Capelight Pictures
Tarsem Singh
Tarsem Singh zu "The Fall"
Interview: Mit Brad Pitt und Rucksack
Obwohl er meist als Tarsem Singh aufgeführt wird, nennt sich der indische Ausnahme-Regisseur nur Tarsem. Sein bildgewaltiges Epos "The Fall" wurde von Roger Ebert als ein Film bezeichnet, den es so nie wieder geben wird. Dessen Entstehungsgeschichte ist genauso magisch wie der Film selbst. Außerdem spricht der Geschichtenerzähler Tarsem über seine Freunde Spike Jonze und David Fincher sowie seinen ungewöhnlichen Dreh mit Brad Pitt.
erschienen am 23. 03. 2009
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The Fall
Ricore: Guten Tag Tarsem. Ich will mit Ihnen gerne über "The Fall" sprechen. Warum wählten Sie ein Mädchen, statt einem Jungen, wie in dem ungarischen Originalfilm?

Tarsem: Es war für mich nicht relevant. Ich suchte nur nach einer Idee. Es sollte jemand sehr Junges sein, jemand, dem man eine Geschichte erzählen kann und seine Körpersprache damit manipulieren kann, jemand der auf die Geschichte reagiert. Ich dachte nur, dass dieser Jemand eigentlich noch jünger sein sollte. Als ich dann schließlich dieses Mädchen fand, das nicht sehr gut Englisch sprach, brauchte es noch einmal zwei Jahre bis sie die Geschichte komplett in Englisch verstand. Ich suchte eigentlich nach einer Vierjährigen, sie war jedoch sechseinhalb.

Ricore: Sie wählten Catinca Untaru, weil sie etwas Besonderes war?

Tarsem: Das war sie. Ich suchte etwa sieben Jahre nach einem passenden Jungen oder einem Mädchen. Ich sagte allen, schaut euch Kinder an, erzählt ihnen eine Geschichte und schaut, wie sie darauf reagieren. Als ich ihr Demo-Band sah, war ich ergriffen. Sie hatte alles falsch verstanden. Sie dachte, es handele sich um eine Dokumentation über einen wirklich Behinderten, der wie Christopher Reeve Kindern Geschichten erzählt. Einige Kinder dachten das und reagierten sehr natürlich. Das lehrte mir zwei Dinge. Zum einen konnte ich allen erzählen, dass dieser Schauspieler nicht gehen kann, was ich auch machte. Nicht einmal der Kameramann und der Produktionsdesigner wussten, dass Lee Page nicht querschnittsgelähmt war. Wir taten sogar so, als ob der Held tatsächlich ihr rumänischer Vater wäre und nicht derjenige im Bett. Ich wollte, dass sie so natürlich wie möglich auf die Geschichte reagierte. In ihrem wirklichen Leben gab es keine Männer, nur sie und ihre Mutter. Sie wusste nicht wirklich wie man mit Männern umgeht und verliebte sich schnell in ihn.

Ricore: Warum haben Sie nicht wie in "The Cell" große Stars verpflichtet?

Tarsem: Weil ich sonst nicht die Art Film hätte machen können die ich wollte. Nachdem ich das Mädchen gefunden hatte, merkte ich, dass es jemand sein musste, den niemand kannte. Er hatte davor nur in einem Fernsehfilm mitgewirkt, wo er jedoch eine Frau spielte. Niemand sollte ihn erkennen, damit er glaubhaft einen wirklichen Querschnittsgelähmten spielen konnte. Das war der eine Grund. Zudem drehten wir mit einem schmalen Budget über mehrere Jahre hinweg. Und wir wusste ja nie, wie lang der Film dauern würde, vier Jahre, fünf Jahre? Zehn Jahre? (lacht). Unter diesen Umständen ist es schwierig, einen Star zu finden.
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The Fall
Ricore: Warum haben Sie diesen Titel gewählt? Verglichen mit dem Rest des Filmes ist er sehr einfach und kurz.

Tarsem: (Lacht). Viele Leute finden lustigerweise den Film sehr einfach. Manche denken er ist fantastisch idiotisch einfach, andere finden ihn urkomisch. Der Titel ist was immer man will, weil er so einfach ist. Es kann Frühling heißen oder für einen schlechten Stunt stehen, den die Hauptfigur machte. Es gibt so viele Deutungsmöglichkeiten.

Ricore: In "The Fall" geht es um einen Stummfilmdarsteller. Wie ist Ihr Verhältnis zu Stummfilmen?

Tarsem: Gar nicht so intensiv eigentlich. Es resultierte aus der Geschichte, die er dem Mädchen erzählte. Mir ging es eher um das Geschichtenerzählen, nicht darum, dass sie es so sah, wie er es erzählte. Es gibt etwas, das älter als Kino oder Bücher ist, das auch schon mit Geschichten zu tun hat. Wen einem jemand aus einer anderen Kultur eine Geschichte erzählt, gibt es am Ende immer zwei Versionen der Geschichte. Durch das Kino wird der Abstand zwischen zwei Geschichten immer enger. Man kriegt die Körpersprache des Menschen nicht mehr mit, dem man die Geschichte erzählt. Man erzählt sie einfach. Was ich nicht wollte war eine Geschichte, wo jeder den Finger drauf halten kann und sagen:" Das ist so eine Story. Er erzählt ihr eine Cowboy-Geschichte und sie hört aber eine Bollywood-Geschichte. Die Bilder, die aus ihrem Kopf kamen sollten keine Referenz im Kino haben. Daher wurden die Vorlagen älter und älter, ich schaute mir Gemälde aus Pakistan und Persien an, die sehr kleinformatig sind. Dieser Stil hat mir für den Film gefallen. So musste es ein Historienfilm werden. Heutzutage findet man keine Kinder mehr, die nicht schon Filme gesehen haben, außer im Dschungel vielleicht. Zuerst sollte es rein zeitgenössisch werden. Mit dem historischen Stil kam all diese Stummfilmsprache. Und sie dachte natürlich, dass er alle Stunts selbst gemacht hatte.

Ricore: Sie verwendeten keine Computereffekte. In Kombination mit den Stummfilm-Anspielungen bekam der Film für mich Anklänge an eine Hommage an das frühe Kino, wo alles echt und handgemacht ist.

Tarsem: Ja, das entwickelte sich in diese Richtung. Das waren die Sachen, die ich in der Filmhochschule am liebsten anschaute. Ich schätze Computereffekte sehr. Aber ich denke, dass viele mit einer Art Realismus wetteifern, der sie bald billig aussehen lässt. Sie schauen nämlich heute sehr gut aus, aber in zweieinhalb Jahren schauen sie nur dilettantisch aus. Ich dachte mir, das ist jetzt zwar nicht hip, schaut aber in 20 Jahren immer noch genauso gut aus, weil es echt ist.
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The Fall
Ricore: Warum drehten Sie in so vielen Ländern?

Tarsem: Ich wollte die Leinwand öffnen. Der Vorstellungskraft sollten keine Grenzen gesetzt werden, und das wortwörtlich. An das andere Ende der Erde zu kommen ist für die Imagination einfach. Aber es kostet Geld. Imagination hat kein Budget. Ich habe diese Locations in den vorhergehenden 17 Jahren gesucht. Es begann mit den Szenen im Krankenhaus. Am ersten Tag trifft sie ihn, das drehten wir dann, am zweiten erzählt er die Geschichte. Nach diesen Tagen erzählte ich allen: "Er ist ein Star, er kann gehen." Einige weinten, andere waren verärgert. Dann ging ich mit den Mädchen in einen Raum und zeigte ihr Bilder und fragte sie: "Wo meinst du sind diese Geschichten passiert? Sie war selbst für mich ein wenig überambitioniert und deutete über den ganzen Globus. Ich musste das stoppen und realisierbar machen. Dann brauchte ich noch vier Jahre, bis der Film endgültig fertig war.

Ricore: Sie erwähnten die persische Kunst…

Tarsem: Ja, persische Kunst, viel Vor-Renaissance-Kunst, die die Perspektive ignoriert. Sehr flach - ich liebe diesen Stil.

Ricore: Ich dachte oft an Dali...

Tarsem: Der kam im Poster durch. Ich war mich seiner sehr bewusst. Der visuelle Stil seiner Gemälde und meiner Filme ist dennoch sehr unterschiedlich.
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The Fall
Ricore: Der Film ist von intensiven Farben beherrscht. Wie ist Ihr Verhältnis zu Farben?

Tarsem: Ich denke als Inder habe ich ein besonderes Verhältnis zu Farben. Wenn man nach Indien geht, ist alles bunt. Je ärmer man ist, desto farbenfroher zieht man sich an. Das gefällt mir sehr.

Ricore: Nach "The Cell" dauerte es sechs Jahre bis zu "The Fall". Warum haben Sie anschließend keinen normalen Hollywood-Film gedreht?

Tarsem: Gerade im Moment arbeite ich an mehreren Hollywood-Projekten, weil ich die schon auch sehr schätze. Aber bei "The Fall" war ich in der Situation, wo ich diesen Film einfach drehen musste. E war eine Obsession für mich. Mein Bruder sagte, entweder wir machen diesen Film oder ich werde wie diese reichen alten Leute sein, die immer von dem Film reden, den sie nie gemacht haben. Also nahm ich alles Geld und machte den Film. Ich sagte, es hängt alles von dem Kind ab. In dem Moment, wo ich das hatte, sagte ich: "Jetzt gibt es keine Entschuldigungen mehr, ich mache diesen Film, egal wie lange es dauern wird. Wenn ich ihn nicht gemacht hätte, hätte ich wohl keinen anderen Film mehr gedreht. Als er fertig war, sagte ich:"Und jetzt machen wir einen Hollywood-Film".

Ricore: Hatten Sie währenddessen Zeit, weitere Werbefilme zu drehen.

Tarsem: Ja, dafür hatte ich Zeit. Ich drehe sehr gerne Werbung. Auch half mir das, den Film zu beenden. Nach den Szenen im Krankenhaus drehte ich überall auf der Welt. Immer wenn ich irgendwo Werbefilme machte, drehte ich auch Sequenzen für "The Fall".

Ricore: Es ist amüsant, viel Werbung zu drehen und zugleich einen Film zu machen, den Sie vollkommen selbst finanzierten. Es ist wie eine Parodie auf den Kapitalismus.

Tarsem: "The Fall" ist kein kommerzieller Film. Es ist wie wenn Ihnen jemand erzählt: "Sie werden viele Kinder kriegen, aber Ihr erstes wir Autist sein." Man kann da nichts machen, man sagt einfach, packen wir es an. Ich sehe sehr genau, was kommerziell ist und was nicht. Das passiert halt manchmal im Leben - man verliebt sich in Jemanden, wo man weiß, dass das Ärger geben wird. Man weiß es und fragt sich, was kann ich machen? Und man lässt es dann einfach geschehen. Ich dachte mir, wofür ist Geld, das ich mit Werbung verdiene, sonst da? Es soll dazu beisteuern, etwas zu schaffen, dass sonst niemals gemacht worden wäre. Geld ist zum ausgeben da.
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The Fall
Ricore: Wer ist Ihre persönliche Lieblingsfigur im Film - neben dem Mädchen?

Tarsem: Der Mystic. Das ist eine fantastische Figur. Ich meine, ich schätze Lee Pace' Figur auch sehr. Das Mädchen war großartig, aber der Mystic ist mein Favorit. Er hat sich während des Drehs besonders interessant entwickelt. Ich spreche über den Schauspieler. Als Figur würde ich Darwin und Wallace wählen.

Ricore: Warum ihn?

Tarsem: Weil Darwin mein persönlicher Held ist. Ich schätze ihn sehr. Ich wollte auch einen Film über das Verhältnis von Charles Darwin und Alfred Wallace drehen. Kennen Sie die Geschichte von Wallace?

Ricore: Nein.

Tarsem: Das ist eine sehr seltsame Geschichte. Wallace war ein Mann, der etwa zeitgleich mit Darwin das Prinzip der Evolution entdeckte und ihm das mitteilte. Der verbrachte 35 Jahre mit Forschen, um zum gleichen Ergebnis zu kommen. Und eines Tagen bekommt er einen Brief von jemandem, der arm und nicht sonderlich gut ausgebildet ist, aber die gleiche Idee hat. Wallace lebte in Papua-Neuguinea und kam nur durch Nachdenken auf dasselbe Ergebnis. Darwin war schockiert. Seit Jahren sprach er davon, es aufzuschreiben, aber er hatte es noch nicht getan. Er bot ihm an, das Ergebnis gemeinsam zu veröffentlichen. Der war einverstanden. Heute kennt jeder nur Darwin. Das interessierte mich, war jedoch nicht genug für einen Film und so kam es in "The Fall".

Ricore: Meine Lieblingsfigur war der Ex-Sklave Otta Benga.

Tarsem: Haben Sie David Finchers "Der seltsame Fall des Benjamin Button" schon gesehen?
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The Fall
Ricore: Noch nicht.

Tarsem: Weil diese Figur nämlich auch in diesem Film vorkommt. Um die Jahrhundertwende war eine Weltausstellung. Dafür brachte jemand einen Pyrenäen aus Afrika - Otta Benga. Er wurde verschleppt, um der Welt zu zeigen, wie er aussieht. Als die Sache vorbei war, konnte er nicht einfach nach Hause fahren. Er hatte kein Geld und war völlig verloren. Doch dann besorgte ihm jemand ein Zimmer in einem Zoo, wo sie ihn dann reinsteckten. Irgendwann schrieb jemand einen Beschwerdebrief, dann wurde er rausgeworfen und war wieder verloren. In den 1920er Jahren hat er sich schließlich erschossen. Das ist eine sehr tragische kleine Geschichte, die ich in der Zeitung las. Ich drehte erst in dem Krankenhaus und hatte eine vage Fortstellung von den Figuren. Die entwickelten sich erst im Nachhinein.

Ricore: Spike Jonze und David Fincher präsentierten "The Fall". Wie kam er dazu?

Tarsem: Mit Jonze arbeitete ich an Werbefilmen und Musikvideos. Wir kennen uns schon ziemlich lange. Beide haben meinen Film intensiv unterstützt. Sie halfen mir, finanzielle Unterstützung zu finden. Ich neige nicht dazu, leicht Input für meine Projekte anzunehmen. Aber auf die Meinung von diesen beiden gebe ich viel. Als ich den ganzen Film geschnitten hatte, präsentierten sie ihn auch noch. Sie beeinflussten den Film in Gesprächen. Spike brachte mich dazu, dass Projekt schließlich anzugehen. In London zeigte er mir eine Dokumentation, die George Lucas über einen Francis Ford Coppola-Film namens "Rain People" drehte. Coppola dreht da durch. Ich merke, das ist der Film eines Wahnsinnigen. Wenn ich meinen Film jetzt nicht mache, mache ich ihn niemals. Mein Film ist ganz anders als Jonze und Fincher. Aber er steht dennoch irgendwo dazwischen. In Finchers Filmen geht es immer um die Komposition. Egal wie gut die Schauspieler in einem Take sind, wenn die Komposition nicht stimmt, komm er nicht in den Film. Spike dagegen ist Komposition nicht so wichtig, bei ihm geht es nur um die Figuren. Ich hatte Figuren in einem Krankenhaus, die sehr statisch waren und genaues Charakter-Spiel verlangten und zugleich einen Fantasy-Film, der perfekt komponiert sein soll.
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The Fall
Ricore: Erzählen Sie von "Benjamin Button". Was war Ihre Aufgabe beim Dreh?

Tarsem: Ich habe da nicht sehr viel gemacht. Ich finde den Film toll. Fincher gab mir das Drehbuch, obwohl er keiner ist, der normalerweise einen Second-Uni-Regisseur verwendet. Er frage mich: "Ich habe das noch nie gemacht. Aber ich will, dass er [Hauptfigur Benjamin Button] auf Reisen geht. Kannst du das für mich machen?" Ich sagte: "Jederzeit." Ich sagte ihn, dass es in Indien nur zwei Möglichkeiten zu drehen gibt: Die erste: völlige Kontrolle. Die Zweite: keine Kontrolle. Wenn man völlige Kontrolle will, kostet das unglaublich viel Geld mit einem Star wie Brad Pitt. Keine Kontrolle heißt: mit absolut nichts nach Indien reisen. Und so nahm ich Brad allein mit nach Indien - mit einem Rucksack. Fincher sagte ja. Ich war nicht sicher, ob dieser Teil dann wirklich in den Film kommen würde, aber ich freue, mich dass einige Szenen drin sind.

Ricore: Wie war diese einsame Arbeit mit Brad Pitt?

Tarsem: Es war fantastisch. Wir haben ja schon früher bei Werbefilmen zusammengearbeitet.

Ricore: Wie schaut es mit zukünftigen Projekten aus? Sie erwähnten, dass Sie an Hollywoodfilmen arbeiten.

Tarsem: Einer heißt "War of the Gods". Dabei handelt es sich um einen Renaissance-Actionfilm. Es soll so ausschauen, wie wenn Caravaggio auf "Fight Club" trifft. Renaissance mit Elektrizität. Eine alte Geschichte, die zeitgenössisch erzählt wird. Wir werden wohl in einer Woche anfangen. Der andere ist ein Western, ein Cowboy-Film.

Ricore: Vielen Dank für das Interview.
erschienen am 23. März 2009
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The Fall (Kinofilm)
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