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Jeremy Irons auf der Berliner Premiere von "Nachtzug nach Lissabon"
Hat Irons Jeremy Lynch verstanden?
Interview: Ein kleiner Anarchist
Wir trafen den 58-jährigen Oscar-Preisträger Jeremy Irons beim Filmfest in Venedig anlässlich der Premiere seines Films "Inland Empire". In dem Mystery-Thriller von Movie-Magier David Lynch spielt Irons einen Regisseur, dessen neuestes Werk unter höchst merkwürdigen Umständen entsteht. "Inland Empire" sorgte für Furore, auch weil Lynch eine zusammenhängende Handlung nur stellenweise erahnen lässt und statt dessen eine kunstvolle Verschachtelung aus aneinander gereihten Szenen-Fragmenten inszenierte. Wir sprachen mit Jeremy Irons über das rätselhafte Werk, über Alpträume, Aberglaube und Anarchie.
erschienen am 10. 06. 2023
Concorde Filmverleih
Inland Empire
Fragmentarische Handlung?
Ricore: Mr. Irons, Sie sind in David Lynchs neuem Film "Inland Empire" zu sehen. Über die fragmentarische Handlung des Werkes wurde viel gerätselt. Können Sie uns verraten, worüber der Film nun wirklich handelt?

Irons: Irons: An dieser Frage kann man sich die Zähne ausbeißen, denn David Lynch wird darauf keine Antwort geben - nicht einmal seinen Schauspielern. Auf mich wirkt dieser Film wie ein gigantisches Gemälde von Hieronymus Bosch. Man kann hineininterpretieren, was man will. Nicht die Aussage des Regisseurs steht im Vordergrund, sondern das, was der Zuschauer beim Betrachten des Films selbst empfindet. Das finde ich großartig.

Ricore: Und was nehmen Sie persönlich aus dem Film mit?

Irons: Da ich ein Mensch bin, der kein Chaos erträgt und eine gewisse Struktur braucht, habe ich mir eine übergeordnete Geschichte zusammen gestrickt, in deren Rahmen ich die einzelnen Szenen auf mich wirken lassen kann. Für mich handelt der Film über eine Schauspielerin, dargestellt von Laura Dern, die von einem Regisseur - den ich spiele - für einen Film engagiert wird. Sie hat ihren Mann betrogen und wird deshalb von Schuldgefühlen geplagt. Der Film begleitet sie auf ihrer inneren Reise durch diese Ängste und Neurosen.

Ricore: Hatten Sie je Zweifel, sich auf ein derart ausgefallenes Filmprojekt einzulassen?

Irons: Nein. Ich versuche, vor keiner Rolle zurückzuschrecken. Im Gegenteil - je exzentrischer und abenteuerlicher ein Projekt erscheint, desto mehr fühle ich mich davon angezogen. Ich bin an einem Punkt meiner Karriere, an dem ich es mir leisten kann, riskante Rollen anzunehmen.

Ricore: Klingt in der Tat nach abenteuerlichen Dreharbeiten, wenn Sie sagen, David Lynch habe seinen Schauspielern nicht erklärt, wovon der Film handelt.

Irons: Ich habe bis heute keine Ahnung, wovon das Drehbuch handelt. Wobei Drehbuch zu viel gesagt ist. An meinem ersten Drehtag drückte Lynch mir drei Zettel in die Hand und sagte: "Du spielst den Regisseur".
Jean-François Martin/Ricore Text
Jeremy Irons in Venedig (2006)
"Versuche nett zu wirken!"
Ricore: Haben Sie Ihre Rolle an einen bestimmten Regisseur angelehnt?

Irons: Nein, im Grunde habe ich nur mich selbst gespielt (lacht). Die einzige Anweisung, die Lynch mir gab, war: "Versuche einigermaßen nett zu wirken. Und sei ruhig ein bisschen witzig".

Ricore: Sie haben also alles improvisiert?

Irons: Nicht ganz. Lynch hatte Textpassagen für uns vorbereitet. Allerdings erhielten wir diese erst kurz vor Drehbeginn. Ich sagte ihm: "So schnell kann ich keinen Text auswendig lernen. Dazu brauche ich mehrere Tage - schließlich bin ich ein alter Mann!" (lacht). Am Ende kam also eine Mischung aus vorgegebenem Text und Improvisation heraus.

Ricore: Diese Arbeitsweise erfordert viel Vertrauen in den Regisseur.

Irons: Ja, aber bei David Lynch fühlte ich mich stets aufgehoben. Lieber begebe ich mich völlig ahnungslos in seine Hände, als unter der Regie eines jungen, unerfahrenen Regisseurs eine Geschichte zu drehen, bei der ich weiß, worum es geht. Am Ende kommt es nur auf eines an: darauf, was der Regisseur aus dem Film macht. Egal, wie gut ich spiele - es liegt außerhalb meiner Kontrolle, wie ein Film geschnitten wird. Das alleine entscheidet, ob ein Film gut ist oder nicht.

Ricore: Gab es Regisseure, die Ihr Vertrauen enttäuscht haben?

Irons: Bei den Dreharbeiten zu "The Mission" konnten Robert De Niro und ich uns zunächst nicht leiden. Wir hassten uns geradezu. Da wir im Film Widersacher spielten, war Regisseur Roland Joffé über unsere kleine Privatfehde mehr als erfreut. Er tat alles, um unsere Abneigung gegeneinander zu schüren. Regisseure sind von Natur aus große Manipulatoren. Wahrscheinlich ist das oftmals der einzige Grund, warum sie überhaupt Regisseur werden (lacht).
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Regisseur David Lynch am Set von Inland Empire
Digital fotografiert
Ricore: Sie selbst haben aber auch schon mal Regie geführt!

Irons: Natürlich gilt das oben Gesagte nicht für mich (lacht)! Denn offen gestanden gefällt mir Regie führen fast noch besser, als die Schauspielerei. Ich liebe es, aus den Akteuren eine Leistung herauszukitzeln und sie dazu zu bringen, in eine andere Person hineinzuschlüpfen.

Ricore: Ungewöhnlich ist, dass David Lynch "Inland Empire" mit einer Digitalkamera filmte.

Irons: Ja, aber auf diese Weise hat er Kosten gespart. Immerhin zogen sich die Dreharbeiten - mit mehreren Unterbrechungen - über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren. Ich finde die Bildqualität dennoch fantastisch. Lynch hat eine wundervolle visuelle Begabung. Mein Sohn ist Fotograf, auch er hat einen ausgeprägten Sinn für reizvolle Optik. Ich beneide Leute, die diese Gabe haben.

Ricore: Gewöhnungsbedürftig ist auch die Filmlänge von drei Stunden. Hand aufs Herz: Können Sie sich so lange auf einen Film konzentrieren?

Irons: Ich stimme Ihnen zu. Es ist in der Tat sehr schwer. So etwas ist man heutzutage nicht mehr gewöhnt. Ich finde es also durchaus interessant, das Publikum auf diese kleine Bewährungsprobe zu stellen. Warum muss uns immer alles auf dem Silbertablett serviert werden - und das so schnell wie möglich? Lassen wir uns doch einfach die Langsamkeit wieder ein bisschen zelebrieren.

Ricore: Sind Sie ein geruhsamer Mensch?

Irons: Oh ja! Oder besser gesagt: Ich pflege die Tugend der Faulheit (lacht). Ich könnte tagelang einfach nur im Bett liegen.

Ricore: Sie könnten auch ohne Arbeit leben?

Irons: Und wie! In meinem Alter wird es sowieso zunehmend schwerer, interessante Rollen zu bekommen. Ich habe nicht vor, mich nur um des Arbeitens willen auf immer die gleichen Figuren einzulassen. Schauspielerei ist schließlich wie essen: Mal hat man Heißhunger auf einen Apfel, dann wieder giert einem nach Fleisch.
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Jeremy Irons als Regisseur in Inland Empire
Merkwürdigkeiten während der Dreharbeiten?
Ricore: Der Film, den Sie in "Inland Empire" drehen, gilt als verflucht. Haben Sie schon einmal in einem Film mitgespielt, bei dem merkwürdige Dinge während der Dreharbeiten geschahen?

Irons: Nein, bis jetzt noch nicht. Aber ich habe durchaus eine Antenne für das Übernatürliche und neige zum Aberglauben. Ich finde, es gibt auf dieser Erde weitaus mehr zu entdecken, als wir auf den ersten Blick wahrnehmen.

Ricore: "Inland Empire" ist von einer geradezu alptraumhaften Atmosphäre geprägt. Was ist Ihr größter Alptraum?

Irons: Ich scheine ein äußerst vitales Unterbewusstsein zu haben, denn ich träume sehr oft. Vor allem einen Alptraum durchlebe ich immer wieder: Ich muss in letzter Sekunde für einen Kollegen einspringen und stehe plötzlich auf der Bühne, ohne einen blassen Schimmer zu haben, wie der Text lautet. Zum Glück hatte ich noch nie diesen Alptraum, nackt auf der Bühne zu stehen - schließlich spiele ich in meinen Träumen meistens Shakespeare-Stücke. Es würde ja wirklich zu lächerlich wirken, als nackter King Lear aufzutreten (lacht).

Ricore: Was glauben Sie, woher der wiederkehrender Traum rührt?

Irons: Die Antwort liegt auf der Hand: Ich bereite mich auf meine Rollen nicht halb so gewissenhaft vor, wie manche Kollegen. Einerseits habe ich ständig unterschwellige Gewissensbisse - vor allem, wenn ich sehe, wie akribisch sich meine Frau auf ihre Arbeit vorbereitet - andererseits erzeuge ich auf diese Weise eine Art Anspannung in mir, die ich beim Drehen brauche.

Ricore: Können Sie in der Schauspielerei Ihre Ängste ausleben?

Irons: Ich zwinge mich förmlich dazu, Rollen anzunehmen, die Panik in mir auslösen. In der Tat versuche ich auf diese Weise, mich eigenen Ängsten zu stellen.
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Laura Dern, gefilmt von Regisseur David Lynch
Ehrenplatz im eigenen Schloss?
Ricore: Hat Ihr Oscar einen Ehrenplatz in dem irischen Schloss, dass Sie vor einigen Jahren kauften?

Irons: Nein, er befindet sich in meinem Haus in Oxfordshire. Dort steht er neben meinen anderen Auszeichnungen auf einem Regal in meinem Studierzimmer.

Ricore: Wie viel Zeit verbringen Sie in Ihrem Schloss?

Irons: So viel ich kann. Sobald ich mehr als drei Tage frei habe, fahre ich dorthin. Ein kürzerer Aufenthalt würde nichts bringen, denn dieses Schloss ist dafür prädestiniert, abzuschalten und Energie zu tanken. Das funktioniert nicht, wenn man wieder gehen muss, kaum, dass man gerade angekommen ist.

Ricore: Haben Sie Ihre Familie um sich, wenn Sie entspannen wollen?

Irons: Wenn es sich ergibt, freue ich mich natürlich über die Gesellschaft meiner Söhne und meiner Frau. Allerdings sind alle drei so beschäftigt, dass wir uns selten zur gleichen Zeit am selben Ort aufhalten. Mein Sohn Max besucht gerade die Schauspielschule. Mein ältester Sohn Sam arbeitet als Fotograf in London und meine Frau spielt Theater. Ich genieße es zwischendurch sehr, alleine zu sein. In dieser verrückten Welt ist es wichtig, kleine Alltagsfluchten zu kreieren. Ab und zu muss man einfach mal inne halten und den Kopf ausschalten.

Ricore: Sie haben kürzlich einen Emmy für den TV-Zweiteiler "Elizabeth I" gewonnen. Können Sie uns etwas über Ihre Rolle erzählen?

Irons: Ich spiele an der Seite von Helen Mirren, die als Elizabeth zu sehen ist, den ungestümen Günstling der Königin, Robert Dudley - dem späteren Graf von Leicester. Tief in mir wohnt ein kleiner Anarchist - das konnte ich für meine Rolle sehr gut verwenden (lacht). Es fiel mir also sehr leicht, Dudley zu spielen.

Ricore: In den vergangenen Jahren spielen immer mehr hochkarätige Schauspieler in aufwendigen TV-Produktionen mit. Früher galt eine Fernsehrolle als Karrieregift. Wie sehen Sie diese neue Entwicklung?

Irons: Es stimmt, früher gab es eine Art Klassensystem. Wer etwas auf sich hielt, nahm keine TV-Rollen an. Inzwischen hat sich aber die Qualität von Fernsehfilmen enorm gesteigert. Eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung spielte auch Mike Nichols erfolgreicher Mehrteiler "Engel in Amerika". Plötzlich wurde vielen Schauspielern klar, dass sie durch einen gut inszenierten TV-Film ein großes Publikum erreichen können. Außerdem bietet sich durch die Fernseharbeit eine größere Rollenauswahl. Das Kinogeschäft entwickelt sich ja leider immer mehr zu Blockbustern.
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Kann auch komisch: Jeremy Irons
Nur noch Geld für Blockbuster?
Ricore: Beobachten Sie diese Entwicklung mit Besorgnis?

Irons: Ich bedauere es, dass in Amerika eine Art Fastfood-Einstellung herrscht, wenn es um Filme geht. In Europa ist das ganz anders. Dort geht betrachtet man Filme als Kunst und geht ins Kino wie in eine Ausstellung.

Ricore: Verlieren anspruchsvolle Filme zunehmend an Publikum?

Irons: Ich versuche diesbezüglich optimistisch zu bleiben. Der Mensch hat bestimmte Überlebensinstinkte. Körperliche wie auch geistige. Wenn unser Gehirn zu lange ohne emotionalen Saft auskommen muss, wird es sich irgendwann wehren. Wir brauchen Filme, die uns faszinieren und zum denken anregen. Ohne intellektuellen Input verarmen wir! Ich glaube also, dass es für anspruchsvolle Filme immer einen Markt geben wird - auch wenn die Nachfrage momentan eher gering ist.

Ricore: Sie machen es sich deshalb aber nicht zur Aufgabe, ausschließlich in Kunstfilmen mitzuspielen, oder? Schließlich sind auch Sie immer wieder in großen Studioproduktionen zu sehen.

Irons: Natürlich, ich würde ja durchdrehen, wenn ich immer nur dieselbe Art von Rollen spielen würde. Außerdem ist die Schauspielerei mein Beruf, ich verdiene damit meinen Lebensunterhalt. Ich muss also zwischendurch auch mal Projekte annehmen, die mir die Miete sichern (lacht).

Ricore: Weihnachten sind Sie in dem Fantasy-Spektakel "Eragon" zu sehen. Was können Sie uns über den Film verraten?

Irons: Das ist ein richtig großer amerikanischer Popcorn-Film. Meine Figur ist recht konventionell - ich vergleiche sie immer mit Sir Alec Guinness' Part in "Star Wars". Ich spiele den Brom, einen abgeklärten Alten, der einen kleinen Jungen unter seine Fittiche nimmt. Die Rolle hat aber durchaus Spaß gemacht. Es war eine schöne Abwechslung. Wissen Sie: Als Schauspieler kann man nie voraussehen, mit welcher Rolle man das Publikum am meisten berühren wird. Die Hauptsache ist aber, dass man es von Zeit zu Zeit schafft. Dann habe ich meinen Job gut gemacht.
erschienen am 10. Juni 2023
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Inland Empire (Kinofilm)
Die Biennale in Venedig 2006 feierte David Lynchs Werk. Darin beschäftigt er sich auf verstörende Weise mit dem Thema Angst und den Abgründen der menschlichen Seele. Nach "Lost Highway" und "Mulholland Drive" schließt "Inland Empire" nahtlos an die Herausbildung einer Traumlogik an. Es lässt viel Platz für eigene Interpretationen. Herausragendes schauspielerisches Können beweist Laura Dern.
Vor seiner Filmkarriere arbeitet der in England geborene Schauspieler Jeremy Irons vor allem auf der Bühne an der Seite von namhaften Darstellerinnen wie Glenn Close. Nach seinem Durchbruch in "Die Geliebte des französischen Leutnants" wird er bald zu einem der gefragtesten Charakterdarsteller in und außerhalb der Insel. Stirb langsam - Jetzt erst recht". Fünf Jahre zuvor erhielt er den Die Affäre der Sunny von B." Seit 1978 ist Jeremy Irons mit der Schauspielerin Sinèad Moira Cusack..
2024