Kinowelt
Alice in den Städten

Alice in den Städten

Originaltitel
Alice in den Städten
Alternativ
Alice in the Cities (engl Titel)
Regie
Wim Wenders
Darsteller
Rüdiger Vogler, Yella Rottländer, Lisa Kreuzer, Edda Köchl, Ernest Boehm, Sam Presti
Kinostart:
Deutschland, am 17.05.1974 bei Filmverlag der Autoren und Futura Film-Verleih
Genre
Drama
Land
Deutschland
Jahr
1974
FSK
ab 6 Jahren
Länge
112 min.
IMDB
IMDB
|0  katastrophal
brillant  10|
8,0 (Filmreporter)
9,0 (1 User)
Meinungen
gunkl (gelöscht) 
Poetischer Existenzialismus?
Alice in den Städten ist ein wunderbar inszeniertes Roadmovie. Es ist ein poetischer Film mit gleichnishafter Kraft. Wenders Werk handelt von Identität, Sprache, Gedächtnis und der existenzialistischen Situation, in die der Mensch "geworfen" ist. Die Reise ist eine Allegorie für den Lebensweg und zugleich ein Bild für das Streben des Mensch zum Selbstbewusstsein und somit zur kreativen Erfüllung des Lebens.Der Film ist trotz des ernsten Themas leicht und positiv.Am Anfang sehen wir den lethargischen Journalisten Philip Winter, der sein Selbstbewusstsein verloren hat. Er ist der Umwelt überdrüssig geworden. Dem eloquenten Journalisten hat es die Sprache verschlagen.Er befindet sich in einer Schaffenskrise. Die Kommunikation zu den anderen Menschen hat er fast völlig abgebrochen, er ist stumm geworden. Statt einen Artikel zu schreiben, bringt er es lediglich fertig, einen Haufen von Fotos für seinen Auftraggeber zu machen. Diese sind sein einziges Kommunkiationsmittel und dienem ihm zur Selbstvergewisserung und Stabilisierung des brüchig gewordenen ICHs. Finanziell abgebrannt und in einer Lebenskrise befindlich, trifft er auf dem New Yorker Kennedy-Flughafen Lisa van Damm und deren neunjährige Tochter Alice. Die Mutter vertraut ihm ihre Tochter an, mit der er nach Europa fliegt. Als die Mutter nicht wie angekündigt einige Tage später nach Amsterdam nachfolgt, fahren Winter und Alice durch Deutschland, um die Oma der Kleinen zu suchen. Zwischen den beiden entwickelt sich ein freundschaftlicher Dialog. Beide reden auf gleicher Augenhöhe miteinander.Die zufällige Begegnung mit dem Mädchen bewirkt eine Wandlung in Philip. Er beginnt sich wieder lebendig zu fühlen und die Lebenskrise zu überwinden. Auf der Suche nach der eigenen Identität, die nicht zuletzt auch auf der Erinnerung und der(geistigen/sprachlichen/etc) Heimat beruht, ist die kleine Alice eine Schlüsselfigur. Eigentlich spiegeln die beiden sich gegenseitig wider. Jeder der beiden erkennt sich im anderen und entdeckt sich dadurch (auf neue Art und Weise) wieder.Die bittersüße Atmosphäre ist nicht negativ aufzufassen, sondern zeigt die Wechselhaftigkeit des menschlichen Lebens und der menschlichen Erfahrungen. Die grundsätzlich melancholische Stimmung wird auch durch die S/W Bilder bekräftigt. Die hervorragende und stimmige Ästhetik der Bilder verleiht dem Film Schönheit. Und das obwohl Wenders Häßliche Themen zeigt- die Selbstentfremdung des Menschen schildert, wie sie typisch für die moderne westliche Gesellschaft ist. Hier erinnert "Alice", genauso wie "der Himmel über Berlin" an die Lyrik Rilkes.Wenders schafft eine Ästhetik des Häßlichen. Der Dialog zwischen dem Mädchen und dem Journalisten ist ernsthaft, aber doch von einer gewissen Leichtigkeit. Nicht zuletzt enthält der Film auch eine starke existenzialistische Note. Die Reise als Todesmotiv ist omnipräsent. Orte, an die Erinnerungen gebunden sind, existieren nicht mehr oder sind verlassen. Im Haus der Großmutter lebt nun eine fremde Familie. Die Bekannten sind längst verschwunden, nur die Erinnerung ist geblieben.Das Motiv der Vergänglichkeit klingt hier an,wie auch später in "Der Himmel über Berlin". Allerdings nicht mit einer schweren Note, sondern mit der Leichtigkeit des Seins. Psychologisch sehr gut ausgearbeitet, schildert der Film das Streben des Menschen in der Krise zum Ursprung, zu den eigenen Wurzeln. Wenn alle Stricke reißen, dient das Erlebte als Halt, die Erinnerung als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ohne Erinnerung ist daher auch kein Zukunftsdenken möglich. Die Aussage ist deshalb existenzialistisch, weil es dem Protagonisten selbst überlassen ist, sein Leben kreativ zu gestalten und sein "geworfensein" zu akzeptieren. Letzlich ist es an Philip selbst, sich zu "erfinden" bzw. zu verwirklichen. der Dialog mit dem Mädchen dient ihm dabei als Motor. Der Film erinnert in dieser Hinsicht an den sartre'schen Existenzialismus. Die Option des Metaphysischen bleibt jedoch stets offen.
geschrieben am 28.06.2012 um 15:57 Uhr
Seite: [1]
2024