Stina Werenfels
Regisseurin Stina Werenfels
Höchster Wert hat Selbstbestimmung
Interview: Stina Werenfels' Gesellschaftsanalyse
Vor dem Hintergrund der Debatte um das Recht auf Selbstbestimmung geistig beeinträchtigter Menschen könnte Stina Werenfels' Film "Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern" aktueller nicht sein. Die von Victoria Schulz gespielte Dora entdeckt ihre Sexualität und lebt diese in vollen Zügen aus. Doch es geht um mehr, vor allem um eine sensibel geschilderte Mutter-Tochter-Beziehung, die eben nicht alltäglich ist. So geht es im Interview von Filmreporter.de mit Regisseurin Stina Werenfels auf der Berlinale 2015 um die nicht immer grenzenlose Liebe einer Mutter zu ihrer Tochter.
erschienen am 19. 05. 2015
Alamode Film
Dora (Victoria Schulz) entdeckt ihre Sexualität
Tabuthema?
Ricore Text: Im Film geht es um eine geistig behinderte junge Frau, die Sex hat und diesen genießt. Was reizt Sie an einem solchen Tabuthema?

Stina Werenfels: Ein Tabuthema reizt mich nicht als solches. Hier geht es um die entfesselte Lebenslust einer geistig behinderten Frau, die schwanger wird und ihr Kind austrägt. Und es geht um eine Mutter, welche die Abnabelung ihrer behinderten Tochter wohl unterstützt, sich diese aber anders vorgestellt hat. Ich wollte diesen Stoff umsetzen, weil er einiges über unsere Gegenwart sagt, indem er die Grenzen unserer liberalen Gesellschaft auslotet. Dazu habe ich eingehend recherchiert, denn die theatrale Vorlage von Lukas Bärfuss ist zeitlich nicht klar angesiedelt. Ich war überrascht und sehr erfreut zu sehen, dass die Diskussion, die das Stück anstößt, auf Gesetzesebene in allen westeuropäischen Ländern Eingang gefunden hat. Es geht also um die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, um das Recht auf Selbstbestimmung, um die eigene Lebensgestaltung. In unserem Film führt das in eine brisante Konfliktzone: Was, wenn die Tochter einen sexuellen Übergriff erfährt, denselben Mann aber erneut aufsucht? Wo beginnt echter Schutz und wo verbirgt sich allenfalls dahinter die «alte», bevormundende Kontrolle? Das sind kontroverse Diskussionen und das Publikum beurteilt je nach persönlicher Erfahrung ganz unterschiedlich.

Ricore: Inwiefern haben Sie diese Problemstellung auf den Film übertragen? Welche Rolle spielt dabei die Mutter?

Werenfels: Dieser Konflikt wird in einer Mutter-Tochter-Beziehung ausgetragen. Die Mutter schenkt Dora quasi die Freiheit, indem sie ihre beruhigenden Medikamente absetzt. Sie ringt ständig mit sich selber, das richtige zu tun: Dora zu beschützen und ihr gleichzeitig so viel Freiheit wie möglich zuzugestehen, bis zu dem Punkt, an dem ihre eigene Freiheit stark einschränkt wird. Denn durch die ständige Verantwortung gegenüber Dora wird sie ganz über ihre Mutterrolle definiert. Daneben ist sie aber auch Partnerin und Berufsfrau - Fragen, die letztlich alle modernen Mütter betreffen. Das Ende des Films versinnbildlicht ein Moment der Transition, wo auch der Mutter eine Ablösung gelingt und sie gleichzeitig in ein neues Lebensalter, jenseits der eigenen Gebärfähigkeit, findet. Für mich ein feministisches Ende.

Ricore: Warum sind die männlichen Figuren im Gegensatz zu den weiblichen so blass im Film?

Werenfels: Mir war es wichtig, die Geschichte zwischen der Mutter und der Tochter zuzuspitzen, weil es einfach die Bindung schlechthin ist. Da konnte ich auch meine Fragen stellen: inwiefern ist das eine biologische und inwiefern eine soziale Bindung? Ich sah die Mutter nicht alleinerziehend, denn dann kämen weitere Probleme hinzu. So ist der Vater da, bemüht sich redlich, doch im Notfall kann er sich geschickt entziehen. Aber blass? Ich finde das nichts Ungewöhnliches bei zeitgenössischen Männern. Sie helfen zwar kochen, gehen auch mal mit zum Arzt, doch tatsächlich liegen die Entscheidungen meist bei den Müttern.
Alamode Film
Victoria Schulz in "Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern"
Stina Werenfels: solidarische Haltung bricht weg
Ricore: Hat sich das mit der Zeit verändert?

Werenfels: An die Mutter wird praktisch alles herangetragen, in den Augen der Gesellschaft ist sie eigentlich für alles verantwortlich oder hat Schuld. Selbst wenn das Kind noch nicht geboren ist, wird sie dazu aufgefordert, zu entscheiden, was für ein Kind sie haben will. Pränatale Diagnostik wird routinemäßig betrieben, jedoch auf rein technokratischer Ebene. Ich erlebe da eine große Einsamkeit. Das ging mir selbst als Mutter einer nicht behinderten Tochter so, doch für Mütter mit behinderten Kindern ist das noch ungleich stärker. Denn die solidarische Haltung bricht weg.

Ricore: Wie haben Sie Hauptdarstellerin Victoria Schulz gefunden?

Werenfels: Sie ist eine Entdeckung! Wir machten Streetcastings, suchten also im nicht-professionellen Bereich. Außerdem habe ich im Umfeld vom Berliner Theater Ramba Zamba gesucht, weil ich überlegt hatte, mit einer behinderten Darstellerin zu arbeiten. Ich habe mir auch junge Schauspielschülerinnen angesehen. Doch das hat gar nicht funktioniert.

Ricore: Warum nicht?

Werenfels: Ich brauchte eine Darstellerin, die ganz frei ist, auch im Umgang mit ihrem Körper. Schauspielschülerinnen sind da manchmal schon früh fixiert. Gleichzeitig wollte ich mit einer jungen Frau arbeiten, die sich der vollen Dimension ihrer Rolle bewusst ist. Obwohl Dora die erste Rolle für Victoria Schulz war, konnten wir absolut partnerschaftlich zusammenarbeiten.

Ricore: Was ist Peter, der sich im Film auf eine Beziehung mit Dora einlässt, für eine Figur?

Werenfels: Wenn man vom Bindungsthema ausgeht, dann haben wir zum einen die enge Mutter-Tochter-Bindung, dann den Vater, der eher Abstand hält, und schließlich Peter, der grundsätzlich keine Beziehungen eingehen will. Er ist ein 'Cruiser', ein Großstadtmensch, er sucht überall nach Stimulation, nach Reizen: Im Glücksspiel und in der sexueller Erregung. Als Dora ihm nachgeht, nutzt er das aus.
Alamode Film
Dora (Victoria Schulz)
Das ist schockierend!
Ricore: Er vergewaltigt sie.

Werenfels: Ja. Das ist schockierend! Dora ist ja auf der Suche nach einem Partner, das wird vorher ganz klar. Man wünscht ihr Sex, aber sicher nicht so. Sie hat vom ersten Mal keine genauen Vorstellungen: Es schmerzt, aber gleichzeitig spürt sie sich. Das ist eine hochambivalente Situation. Da Dora Peter für seine Handlung nicht verurteilt, entsteht doch eine merkwürdige Form von Beziehung. Durch Dora durchläuft Peter sogar eine gewisse Entwicklung.

Ricore: Einerseits ist Peter der Einzige, der Dora normal behandelt, wie er jede andere Frau auch behandeln würde, andererseits entzieht er sich damit auch seiner Verantwortung ihr gegenüber.

Werenfels: Genau: auch hier entwickelt sich im Zuschauer ein Zwiespalt. Und das tolle an Lars Eidingers Spiel ist ja, dass es viel Interpretationsspielraum lässt. Tatsächlich ist ein Aspekt davon: Er packt Dora nicht in Watte und das gefällt ihr.

Ricore: Was für Änderungen haben Sie bei der Adaption des Theaterstücks vorgenommen?

Werenfels: Die größte Änderung ist, dass Dora ihr Kind bekommt. Im Stück strengt die Mutter ja eine Gebärmutterentfernung an. Bis in die 1970er Jahre wurde dies skandalöserweise als Empfängnisverhütung praktiziert.

Ricore: Aber das würde doch gar nicht zu der Mutter passen.

Werenfels: Die Mutter ist als eigenständige Figur stärker geworden: Sie wünscht sich selber noch einmal ein Kind, das verstärkt ihren eigenen Konflikt.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch!
erschienen am 19. Mai 2015
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