Die Invasion der Barbaren
Zwei Goldene Palmen
Feature: Das Sterben - ein Fest
Es geht ums Sterben. Aber es dauert eine ganze Weile, bis der Zuschauer das realisiert, denn der Protagonist hat zwar einen vom Krebs zerfressenen Körper, aber sein Geist ist noch lange nicht bereit, mit dem Leben abzuschließen. Monsieur Rémy (Rémy Girard) poltert und räsoniert, flirtet und streitet, reißt Zoten, hält Vorträge und starrt den Krankenschwestern auf die Schenkel. Keine Spur von stillem Siechtum oder abgeklärter Einkehr.
erschienen am 25. 11. 2003
Rémy Girard auf dem Sterbebett
Die medizinische Diagnose lässt dennoch keinen Zweifel zu. Und so ruft Rémys Ex-Frau den gemeinsamen Sohn Sébastien (Stéphane Rousseau) aus dem fernen London herbei nach Kanada, damit er seinem Vater beim Sterben beisteht. Der, pensionierter Geschichtsprofessor und Sozialist aus Überzeugung, ist davon nicht besonders begeistert, hält er doch seinen Spross, den erfolgreichen Börsenmakler und unkritischen Kapitalisten, für missraten. Doch auch wenn Sébastien noch nie in seinem Leben freiwillig ein Buch gelesen hat, entpuppt er sich doch in den letzten Tagen seines Vaters als guter Sohn. Sein Einfühlungsvermögen, sein Manipulations-Talent und nicht zuletzt auch sein unerschöpfliches Bankkonto ermöglichen es ihm, dem Vater einen angemessenen Abschied zu bereiten. Er besticht die Verwaltung de Krankenhauses, um eine ganze Etage für den Patienten mieten zu können, er engagiert eine drogenabhängige Frau, die Rémys Schmerzen mit Heroin lindert, und er ruft alle Freunde des Kranken zusammen, damit sie sein Sterben genauso bereichern wie sein Leben.

Es ist eine bunte Runde, die sich da am Sterbelager des alten Trink- und Bett-Gefährten versammelt: in die Jahre gekommene Hedonisten, eloquente Intellektuelle, respektlose Spötter und doch herzensgute Menschen. Jede der Figuren bringt ihre eigene Geschichte mit, die sich erst nach und nach herausschält, Schicksale, Brüche, Lebenslügen, ineinander verwoben und doch einzigartig. Denys Arcand, dem Regisseur und Autor von der "Invasion der Barbaren", ist es gelungen, über die Hauptfigur hinaus ein ganzes Panoptikum interessanter, differenziert gezeichneter Figuren zu erschaffen - ohne, dass sich der Plot deshalb verzettelt. Vollkommen verdient erhielt er dafür in Cannes die Goldene Palme für das beste Drehbuch. Dass dieselben Figuren, 17 Jahre jünger, mit denselben Darstellern schon 1986 in Arcands äußerst erfolgreichem Film "Der Untergang des amerikanischen Imperiums" zu sehen waren, sei an dieser Stelle erwähnt. Wirklich wichtig ist es aber nicht. "Die Invasion der Barbaren" ist, auch wenn sie sich desselben Personals bedient wie das "amerikanische Imperium", keine Fortsetzung, sondern ein eigenständiger Film, der auch solchen Menschen etwas zu bieten hat, die noch nie etwas von Denys Arcand gesehen oder gehört haben.
Vater und Sohn kommen sich erst beim Sterben näher: Stéphane Rousseau, Rémy Girard
Das ist natürlich nicht allein das Verdienst des Regisseurs und Autors. Unterstützt wurde Arcand von einer ganzen Reihe exzellenter kanadischer Darsteller - allen voran in einer sehr dankbaren Rolle Denys Arcand als sterbender Lebemann und Zyniker. Als Spezialist der leisen Töne präsentiert sich der Darsteller des Sébastien: Stéphane Rousseau, der seine Vielseitigkeit bereits als Comedian, Tänzer, Schlagersänger, Musiker, Radio-Moderator, Bildhauer und Maler unter Beweis stellte. Und für die Darstellung der drogenabhängigen Nathalie, die durch ihre zunächst bezahlten Dienste lernt, Verantwortung zu übernehmen, und so selbst vom Heroin wegkommt, wurde Marie-Josée Croze in Cannes als Beste Darstellerin ausgezeichnet.

Es soll nicht verschwiegen werden: Der Film hat auch ein paar Schwächen. Eine ist, dass Arcand ihn ein wenig gewaltsam theoretisch unterfüttert hat. Er sieht den Untergang der westlichen Zivilisation, die mit Dante und Montaigne begann, herannahen und prophezeit die Herrschaft der Barbaren (zu denen Rémy bereits seinen eigenen Sohn, den Börsenmakler, zählt). Weiterhin darf ein kanadischer Film natürlich nicht auf die Kritik des übermächtigen Nachbarn USA verzichten, und der 11. September musste auch noch untergebracht und metaphorisch bearbeitet werden. Wer gerne in solche Richtungen interpretiert, dem sei das Vergnügen gegönnt, er hat den Autor des Films auf seiner Seite. Wer nicht, der kann sich auf einen zutiefst menschlichen Film freuen. Einen Film über das Sterben, der komisch ist und traurig, grotesk und anrührend, banal und pathetisch, einfach und kompliziert - wie das Leben selbst.
erschienen am 25. November 2003
Zum Thema
Denys Arcand hat sich für die Fortsetzung seines viel gefeierten "Untergang des amerikanischen Imperiums" viel Zeit genommen. Nach immerhin 17 Jahren hat er die damaligen Protagonisten erneut um sich versammelt. Das Ergebnis ist ein hintersinniges Drama mit viel Witz und einem ungewöhnlichen dramaturgischen Konzept.
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