StudioCanal
Regisseurin Caroline Link bei der Arbeit an "Exit Marrakech"
Recht auf Fortschritt und Entwicklung
Interview: Caroline Link entdeckt Marokko neu
Diese Episode aus Caroline Links Leben kennt jeder: Die Regisseurin wird für ihr Drama "Nirgendwo in Afrika" für den Oscar nominiert, kann aber wegen der Krankheit ihrer neugeborenen Tochter nicht nach Los Angeles fliegen. Am Ende gewinnt sie den Preis - und die ganze Welt ist gerührt. Denn mit ihrer Entscheidung hat die Filmemacherin gezeigt, dass Familie wichtiger ist als Beruf, Ruhm und Ehre. Um genau diesen Konflikt geht es in ihrem Film "Exit Marrakech". Nur sind die Eltern in dem Drama durch und durch Berufsmenschen, während das Kind alleine erwachsen wird. Filmreporter.de hat sich mit Oscar-Preisträgerin Caroline Link unterhalten und sie über Beruf, Familie - und natürlich die berühmte Oscar-Episode befragt.
erschienen am 4. 11. 2013
StudioCanal
Kamerafrau Bella Halben und Regisseurin Caroline Link am Set von "Exit Marrakech"
Zuschauerreaktion? Begeisterung bis Ratlosigkeit
Ricore Text: "Exit Marrakech" lief vor kurzem auf den Internationalen Filmfestspielen in Toronto. Wie sind die Reaktionen der Zuschauer auf den Film?

Caroline Link: Ähnlich wie bei den Deutschen. Von großer Begeisterung bis Ratlosigkeit war alles dabei. Grundsätzlich sind die Kanadier extrem filmaffin und immer sehr höflich. Sie kennen meine Filme und wissen immer etwas darüber zu sagen - ob das "Nirgendwo in Afrika" ist oder "Jenseits der Stille". Bei der Fülle von Filmen ist es verblüffend, wie gut sie sich über die Jahre einzelne Filme merken. Teilweise stehen sie stundenlang an den Kinokassen an, um bis zu vierzig kanadische Dollar für ein Ticket zu bezahlen. Sie interessieren sich sehr für das Kino und sind entsprechend respektvoll gegenüber dem, was man als Filmemacher macht. Dabei sind sie zwar kritisch, aber immer höflich. Das ist eine grundsätzliche Mentalitätsfrage, die sich von der Art der Deutschen unterscheidet. Wir finden alles entweder 'super' oder 'scheiße'.

Ricore: Wünschen Sie sich, dass die deutsche Presse den Filmemachern gegenüber höflicher ist?

Link: Man wünscht sich als Filmemacher, dass man tatsächlich erkannt und gesehen wird. Und für Dinge gelobt bzw. kritisiert wird, die auch zutreffen. Ich bin im Verlauf meiner Karriere sehr oft auf Kosten von anderen gelobt worden. Bei "Jenseits der Stille" hieß es zum Beispiel: 'Endlich mal ein deutsches Drama mit Anspruch und Emotion, diese dusseligen Komödien kann eh keiner mehr sehen.' Oder man wird umgekehrt kritisiert und mit Leuten verglichen, die angeblich alles besser gemacht haben. Oft ist die Kritik sehr persönlich und damit dann auch verletzend.

Ricore: Lassen Sie sich davon beeinflussen?

Link: Wenn bei einer Kritik die Glocke klingelt, nehme ich mir das schon zu Herzen. Wichtig ist aber abzuwarten, denn jeder sagt etwas anderes. Man muss die vielen Meinungen erst mal einordnen. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist die Art von Kritik, die die vermeintlichen Wohlstandsprobleme oder die Upper-Class-Themen in meinen Filmen anprangert. Soll ich mich einem Brennpunkt-Thema zuwenden, nur um von diesen Kritikern ein gutes Wort zu bekommen? Das kann ich nicht, weil ich mich da nicht auskenne. Es wäre heuchlerisch und verlogen, wenn ich versuchen würde eine Welt zu beschreiben, die ich gar nicht kenne. In den Filmhochschulen versuchen die wohlbehütet aufgewachsenen Nachwuchsregisseure irgendwelche Sozialdramen aus dem Hut zu zaubern, die sie selbst nicht im Ansatz je gespürt haben. Das finde ich unglaubwürdig.

Ricore: Was finden Sie an "Exit Marrakech" besonders gelungen?

Link: (lacht). Ich schaue den beiden Darstellern unheimlich gerne zu. Ich finde den Uli gut, weil er so reduziert spielt und die Figur so ambivalent angelegt hat. Auch Samuel macht mir großen Spaß. Das hat man auch in Kanada gespürt, wo alle fragten, wer dieser besondere Junge ist. Hafsia finde ich in ihrer Vielschichtigkeit bezaubernd. Was den Film angeht, so finde ich seine Struktur gewagt. Ich führe etwa eine Hauptfigur ein, die nach 45 Minuten wieder aus der Handlung fällt. Das habe ich sehenden Auges gemacht. Ich wollte frei und losgelöst von dramaturgischen Schablonen erzählen. Für mich ist "Exit Marrakech" eine Reise, die ins Ungewisse führt. Die Handlung mäandert vor sich hin, wie das bei einer Reise vorkommen kann. Mich reizte das.

Ricore: Warum haben Sie sich für eine Vater-Sohn-Beziehung entschieden? Bei einer Filmemacherin hätte man doch eher eine Mutter-Kind-Konstellation vermutet.

Link: Sie sind nicht der erste, der das fragt, was ich lustig finde. Ich muss mich als Regisseurin und Autorin doch auch in Männer hineinversetzen können. Sonst würde ich ja immer die gleichen Geschichten über Frauen in meinem Alter erzählen. Mich interessierte die Frage, wie junge Männer heute ohne Väter aufwachsen. Es sind Jungs, die mit starken und liebenswerten Frauen aufwachsen und von ihrer Fürsorge geprägt sind. Sie empfinden oft eine starke Loyalität zu ihren Müttern. Das ist einerseits schön, andererseits ist es für sie unter Umständen auch belastend, wenn sie zum Partnerersatz werden. Irgendwann fragen sie sich: 'Wer ist eigentlich die zweite Hälfte meines genetischen Materials? ' Es gibt heute so wenige männliche Vorbilder an denen sich Jungs reiben können.
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Produzent Peter Herrmann und Regisseurin Caroline Link am Set von "Exit Marrakech"
Pendlerin zwischen Modernität und Tradition
Ricore: Und wann kam das Thema Marokko hinzu?

Link: Zuerst entstand die vage Idee einer Vater-Sohn-Beziehung, ohne dass ich wusste, was das für eine Geschichte werden würde. Diese Konstellation verband sich irgendwann mit meinem großen Wunsch, eines Tages in Marokko zu drehen. Ich war vor 22 Jahren dort und wollte gerne wieder hin. Und so reiste ich mit dem Produzenten Peter Herrmann ohne Entwurf und ohne Drehbuch nach Marrakech und überlegte mir, wie dieses Road-Movie mit den beiden Männern konkret aussehen könnte. Die genaue Handlung ist also erst dort entstanden.

Ricore: Waren Sie überrascht, wie sehr sich Marokko seit Ihrem letzten Aufenthalt verändert hat?

Link: Überrascht kann man nach so einer langen Zeit nicht sein. Es ist zwar schade, aber ich hüte mich davor, Veränderungen zu schnell zu bewerten. Es ist ungerecht, als Tourist nach Marokko zu fahren und sich darüber beschweren, dass hier vor 20 Jahren alles pittoresker und archaischer war. Die Menschen liefen mit ihren Eseln rum, während sie heute Auto fahren und Elektrizität haben. Dazu haben sie natürlich ein Recht. Ihr Land verändert sich auf eine Weise, die das Leben für die Menschen leichter macht. Andererseits hat Marrakech zum Beispiel viel von seinem Zauber verloren. Es wurde viel zu viel gebaut. Es entsteht ein Golfplatz nach dem anderen, der das Grundwasser weiter absenkt. Viele Hotels stehen leer. Das ist katastrophal. Man wünschte sich, Wohlstand und Fortschritt würden mit mehr Sinn und Verstand angestrebt.

Ricore: In einer Szene fährt der Junge mit Skiern eine Sanddüne runter. Das haben Sie sich nicht ausgedacht, das ist Realität, nicht?

Link: So etwas Absurdes kann man sich nicht ausdenken. Die Menschen fahren mit Quads oder Jeeps in die Wüste rein. Wenn Sie etwas reicher sind, dann lassen sie sich mit Hubschraubern einfliegen. Das alles fand ich so befremdlich, dass ich das zeigen wollte. Doch so absurd das ist, ist es doch Realität. Der Wüstenrand wird von den Touristen für ihren Spaß regelrecht ausgebeutet.

Ricore: Wie schwierig war es, die verbliebene Schönheit Marokkos aus dem Weg zu gehen, um nicht in Klischees auszuarten?

Link: Es ist ja nicht so, dass sich einem im modernen Marokko die Schönheit überall aufdrängt. In Marrakech gibt es auch viele Ecken, die nicht besonders anmutig sind. Die Bilder aus den Hochglanzmagazinen muss man schon suchen, aber das wollten wir nicht. Wir wollten das zeigen, was ist. Für mich drückt sich das am meisten durch die Figur der jungen Frau, Karima, aus, die im modernen Marrakech ihr Geld verdient und damit ihre traditionell lebende, verarmte Familie zu unterstützen. Sie ist eine Pendlerin zwischen Modernität und Tradition.

Ricore: Musste es sich bei dieser Figur um eine Prostituierte handeln? Hätte es nicht auch eine andere moderne Frau sein können?

Link: Eine traditionelle Marokkanerin würde niemals einen europäischen Jungen mit in ihr Dorf nehmen oder sich von ihm in einer Disco ansprechen lassen. Für die Geschichte war es schon wichtig, dass Karima, das tut was sie tut. Frauen auf der ganzen Welt nehmen zuweilen extrem viel auf sich, um ihre Familien am Leben zu erhalten.
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Regisseurin Caroline mit Darsteller Samuel Schneider ("Exit Marrakech")
Caroline Link: Oscar-Episode wird hochstilisiert
Ricore: Wird "Exit Marrakech" in Marokko gezeigt werden?

Link: Ich hoffe, dass er auf dem Festival in Marrakech laufen wird. Ob er in den Kinos anlaufen wird, weiß ich nicht. Gibt es überhaupt Verleiher in Marokko? Wahrscheinlich gibt es den Film vorher als Raubkopie für einen Euro am Straßenrand zu kaufen.

Ricore: Sie bringen am Anfang des Films das berühmte Zitat von Leo Tolstoy: 'jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.' Ist die Familien-Problematik in "Exit Marrakech" eine individuelle oder eine allgemeingültige?

Link: Tolstoi meinte mit diesem Satz wahrscheinlich, dass die Familienprobleme individuell empfunden werden - auch wenn sie in Wahrheit einander gleichen. Die Menschen können sich damit nicht trösten, dass andere Menschen die gleichen Probleme haben. Ich wollte mit "Exit Marrakech" zeigen, dass Beziehungskonflikte immer wieder neu erlebt werden, und jedes Mal sind sie schmerzlich. Die Beziehungslage des Jungen, sein Gefühl zwischen Zuneigung und Ablehnung zu seinem leiblichen Vater, ist für ihn kompliziert und damit individuell.

Ricore: Waren Sie in ihrem Leben jemals an einen Punkt angelangt, an dem der Beruf so wichtig war, das es für die Familie gefährlich wurde?

Link: Ich habe ziemlich lange damit gewartet, ein Kind zu bekommen. Ich wusste zwar immer, dass ich Kinder haben will. Trotzdem hatte ich es so lange nach hinten geschoben, dass es dann wirklich Zeit wurde. Wenn man Spaß an seinem Beruf hat, so wie ich, dann ist es schwer, den richtigen Moment zu finden, um Kinder in die Welt zu setzen.

Ricore: Außerdem haben Sie uns die wunderbare Oscar-Episode geschenkt, mit der Sie zeigten, dass Familie wichtiger als Beruf ist.

Link: (lacht). Diese Geschichte wird immer hochstilisiert. Meine Tochter war nun mal sehr krank - aus die Maus. Man kann doch nicht in ein Flugzeug steigen, wenn das eigene Baby totkrank ist. Das war einfach schlechtes Timing. Außerdem wusste ich ja nicht, dass ich den Oscar kriegen werde. Und ich hatte diesen Party Marathon in Hollywood schon mal erlebt, als wir für "Jenseits der Stille" nominiert waren. Wir waren dort und haben das damals ausgiebig genossen. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich wirklich etwas verpasst habe. Ich habe nichts bereut.

Ricore: Dieses Jahr ist "Zwei Leben" als deutscher Kandidat für den Auslands-Oscar eingereicht worden. Deutsche Oscar-Filme kommen offenbar nicht um die Themen Nationalsozialismus und ehemalige DDR herumkommen.

Link: Das stimmt. Aber das liegt nicht an uns, sondern daran, dass die Amerikaner diese Filme aus Deutschland besonders gerne sehen. "Nirgendwo in Afrika" hätte sicherlich keinen Oscar gewonnen, wenn er sich nicht mit jüdischen Schicksalen im Nationalsozialismus beschäftigt hätte. Die Amerikaner favorisieren diese Themen, wenn sie auf Deutschland und Europa schauen. Dabei sind sie nicht besonders differenziert. Die Masse der Amerikaner unterscheidet nicht wirklich zwischen Nationalsozialismus und Stasi. Erst Recht nicht, wenn es um komplexe Themen wie Lebensborn-Kinder oder Agenten in Norwegen geht. Ich bin mir nicht sicher, ob sie das wirklich auseinanderhalten können. Aber so lange die Deutschen die Bösen sind, kommt das gut an. (lacht).

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 4. November 2013
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