Ricore
Sidney Lumet nicht schuldig!
Interview: Meister des Gerichtsdramas
Regielegende Sidney Lumet inszeniert immer wieder Gerichtsdramen. "Find me guilty" basiert auf einer wahren Begebenheit und beschäftigt sich mit den längsten Mafiaprozess in der Justizgeschichte der Vereinigten Staaten. Lumet zählt zu den umtriebigsten Regisseuren. Er war mehrfach für Oscar und Goldene Bären nominiert. 2006 hat es nicht geklappt, aber einen Bär konnte er ja bereits 1957 für "Die Zwölf Geschworenen" mit nach Hause nehmen.
erschienen am 19. 02. 2006
Find me guilty
Ricore: Wenn Sie sich die heutige Kinolandschaft anschauen, wie glauben Sie, könnte sich das Kino in den kommenden zehn Jahren entwicklen?

Sidney Lumet: Es ist sehr gefährlich zu mutmaßen und in diesem Fall kann man nur mutmaßen. Das ist eine prekäre Situation und ich kann nur für mich selbst sprechen. Momentan gibt es eine Reihe hervorragender neuer Independentfilme und gleichzeitig entstehen immer größere und größere Studios, denen mehr und mehr gehört. Ein Konzern besitzt Buchverlag, Fernsehsender, Filmkonzern und Produktionseinrichtungen. Größe in diesem Ausmaß erscheint mir sehr verdächtig. In meinem Film "Find me guilty" gibt es einen Aspekt, den ich sehr mag: Eine einzige Legitimation ist falsch! Je größer eine Organisation ist, umso mehr Macht hat sie. Das macht mich ein wenig nervös. Es ist eine ganz neue Situation, eine ganz neue Welt. Diese bedingt wieder eine neue Art der Filme. Man kann es immer nur eine Spielzeit nach der anderen betrachten. Wir haben eine gute Saison für amerikanische Filme und ich hoffe das hält an.

Ricore: Wie kam es, dass Sie ausgerechnet Vin Diesel für die Rolle des Giacomo 'Fat Jack' DiNorscio aussuchten?

Lumet: Ich wählte Vin, weil er mit mir flirtete. Nein, ernsthaft. Die Wahrheit ist, wir sind alle große Snobs, wenn es um Actionhelden geht. Wir degradieren sie aufgrund unserer Vorurteile. Das gleiche machen wir mit hübschen Darstellerinnen. Wenn du schön bist und eine Darstellerin, dann heißt das schnell, du kannst nicht schauspielern. Wenn du ein erfolgreicher Actionheld bist, heißt es auch, dass du nicht schauspielern kannst. All das passiert unter Ausblendung der Tatsache, dass Sir Sean Connery, Clint Eastwood oder wenn man noch weiter zurückgeht Humphrey Bogart oder auch James Cagney gleichzeitig Actionstars und brillante Schauspieler waren. Von Vin hatte ich einen kleinen Film gesehen, den er selbst produziert hatte, Regie führte und das Script schrieb. Der Streifen handelt von einem Schauspieler, der von Agenten zu Agenten, von Castingdirector zu Castingdirektor geht, um sich vorzustellen. Ich weiß, wie schwer es ist, als Schauspieler Fuß zu fassen. Das ist harte Arbeit. Vin spielt in 20 Minuten des Films etwa fünf unterschiedliche Rollen. Doch er drehte ihn nicht für den kommerziellen Verkauf. Es ist eher eine Art Visitenkarte und Vin war brillant. Als wir die Chance sahen, diesen Film zu machen, da wusste ich, ich gehe kein Risiko ein. Ich wusste, ich habe einen erstklassigen Schauspieler und wenn der Film Erfolg hat, wird seine Kariere Wege gehen, die ich nie vorhergesehen hätte.

Ricore: Als Zuschauer ist man schnell auf der Seite von DiNorscio, warum haben Sie sich entschieden, ihn so nett zu gestalten?

Lumet: Bei der Mafia gibt es keine Helden. Sie bringen Menschen um. Es gibt aber oft ein Konflikt, wenn man einen Film betrachtet. Ein Film ist nicht die Wirklichkeit. Er braucht einen Helden und der sollte sympathisch sein. Die Entscheidung war Vin zu nehmen, der Charme besitzt, genauso wie es Francis Ford Coppolas Entscheidung war Marlon Brando und Al Pacino zu nehmen. In Der Pate bringt Al Pacino 40 Menschen um und das Herz bricht, wenn er alleine am Ende allein gelassen wird. Eine unmoralische Situation. Doch das ist der Unterscheid zwischen Film und dem Leben.
Vin Diesel in "Find me guilty"
Ricore: Was führte aus Ihrer Sicht dazu, dass DiNorscio den Fall gewinnen konnte?

Lumet: Es ist nicht, dass die Ansicht des Gerichts so falsch war. Das glaube ich nicht. Man musste eine Entscheidung treffen. Ich entschied mich für DiNorscios Seite. Doch ich zeigte in einer Einstellung auch viele Tische, auf denen sich die Beweise gegen den Angeklagten stapelten. Privat glaube, dass es DiNorscios Persönlichkeit war, die ihn den Fall gewinnen ließ. Das gleiche passierte auch im Fall von O.J. Simpson, der meiner Meinung nach, ausgehend von dem, was ich darüber weiß, schuldig war. Er selbst hielt sich bedeckt, doch sein Anwalt war so brillant, charmant und so witzig, mit so einem könnte man Präsident werden. Wenn so eine Persönlichkeit auftritt, das vernichtet alle Fakten. Ja, das ist nicht fair, das ist nicht Gerechtigkeit aber es ist die Wahrheit. Und ich denke das ist in diesem Fall passiert.

Ricore: Woher kommt ihr Interesse an Gerichtsdramen?

Lumet: Ich bin absolut ehrlich, wenn ich sagen, dass ich keine Ahnung habe. Aber wenn man in einem Armenviertel in einer Großstadt aufwächst, ist die erste Person die dir etwas beibringt ein Polizist. Ich wuchs in einem sehr rauen Bezirk von New York auf und einmal haben wir in einer Ecke Münzen geworfen. Wer mit seiner Münze am nähesten zur Wand kam, bekam alle Münzen. Ein Polizist kam, verscheuchte uns und sammelte alle Münzen ein. Das war so üblich. Ich glaube von diesem Moment an war ich mir der Justiz bewusst. Meist weiß ich aber erst hinterher, warum ich einen Film gemacht habe. Ich entscheide mich instinktiv für meine Stoffe.

Ricore: Woher nehmen Sie all die Energie und Kreativität für Ihre zahllosen Projekte?

Lumet: Ich liebe Filme und da ist nichts, was ich lieber tun würde. Erst kommen meine Frau, meine Kinder und gleich danach kommen Filme. Ich habe keine anderen Interessen. Ich entspanne viel besser, während ich einen Film drehe, als wenn ich im Urlaub wäre.
erschienen am 19. Februar 2006
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Find me guilty (Kinofilm)
"Find me guilty" basiert auf dem wahren Fall von Jack DiNorscio, einem Mafiosi, der sich vor Gericht selbst verteidigte. Es wurde der längste Prozess gegen das organisierte Verbrechen aller Zeiten. Vin Diesel schlüpft in der Rolle des charismatischen Jack. Regiealtmeister Sidney Lumet inszeniert eine unterhaltsame Geschichte um einen der spektakulärsten Fälle der amerikanischen Justizgeschichte.
Sidney Lumet macht sich als Regisseur von Klassikern wie "Serpico", "Hundstage" und "Network" einen Namen bei Kritik und Publikum. Schon sein Erstlingswerk "Die Zwölf Geschworenen" von 1957 wird für drei Tödliche Entscheidung - Before the Devil Knows You're Dead" aus dem Jahre 2007 erntet euphorische Kritiken. Long Day's Journey Into Night" und "Blick von der Brücke" auf die Leinwand. Da er seine Geburtsstadt New York interessanter findet als Hollywood, dreht er viele seiner Werke in der..
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