Prokino
Fenster zum Sommer

Fenster zum Sommer

Originaltitel
Fenster zum Sommer
Alternativ
Summer Window, Das Fenster zum Sommer
Regie
Hendrik Handloegten
Darsteller
Christoph Bach, Mike Adler, Ernst Stötzner, Barbara Schnitzler, Barbara Philipp, Susanne Wolff
Kinostart:
Deutschland, am 03.11.2011 bei Prokino Filmverleih
Kinostart:
Österreich, am 18.11.2011 bei Polyfilm
Kinostart:
Schweiz, am 22.12.2011 bei Filmcoopi
Genre
Drama
Land
Deutschland, Finnland
Jahr
2011
FSK
ab 12 Jahren
Länge
96 min.
IMDB
IMDB
|0  katastrophal
brillant  10|
7,0 (Filmreporter)
Es gibt noch keine Userkritik!
Fesselndes Drama mit Nina Hoss auf Zeitreise
Eine Frau (Nina Hoss) und ein Mann fahren in einem Auto auf der Landstraße. Später sind sie in einem Hotelzimmer, oder - der weitere Verlauf der Handlung legt dies nahe - auf einem Kreuzfahrtschiff. Die beiden sind frisch verliebt, das zeigen die ersten Bilder schnell. In einer weiteren Szene machen sie Rast an einem See. Der Mann springt nackt ins Wasser und bleibt anschließend viel zu lange unter Wasser. Die Frau erschrickt, stürzt sich mit großer Panik hinterher, im Glauben, er sei ertrunken. Es ist aber nur ein albernes Spiel. Später sagt sie ihm, dass sie Angst gehabt habe, ihn für immer zu verlieren.

Das morbide Spiel am See und die ahnungsvollen Worte der Protagonistin ind en ersten Szenen von "Fenster zum Sommer" lassen die Fragilität der Liebesbeziehung spüren. Dass die Angst nicht unbegründet ist und ihr Verhältnis tatsächlich bedroht ist, machen die darauf folgenden Ereignisse deutlich. Als Juliane, so der Name der Frau, am nächsten Morgen aufwacht, ist alles anders. Sie ist nicht mehr in Finnland im Urlaub, wo sie ihren Vater besuchen wollte, sondern in Berlin. Sie wacht nicht an der Seite von August (Mark Waschke) auf, die sie begleitete, sondern von Philipp (Lars Eidinger), den sie vor sechs Monaten wegen August verlassen hatte. Es ist nicht mehr Sommer, sondern Winter - ein halbes Jahr vor der letzten Nacht!

Es ist diese fantastische Ausgangssitutation, mit der Regisseur Hendrik Handloegten seinen dritten Spielfilm beginnt. Juliane erlebt den Zeitsprung in die Vergangenheit und muss die letzten sechs Monate erneut durchleben. Handloegten nimmt das Unerklärliche als Tatsache hin, ohne es zu erklären, und das macht seinen ambitionierten Film letztlich so sympathisch. Fragen, was mit Juliane passiert ist, wie und warum sie in der Vergangenheit gelandet ist, interessieren den Zuschauer im Grunde auch nicht. Ab dem Moment, als sich das Phänomen ereignet, ist er permanent an der Seite der Protagonistin. Und diese hat nur einen Gedanken, nämlich wieder an jenen Punkt zurückzugelangen, wo sie so glücklich war. Das bedeutet zunächst, alle Handlungen genauso ein weiteres Mal zu durchleben: mit Philipp Schluss machen, mit August in der Bahn zusammenstoßen, ihn erneut im Café zu treffen, ihn anzulächeln und ihn schließlich ansprechen. Das bedeutet auch, den Unfalltod ihrer Freundin Emily (Fritzi Haberlandt) in Kauf nehmen. Denn dieses Ereignis brachte sie mit August zusammen. Oder gibt es einen anderen Weg, einer, der das Geschehene ungeschehen machen und doch zu August führen kann? Man könnte doch tun, was man will, sagt Emilys kleiner Sohn Otto (Lasse Stadelmann) der verdutzten Juliane eines Abends. Hauptsache man tut im entscheidenden Moment das Richtige. Doch so leicht lässt sich das Schicksal nicht austricksen, oder?
Die Grundkonstellation von Hendrik Handloegtens "Fenster zum Sommer" berechtigt den Vergleich mit Tom Tykwers "Lola rennt". Beide Filme lassen ihre Protagonistinnen mehrmals einen bestimmten Lebensabschnitt durchleben, mit dem Unterschied, dass bei Tykwer die Wiederholung des bereits Erlebten ohne, bei Handloegtens mit dem Wissen der Protagonistin passiert. Tykwer springt in der Zeit zurück und taucht dabei in das frühere Bewusstsein seiner Protagonistin ein, um über das Erzählen des Gleichen zu einer Reflexion über Zufall und Schicksal zu gelangen. Handloegten versetzt seine Figur in die Vergangenheit, lässt ihr aber das Wissen über das bereits Erlebte. Auch wenn der Weg bei ihm anders verläuft, am Ende interessiert sich Handloegten für dieselben Fragen wie Tykwer: Ist unser Leben unabänderlich vorbestimmt oder ist das Schicksal nur eine Folge von zufälligen, variablen Ereignissen und damit relativ? Die erste Frage bejaht Handloegten, die zweite Tykwer.

Drei Mal lässt Tykwer seine Protagonistin das Gleiche erleben und drei Mal kommt er zu unterschiedlichen Ergebnissen. Da braucht nur eine kleine Variable im Zusammenspiel zufälliger Ereignisse verrückt werden, um dem Leben eine andere Richtung zu geben. Ein Junge stellt in der ersten Variation des Geschehens Lola ein Bein, sie fällt, kann danach nur mühsam laufen und schon ist das Ende ihrer Geschichte umgeschrieben. In der zweiten Wiederholung springt Lola über das Bein und ändert damit wiederum den Verlauf ihres Schicksals. Um dessen Abhängigkeit vom Zufall zu demonstrieren, schneidet Tykwer Lolas Geschichte mit der jener Menschen zusammen, denen sie begegnet. Auch deren Lebensweg ist abhängig von der Begegnung mit Lola, deren Schicksal an veränderbaren Variablen hängt. Was Tykwer in der Variation des Gleichen abhandelt, ist den Gedanken von der Unfreiheit des Menschen. Sein Schicksal ist zwar nicht vorherbestimmt, dennoch ist sein Leben abhängig von Ereignissen und Geschehnissen, die vom Zufall dirigiert werden. Dass der Junge Lola ein Bein stellt oder diese später über das Bein springt, ist keine willentliche Entscheidung, sondern Zufall.

Handloegten hat einen anderen Schicksalsbegriff. Für ihn ist Schicksal ein starres, unabänderliches Konstrukt. Die Lebensvariablen können variieren, am Ende ist das Ergebnis dasselbe. Das lernt im Laufe des Films auch Handloegtens Protagonistin Juliane. Um an das erwünschte Ende zu gelangen, versucht sie zunächst, exakt die gleichen Schritte zu gehen, wie zuvor. Schließlich erkennt sie, dass Lebenswege festgelegt sind und ein Handeln dagegen unmöglich ist. Mag Juliane ihrer großen Liebe August nicht wieder im Bus begegnen und nicht vor dem Café, als sie sich verzweifelt über ihre verunglückten Freundin beugt, so werden sich ihre Lebenswege eben woanders kreuzen. Am Ende kommt Juliane mit dieser Einsicht zur Ruhe. Die Verzweiflung, dass sich ihr Schicksal nicht erfüllen wird, schwindet. Da liegt nichts Egoistisches in diesem Verhalten. Die Erkenntnis von der Unabänderlichkeit des Schicksals hat eben auch etwas Tröstliches an sich.

Handloegten ist mit "Fenster zum Sommer" ein beachtliches Werk gelungen. Die inhaltliche Substanz wird von einem visuell und erzählerisch bestechenden Film getragen. Die Dreharbeiten für die Sommerszenen fanden in Finnland statt, die Winterszenen wurden in Berlin und Leipzig gedreht und in den Bildern von Peter Przybylski ist der stimmungsvolle Sommer des Nordens wie der eisige Winter durchaus zu spüren. Auf virtuose Weise gelingt Handloegten zudem ein narratives Vexierspiel, wenn er immer wieder die verschiedenen Zeiten und Erlebnisse miteinander austariert. In der zentralen Szene, in der Juliane mit ihrem Freund Schluss macht, weiß der Zuschauer nicht, auf welcher Zeitebene er sich gerade befindet. Handelt sich um eine Rückblende oder findet das Geschehen noch einmal statt? Eins ums andere Mal überhastet Handloegten ein wenig. Als Juliane in der Kantine einen Zusammenbruch erleidet, wirkt die Umsetzung überambitioniert; die Rettung in letzter Sekunde ist allzu reißerisch arrangiert. Insgesamt wiegen diese Schwächen im erzählerisch und formal überzeugenden Ganzen nicht schwer. Auch die rundum überzeugenden Darsteller und nicht zuletzt die großartige Musik von Timo Hietala machen "Fenster zum Sommer" zu einem mehr als sehenswerten Drama.
Willy Flemmer, Filmreporter.de
Videoclip: Fenster zum Sommer
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