Ascot Elite
Katja Riemann auf der Deutschlandpremiere am 01. Juli 2012 in München
Was Armut aus Menschen macht
Interview: Katja Riemann bekämpft Elend
In den 1990er Jahren ist Katja Riemann die Vorzeigefrau des deutschen Kinos. Nach einer letzten Hochphase mit Kinofilmen wie "Rosenstraße", "Bergkristall" und "Agnes und seine Brüder" ist es stiller um sie geworden. Doch ganz von der Bildfläche ist Riemann nicht verschwunden. Vielmehr hat sie den Schwerpunkt ihrer Arbeit verlagert, spielt viel Theater und realisiert Musikprojekte. Mit der schweizerisch-deutschen Produktion "Der Verdingbub" kehrt die 48-Jährige eindrucksvoll auf die Leinwand zurück. Im Interview mit Filmreporter.de spricht die auf dem Land aufgewachsene Schauspielerin über das bäuerliche Leben und darüber, was Armut aus Menschen macht.
erschienen am 25. 10. 2012
20th Century Fox
Der Verdingbub
Ricore: Vielen Deutschen dürfte das Thema von "Der Verdingbub" wenig vertraut sein. Wie ging es Ihnen dabei?

Katja Riemann: Mir war das Thema auch nicht besonders vertraut. Erst im Verlauf der Arbeit zum Film hat es sich mir erschlossen. Aus diesem Grund ist "Der Verdingbub" so wichtig. Es schließt eine Bildungslücke.

Ricore: Wie haben Sie sich dem Thema genähert?

Riemann: Ich habe viel darüber gelesen und mit Menschen, die sich auskannten gesprochen.

Ricore: Hatten Sie auch Kontakt zu noch lebenden ehemaligen Verdingkindern?

Riemann: Einige von ihnen hatten im Vorfeld mit den Autoren des Films gesprochen. Einige waren auch am Set und haben als Komparsen mitgespielt. Ansonsten basierten die Bücher, die ich gelesen habe, auf Interviews mit den Betroffenen. Der Erfolg des Films in der Schweiz hat viele ehemalige Verdingkinder ermutigt, sich zu outen und dem Verband der Verdingkinder beizutreten. Das Thema wird also immer mehr öffentlich gemacht und dadurch enttabuisiert.

Ricore: Viele Betroffenen trauen sich also noch immer nicht, auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen?

Riemann: Ja, es ist erstaunlich, wie tief die Scham sitzt. So wie vergewaltigte Frauen sich schämen, die Tat anzuzeigen, gibt es auch viele Menschen, die sich dafür schämten, ein Verdingkind gewesen zu sein.

Ricore: Max Hubacher, der die Hauptfigur gespielt, fühlte sich nach eigenen Aussagen von der Tatsache befangen, dass am Set auch ehemalige Verdingkinder anwesend waren. Wie ging es ihnen dabei?

Riemann: Im Gegensatz zu Max, der ein sehr talentierter junger Mann ist und wohl auch Schauspieler werden will, betreibe ich die Schauspielerei nun schon ziemlich lange, was jedoch nicht heißt, dass man sich nicht befangen fühlte. Es waren zarte ältere Menschen da, und wir waren alle sehr schüchtern im Umgang mit ihnen.
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Katja Riemann und Stefan Kurt in "Der Verdingbub"
Ricore: Wie sehr kam es Ihnen darauf an, ihre Figur als Menschen zu zeigen und sie nicht als Täter zu dämonisieren?

Riemann: Das Leben und die Menschen sind nicht schwarzweiß. Alles hat immer einen Grund. Im Kino und in der Kunst ist es nicht interessant, die Dinge so oder so zu zeigen. Man versucht immer etwas zu erzählen. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, über bittere Armut zu erzählen. Die Bauernfamilie in "Der Verdingbub" sind im wahrsten Sinne des Wortes arme Menschen gewesen. Sie hatten schlicht und ergreifend nichts zu essen, sodass ihnen am Ende des Tages die Jacke mehr war als der Rock. Armut macht etwas aus den Menschen. Sie führt dazu, dass man sich nicht viel Mitgefühl leisten kann. Um zu überleben, muss man sich zunächst für sich selbst interessieren, bevor man an andere denkt.

Ricore: Menschen wie die Bösigers in "Der Verdingbub" waren demnach nicht nur Täter, sondern auch Opfer?

Riemann: Sie waren ganz sicher Opfer der Umstände. Es ist nicht einfach zu definieren, was es heißt, Täter zu sein und was Opfer. Eine klare Trennlinie zu ziehen ist unmöglich. Dem wollten wir mit "Der Verdingbub" gerecht werden. Der Film vereinfacht die Umstände nicht.

Ricore: "Der Verdingbub" beschränkt sich nur auf die Verhältnisse in der Schweiz, dabei ist das Phänomen nicht nur ein Schweizer Problem.

Riemann: Ja, man darf nicht vergessen, dass es auch in Schwaben Verdingkinder gegeben hat, die so genannten Schwabenkinder. Auch in Norditalien gab es das Problem. Und heute leben wir in eine Welt, in der es so viele Kindersklaven gibt, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit.

Ricore: Das macht den Film letztlich zeitgemäß und weltweit zugänglich.

Riemann: Absolut. Wir haben "Der Verdingbub" auf dem Münchner Filmfest vor einer bunten Gemeinschaft junger Menschen vorgestellt. Es waren Menschen aus aller Welt anwesend, die in München an der Volkshochschule Deutsch lernen, Südamerikaner, Asiaten, Nordafrikaner usw. Es war sehr interessant zu sehen, wie sie auf den Film reagiert haben. Es waren Menschen, die einen ganz anderen Bezug zur Armut oder Leibeigenschaft haben als wir Europäer. Auch was die Behandlung von Menschen angeht, haben sie ein eigenes Verständnis. Sie sagten, dass ihnen die Darstellung der Verhältnisse in "Der Verdingbub" vertraut ist und waren dankbar dafür, dass es den Film gibt.
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Katja Riemann und Regisseur Markus Imboden
Ricore: Der Film regt zur Auseinandersetzung an. Glauben Sie, dass er dazu beitragen könnte, etwas an den Verhältnissen zu ändern?

Riemann: Der Film hat es auf jeden Fall geschafft, eine Debatte auszulösen. Das ist doch schon viel wert oder? Viele Betroffenen haben sich getraut, sich zu outen, über ihr Schicksal zu sprechen und das Thema zu enttabuisieren. Weder als Opfer noch als Schweizer allgemein sollte man sich für dieses dunkle Kapitel des Landes schämen. Das Geschäft mit Verdingkindern ist keine Schweizer Erfindung. Menschen sind nun mal so, sie sind nicht von Haus aus liebenswert.

Ricore: Hatten Sie sich während der Arbeit an Ihrer Rolle die Frage gestellt, wie Sie an Stelle ihrer Figur gehandelt hätten?

Riemann: Solche Fragen stelle ich mir eigentlich nicht. Das bringt mich in meiner Rolle nicht wirklich weiter, denn man spielt ja eine Figur und nicht seine persönliche Meinung über selbige. Man kann als Schauspieler ja eine Figur spielen, mit der man null deckungsgleich ist, und dennoch darf man seine Figur nicht vorführen oder gar diffamieren, sondern wir müssen ja die Figur in seiner Gänze beschützen, um sie komplex darzustellen, dann kann man da drauf schauen und diese dargestellte Person grausam finden - und hat vielleicht als Schauspieler dann sein Klassenziel erreicht.

Ricore: Da war es für Sie sicher von Vorteil, dass sie auch in ländlichen Verhältnissen aufgewachsen sind.

Riemann: Ja, das hat mir natürlich sehr geholfen. Meine Mutter war Dorfschullehrerin und wir wohnten im Schulhaus. Es gab eine Dorfkirche, neben der der Pfarrer und der Organist wohnten. Wir hatten einen Tante-Emma-Laden und einen Metzger. Die Bahnkreuzung hatte keine Schranken und alle anderen Leute waren Bauern. Als Kind habe ich immer in Bauernhöfen gespielt. Aus heutiger Sicht haftet dieser Welt etwas Romantisches an, doch für die Menschen war das damals eine harte Zeit. Wenn es einen Sommer nicht regnete, war das für sie eine Katastrophe.

Ricore: Schon aus diesem Grund sollte die Kritik an den "Tätern", die im Film gezeigt werden, nicht undifferenziert ausfallen.

Riemann: Ja, absolut. Das Leben war harte Arbeit. Auch technologisch war man damals nicht besonders fortgeschritten. Man hatte keine Traktoren, sondern musste Kühe bespannen und von Hand pflügen. Dabei waren die Äcker nicht etwa auf Ebenen gelegen, sondern auf Hügeln. Es war eine große Mühsal. Hinzu kommt, dass es in den Häusern unter Umständen nicht richtig warm wurde, weil man nicht genug Geld hatte, um Holz zu kaufen.

Ricore: Kommen wir zu einem anderen Thema. Um Sie war es nach Filmen wie "Rosenstraße", "Bergkristall" und "Agnes und seine Brüder" etwas stiller geworden. Stehen Sie vor einem Comeback?

Riemann: (lacht). Um ehrlich zu sein, nehme ich es nicht richtig wahr, wie sehr ich in der Öffentlichkeit präsent bin. Das können Sie besser beurteilen als ich. Ich kann nur sagen, dass ich in der glücklichen Position bin, immer Arbeit zu haben. Es ist freilich oft eine Arbeit, die nicht immer so im Fokus steht wie die Kino- und Fernseharbeit. Vor allem das Fernsehen ist ein großer Multiplikator. Und da täuscht ihr Eindruck nicht, in den letzten Jahren war ich im Fernsehen tatsächlich nicht sehr umtriebig.

Ricore: Was haben Sie stattdessen gemacht?

Riemann: Ich war drei, vier Jahre fast nur im Theater tätig, wo ich unter anderem "Szenen einer Ehe", "Hedda Gabler" und "Anna Karenina" spielte. Es ging Schlag auf Schlag. Daneben war ich viel musikalisch unterwegs, habe zum Beispiel ein musikalisches Hörspiel für Kinder zum Thema Menschenrechte gemacht. Das habe ich selber geschrieben, inszeniert und produziert.

Ricore: Und was wird die Zukunft bringen?

Riemann: Ich habe keine Ahnung. Zurzeit drehe ich einen Fernsehfilm, ansonsten bin ich arbeitslos (lacht). Schauspielerei ist ein Beruf, bei dem der Schauspieler darauf waren muss, engagiert werden. Insofern weiß ich nicht, was ich als nächstes machen werde. Hinzu kommt die ständige Ungewissheit, ob ein Film überhaupt finanziert wird. Ich habe durchaus einige interessante Projekte auf dem Tisch liegen. Aber ob die letztlich realisiert werden, das liegt in den Sternen. Filmemachen ist ein ständiges Tauziehen zwischen Vorbereitung, Verschiebung und Realisation.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch
erschienen am 25. Oktober 2012
Zum Thema
Katja Riemann wird am 1. November 1963 mit dem Taufnamen Katja Hannchen Leni Riemann geboren. Sie wächst in Kirchweyhe, einem Ortsteil der niedersächsischen Gemeinde Weyhe auf. Riemanns Eltern sind Grundschullehrer. Als Mädchen von fünf Jahren geht sie zum Ballettunterricht und lernt mehrere Instrumente. Katja von Garniers Komödie "Abgeschminkt" in der Hauptrolle der Cartoonistin Frenzy zu sehen. Im Laufe ihrer Karriere spielt Riemann in diversen Beziehungskomödien wie "Der bewegte Mann", "Küß..
Der Verdingbub (Kinofilm)
Markus Imbodens "Der Verdingbub" handelt von einem verwaisten Jungen (Maximilian Simonischek), der als so genannter Verdingbub für eine Bauernfamilie wie ein Leibeigener arbeiten muss. Nur Kraft seiner Leidenschaft für das Akkordeon-Spiels schafft es das Kind, sein trauriges Schicksal zu überstehen. Imboden ist ein packendes Drama gelungen, das sich authentisch und aufrichtig einem dunklen Kapitel der Schweizer Geschichte annimmt. In den Hauptrollen überzeugen Katja Riemann und Stefan Kurt als..
2024