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Fernando Meirelles
Von Rio nach München
Interview: Fernando Meirelles' Flügelschlag
Nur ein Zufall. Eine kleine Unachtsamkeit, nichts weiter. Und doch beeinflusst sie einen Künstler, ein Werk, ein ganzes Land. Der Urlaub steht an und jemand lässt ein Buch liegen. Fernando Meirelles findet es - und alles ändert sich. Etwa 15 Jahre später erwartet uns der brasilianische Regisseur während dem Filmfest München. Anlass ist "360", ein weltumspannendes Episoden-Drama über die Macht des Zufalls, das anhand vieler kleiner Geschichten zeigt, wie scheinbar unbedeutende Augenblicke weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen können.
erschienen am 17. 08. 2012
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360 - Jede Begegnung hat Folgen
Fallende Dominosteine
Man sagt, dass bereits der Flügelschlag eines Schmetterlings ausreiche, um am anderen Ende der Welt einen Orkan auszulösen. Die Chaostheorie zieht sich wie ein roter Faden durch "360". Ein Londoner Geschäftsmann (Jude Law) will in Wien eine Prostituierte (Lucia Siposová) treffen. Weil eine zufällige Begegnung mit einem deutschen Kollegen sein Vorhaben verhindert, wird seine Ehe eine zweite Chance erhalten. Weil seine Ehefrau wiederum ein Verhältnis mit einem brasilianischen Fotografen (Juliano Cazarré) hat, wird dessen Freundin (Maria Flor) nach Brasilien zurückkehren und eine folgenreiche Begegnung mit einem Unbekannten haben. Wie in einer Reihe umfallender Dominosteine bedingt ein Ereignis unwillkürlich das nächste.

In der Filmkunst ist dieses dramaturgische Prinzip alles andere als neu. In Alejandro González Inárritus "Babel" etwa wird eine einzige Gewehrkugel zum Auslöser tiefgreifender Veränderungen diverser Einzelschicksale rund um den Globus. So raffiniert wie sein mexikanischer Regie-Kollege Inárritu geht Meirelles in "360" leider nicht vor. Der Filmemacher ist sich der Schwachstelle seines Stoffes bewusst: 'Das Problem von "360" sind zu viele Geschichten, so dass man wenig Zeit hat, um die Geschichten zu entwickeln', so Meirelles während unseres Gesprächs im Bayerischen Hof. 'Wir hatten nur sieben oder acht Minuten pro Geschichte. Das ist nichts. Ich wusste, dass der Film wie ein Kurzfilmfestival wirken könnte. Doch ich entschied mich, das Risiko einzugehen.'
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Fernando Meirelles am Set zu "Der ewige Gärtner"
Zwei Wege trennten sich
Obwohl der Film trotz hochwertiger Darsteller und stilsicherer Inszenierung hinter seinen Möglichkeiten bleibt, bietet die Prämisse des Schmetterling-Effekts auch bei "360" reizvolle Möglichkeiten der Figurenhandhabung. 'Mir gefiel vor allem, dass es keinen Antagonisten gibt', erklärt Meirelles sein Interesse an der Verfilmung von Peter Morgans Drehbuch. 'Alle Figuren versuchen, ihr Bestes zu geben, wollen gute Ehegatten, Ehefrauen oder Väter sein. So geht es auch mir und den meisten von uns. Alle Charaktere werden jedoch durch Wünsche und Impulse in Versuchung gebracht, so dass sie vom Weg abkommen, den sie für sich selbst vorgesehen haben.'

Dass es auch von Vorteil sein kann, seinen Impulsen zu folgen, zeigt Meirelles' eigene Biographie. Schon in der Kindheit bringt der 1955 geborene Brasilianer seine Begeisterung für das Filmemachen zum Ausdruck und dreht als 13-jähriger kleine Super 8-Filme. Dennoch studiert er zunächst Architektur auf der Universität von São Paulo, verliert seine Leidenschaft aber keineswegs aus den Augen. Trotz der anvisierten Architektur-Laufbahn, widmet er sich neben seinem Studium der Realisierung experimenteller Filme. Statt seine Abschlussarbeit auf konventionelle Weise anzufertigen, gibt er sie in Form eines Films ab - und erfüllt immerhin die Mindestanforderungen, um den Studiengang erfolgreich zu beenden. Nach seinem Abschluss widmet er sich schließlich der Karriere hinter der Kamera und macht sich in den 1980er und 90er Jahren einen Namen in der brasilianischen Fernseh- und Werbebranche.
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City of God
Veränderungen in der Stadt Gottes
Der erhoffte cineastische Durchbruch folgt allerdings erst 2002 mit "City of God", den Meirelles als Grundlage seiner Filmkarriere betrachtet. 'Zuvor hatte ich Jahre lang Werbespots und Arbeiten fürs Fernsehen realisiert und ich wollte mich unbedingt weiterentwickeln. Ich wollte einen Spielfilm drehen', so der Regisseur. 'Da "City of God" weltweit so gut ankam, haben sich die Dinge geändert. Ohne den Film, würde ich wahrscheinlich nur in Brasilien drehen - was allerdings ebenfalls in Ordnung wäre für mich.' Tatsächlich ist nach "City of God" nichts mehr so wie vorher für Fernando Meirelles. Der Regisseur wird für sein packendes Drama über das Leben in den Favelas von Rio für den Oscar als bester Regisseur nominiert. Internationale Produktionen wie "Der ewige Gärtner" und "Die Stadt der Blinden" folgen. Auf renommierten Festivals wie Cannes und Venedig ist er fortan ein gern gesehener Gast. 'Seitdem ich Filmemacher bin, reise ich allerdings mehr, als mir lieb ist und als ich je gedacht hätte', kommentiert er seinen Status als Weltbürger lachend.

Und seine brasilianische Heimat? Was hat sich dort seit seinem Erfolg mit "City of God" getan? 'Seitdem hat sich das Land sehr schnell verändert. Brasilien ist ein ganz anderes Land als noch vor zehn, zwölf Jahren', erklärt uns Meirelles. 'Große Teile der Bevölkerung sind während dieser Zeit in die Mittelklasse aufgestiegen. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung waren wirklich arm, nun sind es etwa fünf oder sieben Prozent, die anderen haben sich verbessert.' Obwohl noch viel gemacht werden müsse, sei auch die Situation in den Favelas besser als noch vor zehn Jahren. 'Zuvor wurde die Polizei in den Favelas von den dortigen Einwohnern gehasst, da die Polizisten sehr aggressiv waren. Es war immer ein Konflikt zwischen Einwohnern und Drogendealern gegen die Polizei. Inzwischen hat die Bevölkerung mit der Polizei die Drogendealer vertrieben. Zudem wurden die Favelas urbanisiert, es gibt Wasser und Strom. Zuvor war alles illegal.'
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Fernando Meirelles am Set zu "Die Stadt der Blinden"
Suche nach dem Schmetterling
Auf die Frage, ob auch "City of God" zu den Veränderungen beigetragen habe, winkt er ab: 'In dem Fall denke ich natürlich nicht, dass der Film für irgendwelche Veränderungen verantwortlich ist.' Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Favelas hätte der Film dennoch gehabt. 'In gewisser Weise habe ich diesen Teil des Landes in das Bewusstsein der Leute gebracht', so Meirelles. 'Nun weiß man, was sich innerhalb dieser Black Box befindet. Ich denke, dass der Film in der Hinsicht hilfreich war.'

Sein Film über die Favelas von Rio blieb also nicht ohne Folgen für die Favelas selbst. Der Flügelschlag des Schmetterlings hat keinen Orkan ausgelöst, doch er hat das Leben eines Künstlers verändert, die Welt auf sein Werk aufmerksam gemacht und die Situation in den Favelas unter das Vergrößerungsglas des Kinos gestellt. Doch wann hat der Schmetterling den entscheidenden Flügelschlag vollzogen? Bei der ersten Vorführung des Films? Als am Set die erste Klappe fiel? Welcher Moment hat alles verändert für Fernando Meirelles? 'Der Augenblick, in dem ich das Buch "City of God" gelesen habe', erzählt er. 'Das war an Weihnachten, ich glaube 1997. Am Tag vor meinem Weihnachtsurlaub wollte ich mich gerade von meinen Partnern verabschieden, als ich auf dem Tisch eine Ausgabe des Buchs sah. Ich las es, erwarb die Rechte, verfilmte den Stoff und hier sitze ich nun.'

Es ist Weihnachten und man hat Gott vor Augen - wenn auch nur im Titel eines Buches - und alles wird gut. Klingt fast wie ein Weihnachtsmärchen. Im Nachhinein kann man natürlich alles zum Wunder verklären. Dabei hat bloß jemand sein Buch liegen lassen. Eine kleine Unachtsamkeit, nichts weiter. Nur ein Zufall.
erschienen am 17. August 2012
Zum Thema
"City of God" ist sein Durchbruch. Der Film über das Überleben in einem Favela von Rio de Janeiro macht Fernando Meirelles 2003 zum international beachteten Regisseur. Er selbst entstammt einer Mittelstandfamilie der Industriemetropole Sao Paulo. Der ewige Gärtner" (2005) von John Le Carré, sowie José Saramagos "Die Stadt der Blinden" (2007). 2011 folgt das Episodendrama "360".
Anhand zusammenhängender Episoden beleuchtet "360" mehrere Liebesbeziehungen. Jude Law und Rachel Weisz spielen ein Londoner Paar, dessen Ehe unter keinem guten Stern steht. Während er in Wien eine Prostituierte (Lucia Siposová) treffen will, betrügt sie ihn mit einem brasilianischen Fotografen (Juliano Cazarré). Dessen Freundin hat es wiederum satt, hintergegangen zu werden und kehrt nach Brasilien zurück. Trotz hervorragender Darsteller und der stilsicheren Inszenierung reicht das von Arthur..
2024