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Olivier Assayas
Geschichte interpretieren
Interview: Olivier Assayas' Sicht
Olivier Assayas gehört zu den renommierten Autorenfilmern des französischen Kinos. Der Regisseur steht in zweifacher Hinsicht in der Tradition der Nouvelle Vague. Wie François Truffaut und Jean-Luc Godard hat auch Assayas bei der renommierten Zeitschrift Les Cahiers du Cinéma als Kritiker begonnen. Der Regisseur ist am Puls der Zeit und deckt ein breites thematisches Spektrum ab. Die Folgen der 1968er Proteste werden ebenso angesprochen, wie die Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft. Stilistisch lässt sich der 1955 in Paris geborene Autorenfilmer in keine Schublade stecken, er erfindet sich mit jedem Stoff neu. Wir fragen ihn zu "Carlos, der Schakal", Terrorismus, Film, Geschichte und deutsche Schauspieler.
erschienen am 12. 11. 2010
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Carlos, der Schakal
Ricore: Wie kamen Sie auf die Idee zu "Carlos, der Schakal"?

Olivier Assayas: Es hat wie bei jedem Film klein angefangen. Durch Freunde wurde ich mit dem Fernsehproduzenten Daniel Leconte bekannt. Er schickte mir eines Tages per E-Mail ein kurzes Treatment von vier bis fünf Seiten des Stoffes. Es handelte davon, wie die französische Polizei auf der Jagd nach Carlos war und diesen später in Sudan verhaftete. Es war eine Fernsehproduktion, die die Geschichte aus der Sicht eines französischen Polizisten erzählte. Meine erste Reaktion war, dass diese Perspektive mir eigentlich nicht liegt. Ich sagte Daniel, dass Carlos eine sehr interessante Figur sei. Später teilte er mir mit, dass er einen Journalisten beauftragte, Recherchen über diese Figur anzustellen. Ich las dieses Dokument und war fasziniert. Ich fand, dass die Lebensgeschichte von Carlos voller überraschender Wendungen und außergewöhnlicher Ereignisse ist, wobei sein Leben untrennbar mit der Politik seiner Zeit verbunden war. Und so dachte ich, dass es sich durchaus lohnen würde, den Film aus seiner Sicht zu erzählen. Daniel vertraute mir und, was noch wichtiger war, Canal plus war einverstanden, den Stoff auszuweiten.

Ricore: Was faszinierte Sie so am Charakter des historischen Carlos?

Assayas: Die Lebensgeschichte von Carlos ist einzigartig. Ich hatte keine Ahnung wie faszinierend sie war, sondern hatte nur ein sehr oberflächliches Wissen über diese Figur. Ich kannte nur die Stereotypen und Klischees. Als ich anfing, mich mit diesem Mann zu beschäftigen, stellten sich mir viele Fragen. Wer ist dieser Ramírez Sánchez, der sich hinter Carlos verbirgt? Er hat diese Figur erfunden und die Medien haben sie populär gemacht. Carlos ist das Produkt seiner Zeit. Er verkörpert die kollektive Geschichte der 1970er Jahre.

Ricore: Wie groß war Carlos' Wirkung auf seine Zeit?

Assayas: Gleich null. Carlos war kein Theoretiker und auch keine Führungsfigur. Er war ein Ausführender, er hat die Befehle anderer in die Tat umgesetzt. Und das tat er mehr oder weniger erfolgreich. Carlos war nicht der Strippen ziehende Denker, als den ihn die Medien stilisiert haben. Er war ein Vollstrecker. Insofern hat er keine Wirkung auf seine Zeit ausgeübt. In diesem Sinne ist er das genaue Gegenteil von Führungsfiguren und Visionären wie etwa Che Guevara.
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Édgar Ramírez in "Carlos, der Schakal"
Ricore: Was könnte heute ein Grund für Menschen sein, Terrorist zu werden?

Assayas: Es gibt heute keinen Terrorismus außer Staatsterrorismus, während das Militär und die Soldaten, die Operationen des Staates vollstrecken. Nehmen Sie das Beispiel eines typischen terroristischen Anschlages mittels eines explodierenden Autos, wie man sie oft in den Nachrichten sieht. Solche Akte haben scheinbar keine große Bedeutung. Doch das haben sie. Es sind Botschaften einer Person bzw. eines Staates an einen anderen Staat. Die Geschichte des Terrorismus wird durch die Geopolitik definiert und bestimmt.

Ricore: Wie ist es mit der Beziehung zwischen Terrorismus und dem Freiheitkampf? Nehmen Sie das Beispiel des Irak. Jeden Tag gibt es dort terroristische Anschläge. In Europa werden solche Nachrichten mittlerweile nur noch als Randnotizen wahrgenommen. Niemand scheint sich darum mehr zu kümmern.

Assayas: Das ist etwas anderes, das ist Bürgerkrieg. Terrorismus ist eine Sache, Guerilla-Kriege eine andere. Die Auto-Explosionen sind Guerilla-Taktiken innerhalb des Kontextes des Bürgerkrieges.

Ricore: Sie sagten, für "Carlos, der Schakal" brauchten Sie einen bestimmten Anteil an Fiktion. Warum?

Assayas: Es gibt tatsächlich viele fiktive Momente im Film. Wir brauchten die Fiktion, um den historischen Fakten Leben einzuhauchen. Ich habe so viele Fakten zusammengetragen, wie ich konnte. Selbst bestimmte Dialogpassagen sind authentisch. Ich stützte mich dabei auf Interviews und Aufzeichnungen von Zeitzeugen, die ich nur unwesentlich zu verändern brauchte. So etwa die Dialoge zwischen Carlos und dem saudischen Ölministers Ahmed Zaki Yamani, die mir als Aufzeichnungen und Interviews vorlagen. Auch die Gespräche zwischen Carlos und den Polizisten wurden aufgezeichnet. All das ist historisch belegt und gewissenhaft in den Film genommen worden. Dennoch kann in einem Film nicht alles historisch präzise sein. Ich musste vieles komprimieren, einigen Sachen musste ich einen Sinn geben, bei anderen etwas klarer sein. Ich musste also gestalterisch eingreifen. Schließlich ging es mir nicht um eine Rekonstruktion, sondern um eine Interpretation der Geschichte. Dabei wollte ich keinesfalls eine Umdeutung machen. Es sollte eine gesunde Mischung aus Tatsachen und Fiktion werden. Der Film ist eine Interpretation der modernen Geschichte.
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Nora von Waldstätten und Édgar Ramírez in "Carlos, der Schakal"
Ricore: Bestand nicht die Gefahr einer Heroisierung der Hauptfigur?

Assayas: Ich hatte jedenfalls keine Scheu davor. Im Grunde war ich an den dunklen und fragwürdigen Seiten der Persönlichkeit Carlos' interessiert. Damit war ich auf einer Linie mit dem, wie Carlos in den Medien dargestellt wurde. Andererseits ist Carlos auch charismatisch, einnehmend und lustig. Das ist keine Erfindung des Films, so wurde er von jenen beschrieben, die ihn kannten. Wie immer Carlos auch war, Tatsache ist, dass er tapfer war. Ich würde nicht das Wort Held benutzen, aber er war sicher mutig im physischen Sinne. Dieses Element wollte ich unbedingt im Film haben.

Ricore: Der deutsche Film "Der Baader Meinhof Komplex" verursachte seinerzeit in Deutschland eine hitzige Diskussion, weil der Film aus der Perspektive der Terroristen erzählt wurde, während die Opferseite vernachlässigt wurde. Was halten Sie von solchen Einwänden?

Assayas: Man kann keine Geschichte über den Terrorismus schreiben, die von ihren eigentlichen Gegenstand, nämlich dem Terrorismus, losgelöst ist. Wenn man einen Terrorismus-Film aus der Perspektive des Opfers macht, dann ist das ein Film über das Opfer und sein tragisches Schicksal. Ein solcher Film würde die näheren Umstände und die Gründe des terroristischen Aktes ausblenden. Es wäre ein Film über die Ereignisse selbst und darüber, dass sie irgendjemand ausgeführt hat. Es wäre kein Bild über den großen Zusammenhang. Ich glaube, es ist viel wichtiger die Gründe zu zeigen, warum Menschen solche radikale Maßnahmen ergreifen, warum sie sich für eine inhumane Handlung entscheiden.

Ricore: "Carlos, der Schakal" verurteilt diese Handlungen nicht. Andererseits gibt es im Film gewisse Momente, die eine Bewertung der Protagonisten implizieren. Zum Beispiel die Tatsache, dass der Pilot sich weigert, Carlos die Hand zu schütteln.

Assayas: Ich erzähle eine Geschichte, in der die Schauspieler Teil der Handlung sind. Sie sind die Verkörperung dessen, was in der Geschichte passiert. Meine Schauspieler verstehen immer ganz genau, was ich erzähle und was ich mit der Geschichte vorhabe. Was die Charaktere betrifft, so kennen Sie diese teilweise sogar besser ,als ich. Insofern ist die Szene, die Sie angesprochen haben, eine Erfindung des Schauspielers, der den Piloten verkörpert hat. Sie ist nicht meine Idee und auch nicht meine Stellungnahme. Sie ist eine Interpretation des Schauspielers und ich respektierte seine Meinung. Der reale Pilot hätte durchaus so reagieren können. Für mich machte das Sinn, es drückte eine Gegenposition aus. Es sind intuitive Handlungen, die den Film lebendig machen, weil sie der Realität durchaus entsprechen.
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Carlos, der Schakal
Ricore: Wie sind Sie auf Hauptdarsteller Édgar Ramírez gestoßen?

Assayas: Édgar ist eines dieser Wunder, die manchmal passieren, wenn man einen Film macht. Als ich am Drehbuch schrieb, hatte ich keine Ahnung, dass ich eines Tages einen Schauspieler finden würde, der Carlos adäquat verkörpern könnte. Ich dachte, ich müsste in diesem Punkt Kompromisse eingehen. Die Ansprüche waren sehr hoch. Ich brauchte einen lateinamerikanischen Schauspieler, der spanisch spricht. Er sollte in den Dreißigern sein, damit er in jedes Alter von Carlos passt, da wir schließlich einen größeren Abschnitt seines Lebens darstellen wollten. Er sollte einen 25 Jährigen Carlos ebenso glaubwürdig darstellen können wie den 40-Jährigen. Er musste außerdem ein ähnliches Aussehen wie Carlos haben, weil Carlos durch seine Körperlichkeit definiert wird. Und er musste mehrere Sprachen beherrschen. Ich dachte nicht, dass ich jemanden finden würde, der alle diese Kriterien erfüllt und zugleich in der Lage ist, einen komplexen Film wie diesen zu schultern. Als ich Édgar dann vor mir sah, nachdem meine Castingdirektorin nach einer umständlichen Internet-Recherche auf ihn aufmerksam wurde, wusste ich, dass er Carlos ist. Er erfüllte nicht nur alle die Kriterien, sondern war auch ein großartiger Schauspieler, der überdies ein bemerkenswertes Verständnis für Politik hatte.

Ricore: Das machte auch ihre Arbeit einfacher.

Assayas: Ja, ich brauchte ihn nicht ständig mit Ideen und Informationen zu füttern. Er verstand alles intuitiv, er war Carlos. Er nahm diese Figur und trug sie auf seinen Schultern. Das hatte ich nicht erwartet.

Ricore: Dafür hatten Sie mit anderen Problemen zu kämpfen. Sie durften zum Beispiel nicht in Syrien drehen.

Assayas: Ja, in Syrien zu drehen war undenkbar. Wir mussten die Syrien-Szenen illegal drehen. Wir wollten auch in Jemen drehen. Die jemenitische Regierung erteilte uns auch die Dreherlaubnis, so dass wir mit der Vorbereitung anfingen. Doch dann stellte sich die französische Botschaft in Sanaa quer und entmutigte uns. Wir hofften auch im Sudan drehen zu können, doch auch das kam nicht zustande.
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Édgar Ramírez in "Carlos, der Schakal"
Ricore: Gab es schon Reaktionen seitens dieser Staaten zu Ihrem Film?

Assayas: Nein, aber wir sind gespannt, ob die libanesische Regierung uns erlaubt, den Film in Beirut zu zeigen. Dennoch wurde der Film in den Mittleren Osten verkauft, so dass er dort gezeigt werden kann. Aber dass er in Syrien gezeigt wird, ist unwahrscheinlich.

Ricore: Im Film spielen auch deutsche und österreichische Schauspieler mit. Einige davon sind eine Entdeckung durch Sie, obwohl sie in Deutschland bzw. Österreich hin und wieder im Kino oder Fernsehen zu sehen sind.

Assayas: Bei "Carlos" hatte ich mehr Freiheit beim Casting der Schauspieler als bei jedem anderen Film. Der größte Teil der Produktionskosten kam von französischer Seite. Als die Produzenten akzeptierten, dass kein französischer Schauspieler eine Hauptrolle spielen wird, waren sie am weiteren Verlauf des Castings nicht interessiert. Als ich nach Deutschland kam, hatte ich keinen Druck, was die Auswahl der hiesigen Schauspieler betrifft. Ich konnte frei entscheiden. Die Begegnung mit den neuen Generation deutscher Schauspieler war faszinierend. Sie sind viel interessanter als ihre französischen Kollegen. Das gilt vor alle für Nora von Waldstätten. Ich sah mir Aufnahmen von ihr an und wusste von Anfang an, dass sie die richtige für den Part der Magdalena ist. Diese Rolle ist sehr wichtig für den Film und ich hatte eine lange Liste von Schauspielerinnen, die sich dafür beworben hatten. Nora war die erste, mit der ich am Castingtag gesprochen habe. Danach sagte ich meiner Castingdirektorin, dass wir zurück nach Paris fahren können, denn wir hatten die Richtige gefunden.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch
erschienen am 12. November 2010
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2024