertig, dass wir ihn im Mai 2008 in Cannes zeigen konnten. Wir hatten 40 Stunden Interviewmaterial. Und wir mussten uns alles ansehen. Das beste Archivmaterial konnten wir uns nicht leisten, weil es ungeheuer teuer war. 30 Sekunden zu Sid Vicious sollten 30.000 Dollar kosten. Während man im Chelsea Hotel wohnt, hört man ständig Leute sagen: Hier hat Sid Nancy ermordet. Ich glaube gar nicht, dass er das getan hat. Natürlich geht mich das nichts an. Für mich sind die beiden wie Romeo und Julia.

Ricore: Sind Sie während Ihres Aufenthalts im Hotel wirklich einem Geist begegnet?

Phillips: Ehrlich gesagt mochte ich das Hotel nicht besonders, als wir einzogen. Sechs Monate später war ich traurig, es wieder verlassen zu müssen. Jeden Tag stellt man sich die Frage, ob das, was man sieht, echt ist. Auch wenn man keine Drogen nimmt, ist das eine komische Erfahrung. Ich glaube, dass dort ständig sehr verrückte Dinge geschehen.

Ferrara: Ich ging niemals in den ersten Stock, wo Sid den Mord beging. In dem Zimmer, in dem es geschah, hatte es vorher schon einen Mord gegeben. Ein Freund, der dort übernachtete, erzählte nachher, seine Frau hätte ihn beinahe umgebracht.
erschienen am 26. Juni 2008
Zum Thema
Abel Ferrara macht seinen ersten Amateurfilm als Teenager mit einer Super 8 Kamera. Er wächst in der New Yorker Bronx auf. Dies spiegelt sich in zahlreichen Filmen wieder. Sein erster kommerzieller Erfolg ist "The Driller Killer". 1992 überzeugt er mit seinem Low-Budget-Film "Bad Lieutenant" mit Harvey Keitel in der Hauptrolle. Rainer Werner Fassbinder einen großen Einfluss auf ihn aus. 2005 erhält Ferrara auf den Mary".
"Chelsea on the Rocks" ist eine Dokumentation über das legendäre New Yorker Chelsea-Hotel und dessen Gäste. Prominente aus allen Bereichen der Entertainmentbranche waren Gäste des Hotels. Dies wurde 1883 als Appartementkomplex erbaut und 1905 in ein Hotel umgebaut. Mit Archivaufnahmen und Interviews zeichnet Regisseur Abel Ferrara ("Bad Lieutenant") ein interessantes Portrait eines Hotels, das von sich behaupten darf, einige der schillerndsten Persönlichkeiten der Kulturszene beherbergt zu..
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