Kinowelt Filmverleih
In der weite der Schneewüste
Schattenseiten der Liebe
Interview: 'Man muss Julia einfach nur zugucken'
"Schneeland" ist Hans-Werner Geißendörfer erster Spielfilm seit über zehn Jahren. Das Drama ist thematisch sehr komplex und berührt wegen seiner Tragik sowohl Regisseur als auch Hauptdarstellerin Julia Jentsch. In "Schneeland" dreht sich alles um Liebe. Doch geht es nicht nur um die "reine" und unschulidge Liebe, sondern vielmehr um ihre dunklen Seiten mit allen möglichen Perversionen und psychischen Abgründen. Filmreporter.de befragte Hans W. Geißendörfer und Julia Jentsch über die "Urgesteine des Fühlens".
erschienen am 20. 01. 2005
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Abgeschieden und grausam: Julia Jentsch in "Schneeland"
Ricore: Der Film basiert auf dem Roman Schneeland" von Elisabeth Rynell. Was hat sie beide an der Geschichte fasziniert?

Julia Jentsch: Die Geschichte ist sehr extrem und hat mich regelrecht in ihren Bann gezogen. Sie hat sehr viel mit Abgeschiedenheit und Grausamkeit zu tun, bewegt sich aber am Ende doch aus dieser Trostlosigkeit heraus. Zudem ist die Sprache ungewöhnlich poetisch. Ich fand außerdem die beiden Zeitebenen sehr spannend. Die Geschichte geht von einer Person in der Gegenwart aus. Sie will ihrem eigenen Leben ein Ende setzen und geht deswegen in den Schnee. Dort entdeckt sie die Spuren einer vergangenen Geschichte, die ihr wiederum Kraft geben, ihr eigenes Leben weiterzuführen. Das war das Besondere für mich, die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Hans W. Geißendörfer: Für mich war ganz wesentlich über die Urgesteine unseres Fühlens, unsere Sehnsüchte einen Film auf sehr alttestamentarische Art und Weise machen zu können. Wir haben in dem Film eine enorme Geradlinigkeit. Es gibt nur fünf Figuren, die sich alle nach Liebe sehnen. Der zweite wesentliche Begriff ist die Zeit. Elisabeth erlebt ihre Geschichte heute, im Jahr 2004. Ihre Geschichte ist keine Rahmenhandlung, sie hat eine eigene Dramaturgie: Vom Sterben wollen zum Leben. Dann gibt es Inas und Arons Geschichte, die 1937 spielt. Die Intension der Erzählung ist Gegenwart und Vergangenheit zusammenzuführen. Unsere Gegenwart besteht aus der Vergangenheit. Die beiden Zeitebene laufen zusammen. Erst wenn man sich darüber im Klaren ist, entsteht Zukunft. Im Laufe des Films merkt man nicht mehr, dass die Geschichte 1937 spielt und die andere heute. Am Ende gibt es nur noch Elisabeth, die aufgrund der Vergangenheit überlebt. Wir reden immer von "es war einmal, es ist und es wird sein." Der Film vereinigt die Biographie eines Menschen mit dem Ganzen. Was übrig bleibt ist die Zukunft. Ich hoffe wir haben es geschafft, das im Film überzeugend darzustellen. Der Film ist sicherlich auch außerhalb der Zeit. (lacht)
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Hin- und hergerissen zwischen Vater und Freund
Ricore: Der Film ist doch aber im Grunde zeitlos, oder?

Jentsch: Auf jeden Fall. In dem Film sind grundsätzliche Motive enthalten und immer wiederkehrende Konflikte. Man begegnet im Leben so unterschiedlichen Formen der Liebe: Liebe zwischen Tochter und Vater, Tochter und Mutter etc., aber vor allem auch in dieser Abartigkeit. Man liebt seine Eltern. Aber in dem Augenblick in dem sie einen misshandeln oder missbrauchen, steht man in einem schweren Konflikt. Man kommt damit nicht klar und versteht erst gar nicht was da passiert. Man muss sich damit erst auseinandersetzen. Das Thema ist hochaktuell. Es gibt so viele Geschichten über Mädchen, die seit Jahren von ihrem Vater missbraucht werden.

Ricore: Warum verlässt Ina ihren brutalen Vater nicht einfach?

Jentsch: Sie lebt in totaler Einöde. Sie kennt das Leben nicht anders. Sie kennt nur die Eltern und deren Leben und dass, was sie ihr weitergeben. Es ist sehr schwierig für sie sich gegen den Vater zu wehren. Ina lernt schließlich Aron kennen und spürt, dass das Gefühl der Liebe auch anders sein kann. Sie merkt, dass die Liebe ihres Vaters krank ist.

Geißendörfer: Ina hat ja auch keine Kommunikationsmöglichkeiten. Erst mit Aron wird die "andere Welt" sichtbar. Es ist ganz wichtig, dass oft nur die Begegnung mit einem anderen Menschen zur Freiheit führen kann. Die Urteilfähigkeit eines anderen Menschen macht frei. Es kommt ein Fremder, in dem Fall Aron, der seine eigene Geschichte erzählt. Seine Erzählung erweitert Inas Blickfeld. Aron führt Ina in die Freiheit. Er gibt ihr die Kraft ein neues Leben beginnen zu wollen. Kommunikation gibt Kraft. Auch Elisabeth schöpft durch Kommunikation Kraft. Maria Schrader spielt die hysterische Frau, die niemanden hat. Sie fängt an mit einer Leiche zu kommunizieren. Sie lädt die Tote zum Essen ein, deckt sie zu. Elisabeth (alias Maria Schrader) hat niemanden, nur die Landschaft, die Leiche, die Bettdecke.
Kann Inas Seele nicht zerstören: Der Vater (Ulrich Mühe)
Ricore: Worin lag die größte Herausforderung?

Geißendörfer: Die größte Herausforderung war, dass die Dramaturgie aufgeht. Man erzählt drei Geschichten. Am Anfang lässt man sich ganz auf Elisabeth ein. Man nimmt teil wenn ihr Mann stirbt und ist sehr betroffen. Dann kommt die Zäsur und man ist plötzlich bei Aron, der durch den Schnee stapft. Die Gefahr dabei ist, dass die zweite Geschichte, die Emotionen der ersten verdrängt. Ich habe mich jedoch auf die Zuschauer verlassen, da es in den letzten zehn Jahren viele solcher Filme gab, die mit ähnlicher Dramaturgie gearbeitet haben.

Jentsch: Schwierig war für mich, Ina in ihrem Schmerz und Ernsthaftigkeit gerecht zu werden.

Geißendörfer: Und das ist das Besondere an Julia Jentsch. Ihre große Qualität ist die Ernsthaftigkeit und die Fähigkeit sich hundertprozentig auf etwas einzulassen. Sie ist auf eine hochintelligente Weise naiv oder besser gesagt unschuldig. Der Figur muss sie die Ernsthaftigkeit erst geben, die nicht nur angedeutet, sondern in aller archaischen Gründlichkeit vorzufinden ist. Man hat fast das Gefühl man müsste Julia davor beschützen, sich nicht zu sehr in den Schmerz der Figur zu vertiefen.

Ricore: Das Schicksal der Ina ist so grausam...Man fragt sich wie sie es aushält?

Jentsch: Das Gute daran ist, dass sie Wege findet Kraft zu schöpfen. Sie redet mit ihrer toten Mutter. Wenn er sie missbraucht, flüchtet sie geistig. Sie verlässt sozusagen ihren Körper. Ich kann mir das so gut vorstellen so tragisch ich das finde. Man versucht den Geist vom Körper abzuspalten. Der Körper ist nur noch die Hülle, die da liegt, mit der kann er machen was er will. Ina hält ihre Gedanken rein und sauber. Sie flüchtet in die Landschaft, weg von ihrem Vater. Es ist fast schizophren, aber das ist die Situation, in die jemand gebracht wird, die so etwas erleben muss.

Geißendörfer: Ihr großes Motiv ist die Reinheit nach der sie sich so sehnt. Sie bringt letztlich ihren Vater um Platz zu machen für das Reine. Sie will sich reinwaschen. Sie sagt zu Aron: "Du hast mich gereinigt". Und das nenne ich alttestamentarisch. Er hat sie erlöst.
Öffnet sich trotz Grauen der Liebe: Ina (Julia Jentsch)
Ricore: Wie haben sie sich vorbereitet?

Jentsch: Trotz der Häufigkeit solcher Schicksale, ist es eine besondere Geschichte. Ina ist trotz ihrer Lage fähig zu lieben. So vielen Menschen geht das vielleicht ganz anders. Die sind möglicherweise gar nicht mehr in der Lage sich einen anderen Menschen zu öffnen. Das Schöne bei "Schneeland" war, dass die Geschichte immer intensiver wurde, sich in unseren Köpfen laufend weiterentwickelte. Es entstehen Bilder, plötzlich hört man was, sieht was. Die ersten Kostümproben bringen einen der Geschichte noch näher. Man sieht was die Leute getragen haben. Das erste Zusammentreffen mit Hans, bei dem er erzählt hat was ihn begeistert hat oder wie er darauf gekommen ist, hat mich auch sehr viel weitergebracht.

Ricore: Wie war Ihre Zusammenarbeit?

Geißendörfer: Wie Sie sehen, sitzen wir hier ganz friedlich zusammen. Es ist gar nicht so leicht mit Julia mal einen Kaffee zu trinken, weil sie sehr viel arbeitet. Ich habe die Zusammenarbeit sehr genossen. Julia ist keineswegs misstrauisch oder übereitel. Beim Dreh mussten sie Julia und Ulrich Mühe eigentlich nur zugucken. Es lief ganz von alleine. Ab und zu musste man die beiden vielleicht mal dämpfen, aber ansonsten mussten sie wirklich nur zugucken. Es entsteht vor ihnen irgendetwas, was die beiden aus dem Text oder dem szenischen Ablauf nehmen. Die Regiearbeit bei dem Film war sehr entspannend. Das Buch zu schreiben war wesentlich komplizierter.

Jentsch: Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Ich fand es sehr schön zu beobachten, wie sich Hans mit der Geschichte beschäftigt hat, wie sehr er sie geliebt hat. Er wollte nichts mit Gewalt ändern.

Geißendörfer: Dazu möchte ich noch was sagen. Der Erzähler hat eine sehr konkrete Haltung. Das Schlagwort lautet: "wir gucken nicht weg." Innerhalb dieses Schneelandes herrscht ein harter Realismus. Nun bringt Ina ihren Vater am Ende um. Und auf einmal ist der Realismus nicht mehr da. Wir sehen nicht wie Ina ihren Vater ermordet. Wir sehen nur den Schatten an der Wand. Wir beobachten es aus der Ferne. An Inas Kleidung ist nach dem Mord kein Blut zu sehen. Das Messer fällt auf den Boden und wir sehen immer noch kein Blut. Spätestens da merkt man, dass sich was verändert hat. Diese Idee ist erst bei den Dreharbeiten entstanden. Julia hat Ina etwas mitgegeben, das es mit unmöglich machte, Ina mit Blut zu beschmutzen. Ich wollte die Figur nicht zerstören, weil ich sie liebte. Jeder weiß, dass sie sich schuldig gemacht hat, aber ich muss das Detail nicht zeigen. Ich wollte ihnen das nur erzählen, damit sie sehen was passieren kann wenn die Besetzung so stimmt, wie es bei Schneeland der Fall war.
erschienen am 20. Januar 2005
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