Concorde Filmverleih
Richy Müller
Filmische Leckerbissen?
Interview: Feinschmecker Richy Müller
Den Durchbruch gelingt Richy Müller 1979 mit dem Fernseh-Mehrteiler "Die Große Flatter". Es folgen Kino- und Fernsehrollen. In den 1980er Jahren widmet sich der Schauspieler verstärkt dem Theater, um 1994 mit Rainer Kaufmanns "Einer meiner ältesten Freunde" zum Film zurückzukehren. Aufsehen erregt Müller 2000 auch in Christian Petzolds Drama "Die innere Sicherheit". In "Poll" arbeitet er nach "Vier Minuten" erneut mit Regisseur Chris Kraus zusammen. Anlässlich dieses auf einer wahren Begebenheit beruhenden Dramas haben wir uns mit dem Schauspieler unterhalten. Bei dieser Gelegenheit verriet er uns, warum er sich selbst als filmischen Feinschmecker betrachtet.
erschienen am 3. 02. 2011
Piffl Medien
Poll
Ricore: Herr Müller, die Dreharbeiten zu "Poll" fanden in Estland statt. Wie sind Land und Menschen?

Richy Müller: Wenn man ins Ausland geht, dann meist als Tourist. Ich war vor allem aus beruflichen Gründen in Estland. In dem Fall hat man kein Auge für das Land. Man nimmt den Flughafen war, wobei ich dachte, dass er die verkleinerte Version des Münchner Flughafens sei. Es sah alles sehr modern aus. Doch zum Glück war dies nicht im ganzen Land so. Hier war alles sehr ursprünglich und schön. Die Esten gehören zwar der europäischen Union an, aber sie haben nicht diesen Hang zum Aufholen. Sie haben ihren eignen Rhythmus. Die Menschen sind sehr freundlich und abgesehen davon erinnern sie mich eher an Skandinavier als an Osteuropäer. Die Sprache kam mir sehr schwer vor. Außer einigen Brocken ist bei mir nichts hängen geblieben. Aber das kam dem Film zugute, weil ich mich so besser auf die Arbeit konzentrieren konnte.

Ricore: Konnten Sie sich die Gegend während der Drehpausen ein wenig ansehen?

Müller: Ja, ich konnte gut abschalten und dann auch alles wahrnehmen, was um mich herum ist. Ich hatte auch das Glück, dass ich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit etwa eine dreiviertel Stunde durch die Landschaft fahren konnte. Das war gut fürs Auge. Es ist wirklich eine ganz andere Landschaft als in Deutschland. Man muss sehr gut nach Elchen oder Wildschweinen Ausschau halten. Ein Elch ist mir zwar nicht untergekommen, aber ich habe Hirsche und Waschbären gesehen.
Piffl Medien
Richy Müller trifft in "Poll" auf Edgar Selge
Ricore: Vermissen Sie die Stadt, wenn Sie länger auf dem Land sind?

Müller: Ich lebe ja auf dem Land, insofern war das für mich nichts Neues, nur anders. Generell war es in Estland sehr ruhig. Wenn in Pärnu abends die Lichter ausgingen, dann war es dort wirklich still. Das hat man in den deutschen Kleinstädten nicht. Neu war für mich wie gesagt die Landschaft. Es gibt dort ganz andere Wälder, mit einer anderen Vegetation. Es gibt zudem viele Moore. Ein Moorgebiet habe ich mir mit Edgar Selge angesehen. Das war bei Dämmerung und beim Licht der untergehenden Sonne sah das aus wie in Afrika. Es herrscht einfach eine besondere, sehr angenehme Stimmung in Estland. Mensch und Natur harmonieren dort gut.

Ricore: Was faszinierte Sie an der Rolle in "Poll"?

Müller: Wenn man Feinschmecker ist, sucht man sich die Leckerbissen aus. Auf dem Gebiet des Kulinarischen bin ich eher ein Feinschmecker. Ich esse gut, aber ich esse eigentlich ungern. Wenn man nicht essen müsste, würde ich es nicht tun, weil man so viel Schlechtes serviert bekommt. Selbst wenn das Essen gut ist, esse nur so viel, bis ich satt bin. Das Gleiche gilt auch hinsichtlich meiner Rollenauswahl. Auch hier esse ich lieber nicht, bevor ich etwas Schlechtes esse. Bei der Rolle in "Poll" musste ich zuschlagen. Mit Chris Kraus hatte ich schon mal einen Film gemacht. Als ich das Drehbuch las, konnte ich es nicht erwarten, bis die Agentur aufmacht und ich zusagen konnte. Es ist eine sehr schöne Rolle. Für mich ist es wichtig, dass Rollen ein Eigenleben haben und das hat meine Figur. Chris ist ein großartiger Autor. Oft schreibt man ein Drehbuch noch während der Dreharbeiten um. Das war bei "Poll" nicht der Fall. Es war sehr stimmig.

Ricore: Kommt es oft vor, dass Sie von Drehbüchern gleich fasziniert sind?

Müller: Das kommt schon mal vor. Ich habe das Glück, dass ich nicht sehr viele Angebote bekomme. Wenn ich welche kriege, dann sind sie meistens gut, weil die Leute sich schon im Vorfeld Gedanken darüber machen, ob die Figur zu mir passt oder nicht. Das gibt mir die Möglichkeit, jedem Buch gerecht zu werden und mich ihm intensiv zu widmen. Ich lese jedes Buch zu Ende, auch wenn ich manchmal schon nach wenigen Seiten weiß, wie es ist.
Jetfilm
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Ricore: Hat die Tatsache, dass man die Rollen für Sie im Vorfeld sondiert, nicht auch den Nachteil, dass Ihre Rollenvielfalt dadurch eingeschränkt wird?

Müller: Das ist richtig, aber das kann ich nicht beeinflussen. Ich kann schließlich nicht einen Rundbrief rausschicken und nach mehr Drehbüchern verlangen. Ich habe aber das Glück, dass ich genügend Menschen um mich habe, die Verschiedenes in mir sehen. Die Vielfalt war immer mein Ziel. Die Rolle in "Die Große Flatter" hat mich 15 Jahre meines Schauspielerlebens gekostet. So lange habe ich versucht, gegen das Rollenbild aus diesem Film zu anzugehen. Als ich es endlich schaffte, kamen endlich unterschiedlichste Angebote. Aber das ist eben das Los eines Schauspielers. Es gibt Hochs und Tiefs in dieser Branche, mal hat man mehr, mal weniger Angebote. Aber das ist auch gut so. Wenn man auf einer Erfolgswelle schwimmt, kann man schnell bequem werden und einen Hang zur Selbstgefälligkeit entwickeln. Es ist gut, wenn man als Schauspieler zwar eine etablierte Stellung hat, aber trotzdem nicht zu viele Rollenangebote bekommt und bei der Auswahl genau abwägen kann.

Ricore: Welche und wie viele Angebote kamen nach "Die innere Sicherheit"?

Müller: Es ist in diesem Metier leider so, dass man immer nach der letzten Rolle kategorisiert wird. Nach "Die innere Sicherheit" bekam ich viele Angebote mit ruhigen und wortkargen Charakteren. Es waren Rollen, bei denen sich nicht wenige fragten, ob ich denn überhaupt noch spielen könnte, weil ich in diesem Film kaum etwas zu tun hatte. Das ist eine sehr kurzsichtige Betrachtung. Über eine prägnante Rolle und einen Aufsehen erregenden Film wird oft vergessen, dass man auch andere Sachen gemacht hat. Aber damit muss man als Schauspieler leben, das Verallgemeinern und Reduzieren ist nun mal ein menschlicher Zug.

Ricore: Aber in Bezug auf die Rollengestaltung hat man als Schauspieler doch eine gewisse Freiheit.

Müller: Klar kann man einiges zur Rolle beitragen. Grundsätzlich habe ich es mir als Schauspieler aber zur Aufgabe gemacht, den Regisseur verstehen zu lernen. Ich komme nicht mit einer vorgefertigten Haltung an den Set, aber mit einer konkreten Meinung hinsichtlich der Rolle, die sich im Laufe der Beschäftigung damit allmählich entwickelt hat. Natürlich kann man während der Dreharbeiten den einen oder anderen kreativen Vorschlag machen, aber nur innerhalb eines bestimmen Rahmens. Es ist für einen Schauspieler wichtig zu wissen, was der Regisseur für eine Figur haben will. Das setzt man nicht ohne eigenes kreatives Zutun um. Der Charakter, der entsteht, ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Schauspieler. Das ist der Grund, wieso ich in meinen Rollen immer anders wirke. Das Ziel meiner Arbeit ist es, eine Figur zu kreieren, die man nicht in Frage stellt, wobei der Zuschauer vergessen sollte, wer sie spielt. Das Urteil, dass man gut gespielt hat, ist das schlechteste Kompliment, das man als Schauspieler kriegen kann.
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Ricore: Gibt es von all den Figuren, die Sie verkörpert haben, einen bestimmten Charakter, der den wahren Richy Müller widerspiegelt?

Müller: Der wahre Richy Müller sitzt hier vor Ihnen. So wie ich hier sitze und wie ich gekleidet bin und was ich sage, das macht mich aus. Ich denke nicht, dass man den wahren Richy Müller in den Rollen findet. Es sind fremde Charaktere, die ich verkörpere. Beim Spielen ist es aber interessant zu sehen, was Menschen so umtreibt, welche Beweggründe eine Figur hat.

Ricore: Es gibt nicht viele Filme, die im Vorfeld des Ersten Weltkrieges spielen. Dementsprechend gibt es auch nicht viele Vorbilder, an die man sein Spiel anlehnen kann. Worauf greift man als Schauspieler dann zurück?

Müller: Auf den eigenen Bauch. Bei der Arbeit fühle ich mich nicht unter Druck, sondern lasse mich von Intuitionen und Gefühlen treiben, wenn ich spiele. Wie soll ich mir anders vorstellen, wie ein Mörder tickt? Ich kann doch niemanden umbringen.

Ricore: Einige Schauspieler lassen sich in einem Gefängnis einsperren, um die Mörder vor Ort zu studieren.

Müller: Gut, aber ich muss doch den Mörder in mir finden. Im Gefängnis könnte ich mir höchstens Äußerlichkeiten abschauen. Würde ich einen Feuerwehmann darstellen, könnte ich mir bei einem Feuerwehmann abschauen, wie man die Stange runterrutscht. Den Feuerwehmann in mir würde ich dadurch nicht entdecken. Das war auch meine große Aufgabe, als ich einen Tatort-Kommissar spielte. Solche Rollen spielt man nicht einfach so. Man freut sich über das Angebot, aber die wirkliche Arbeit daran kommt auf dem Bauch heraus, nicht aus dem Kopf. Überhaupt besteht das ganze Leben aus Bauchentscheidungen. Nur hat man nicht oft die Möglichkeit, aus dem Bauch heraus zu leben.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch
erschienen am 3. Februar 2011
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