Filmfest München
Jasmin (Anne Schäfer) muss sich einiges klar machen
Leiser Drama, große Wirkung
Feature: "Jasmin" ergründet ungeheure Tat
Jan Fehse setzt in "Jasmin" zwei Personen in ein Zimmer und lässt sie über die Vergangenheit sinnieren. Mehr passiert in seinem Drama nicht. Und doch ist ihm dabei ein Film gelungen, der bei aller formalen Sparsamkeit ein unerhörtes Thema behandelt. Es geht um nichts weniger als den Mord an einem Kind - begangen von seiner eigenen, verzweifelten Mutter.
erschienen am 3. 06. 2012
Filmfest München
Wiebke Puls und Anne Schaefer in "Jasmin"
Verzweiflung einer Mutter
Sie hat das Unfassbare, kaum Vorstellbare getan: Sie hat ihr Kind getötet. Den Menschen, den sie über alles liebte, dem ihr ganzes Herz gehörte. Sie, die so verzweifelt war, die alles verloren hatte, was man nur verlieren konnte. Weil sie im Leben alles falsch machte, sagt sie einmal. Weil sie eine Verliererin ist. Nun ist sie in einer psychiatrischen Klinik. Bevor über sie gerichtet werden kann, muss nicht nur der Tathergang geklärt werden, sondern auch die Ursachen, die sie zu dieser verleiteten.

Im karg eingerichteten, kalten und unpersönlichen Zimmer der Anstalt setzt Jan Fehses leises und an formaler Sparsamkeit kaum zu überbietendes Kammerspiel "Jasmin" ein. Nach der schrecklichen Tat also, nach den niederschmetternden Erlebnissen und Enttäuschungen die Jasmin (Anne Schäfer) Zeit ihres Lebens erfahren hat. Das Leben selbst, die schönen und die bitteren Erfahrungen, die schreckliche Tragödie werden von der Kamera nicht gezeigt. Sie werden von der Täterin geschildert und finden damit ausschließlich im Kopf des Zuschauers statt.

Das ist das wunderbare und spannende minimalistischen Konzept Fehses. Trotz der Beschränkung auf den einen Raum und die übersichtliche Personage ist sein Film voller visueller Eindrücke, erscheint das Leben in seiner ganzen Kausalkette vor der inneren Leinwand des Zuschauers.
Filmfest München
Wiebke Puls als Psychiaterin
Vater und Mutter
Das funktioniert, weil Fehse seiner zweiten Protagonistin die richtigen Fragen mitgibt. Ihre Fragen dringen zum Kern von Jasmins Lebensgeschichte. Wiebke Puls hat als Dr. Feldt diesen Explorations-Auftrag übernommen und sie erledigt ihn mit der ganzen Reserviertheit ihrer Person und der trockenen Rationalität von deren Berufsstand.

So dauert es nicht lange, bis sich die ersten Konturen der Lebens- und Leidensgeschichte Jasmins herausbilden. Bald wird das Gespräch auf ihre Eltern gelenkt. Zum Vater, einem hart arbeitenden Mann, hat Jasmin ein inniges Verhältnis. Sie liebt ihn abgöttisch, verliert ihn aber sehr früh. Als kleines Kind habe sie oft im Bett ihrer Eltern geschlafen. Eines Morgens wacht sie auf und findet den Vater regungslos neben ihr liegen. Erst denkt sie, er spielt nur mit ihr, dann stellt sie fest, dass er gestorben ist. Ein traumatisches Erlebnis für die Kleine und die erste Begegnung mit dem Tod. Zur Mutter hat sie danach ein gespaltenes Verhältnis, nicht zuletzt, weil diese ihr zeitlebens die Schuld für den Tod des Vaters gibt.
Tobias Röhring/Ricore Text
Jan Fehse
Kalte Männerwelt
Dann werden Jasmins Männergeschichten angesprochen. Auch diese sind eine Aneinanderreihung von Enttäuschungen und Verletzungen. Da ist der junge Musiker, für den die 17-Jährige die Schule schmeißt und der sie schließlich mit einem Groupie betrügt. Oder Benno, der ihr gemeinsames Kind nicht haben will und auch nach der Geburt sich nicht um dieses kümmert. Auch diese Beziehung scheitert.

Dazu kommen die beruflichen und finanziellen Frustrationen. Jasmin eröffnet ein Café und stürzt sich in Schulden. Als sie die Miete nicht mehr bezahlen kann, steht sie mit ihrem herzkranken Kind auf der Straße. Notgedrungen muss sie bei ihrer Mutter einziehen, die ihr noch immer Schuldzuweisungen macht. Das ist der Zeitpunkt, an dem sie zum ersten Mal an Selbstmord denkt - und daran, ihr Kind mitzunehmen. Ein Gedanke, der ihr endlich Frieden bringt.
Tobias Röhring/Ricore Text
Regisseur Jan Fehse mit den Darstellerinnen Wiebke Puls und Anne Schäfer am Set von "Jasmin"
Leises Drama der Andeutungen
Fehse nähert sich seinen Thema behutsam. Lange lässt er die Tat unausgesprochen in der Schwebe zwischen den Protagonisten. Der Zuschauer kann nur ahnen, was Jasmin getan hat, kann die Tat allenfalls in den Andeutungen, den kleinsten Reaktionen der Protagonisten ablesen. Wenn diese dann vor seinem geistigen Auge in ihrer ganzen Plastizität erscheint, ist er umso bestürzter.

Dass Fehse und sein Drehbuchautor Christian Lyra die Vorgeschichte der Tat rekapitulieren lassen, macht diese nicht weniger schlimm. Auch sollen sie mit den kausalen Zusammenhängen keinesfalls seine Protagonistin verteidigen, sie von jeder Schuld freisprechen. Vielmehr wollen sie erklären, darauf aufmerksam machen, dass hinter jeder schrecklichen Tat auch eine schreckliche Geschichte stecken kann, eine grenzenlose Verzweiflung. Damit befreien sie Jasmin zugleich von jeder Monströsität. Das ist das besonders Beklemmende am Film: dass ausgerechnet sie, das normale, unauffällige Mädchen - eine Jederfrau - zu einer so unmenschlichen Tat fähig sein konnte. Die Bestürzung des Zuschauers hat letztlich auch darin ihre Ursache. Ihm wird unwillkürlich bewusst, dass auch er dort am Tisch sitzen hätte sitzen könne - angeklagt und verzweifelt wegen der Riesenschuld auf dem Gewissen.
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Jasmin
Nuancierte Darstellungskunst
Dass Fehses Drama aufgeht liegt nicht nur am Fehlen des Filmischen, wodurch sich der Fokus ganz auf das Gespräch und seinen Inhalt richtet. Ihren Anteil haben auch die großartigen Darsteller. Anne Schäfer macht auf faszinierende Weise die ganze Tragweite eines verzweifelten Charakters deutlich, zeigt jede Nuance seines emotionalen Spektrums, ohne ins Pathetische abzudriften. Wiebke Puls gelingt es, die harte Schale einer sich hinter ihrem Beruf versteckenden Ärztin aufzubrechen und den Menschen sichtbar zu machen.

Dass dies der Schauspielerin letztlich nicht ganz gelingt, liegt weniger an ihr, als an der konzeptionellen Entscheidung Fehses und Lyras. Sie konzentrieren sich ganz auf den Menschen hinter der Mörderin und vernachlässigen darüber den Menschen hinter der Ärztin. Sie habe den Fall angenommen, weil sie neugierig ist, so Dr. Feldt Jasmin. Später erfährt der Zuschauer, warum das so ist. Auch sie ist schwanger. Die Exploration hat für sie also auch eine persönliche Bedeutung. Doch welche Erkenntnisse zieht sie aus der Begegnung mit Jasmin? Was geht im Kopf einer werdenden Mutter vor, während sie mit einer Kindsmörderin konfrontiert ist?

Mag sein, dass Fehse und Lyra mit der Weigerung, die Ärztin psychologisch zu konturieren, sich an die realen Situation eines Psychiater-Patient-Verhältnisses orientieren. Das wäre hinnehmbar, würden sie nicht einige Male den Schauplatz wechseln und Dr. Feldt auch außerhalb der Klinik zeigen. Abgesehen davon, dass sie die Ortswechsel als Auflockerung der starren Kammerspiel-Dramaturgie benutzen, rücken sie hier auch ansatzweise den Menschen hinter der Ärztin ins Bild. Was diesen aber auszeichnet, das bleibt bis zuletzt unklar.
erschienen am 3. Juni 2012
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Jasmin (Kinofilm)
Jasmin (Anne Schäfer) hat ihre kleine Tochter getötet. In der psychiatrischen Anstalt wird sie von Dr. Feldt (Wiebke Puls) befragt. Die will den Tathergang rekonstruieren und die Ursachen klären, die zu der Tragödie führten. Bei den Gesprächen erfährt die Psychiaterin, dass Jasmins Handlung eine Folge zahlreicher Enttäuschungen war. Jan Fehses brillant gespieltem Kammerspiel "Jasmin" gelingt es, mit den sparsamsten Mitteln den Zuschauer zu erschüttern und zum Nachdenken anzuregen.
Bis 1997 studiert Wiebke Puls an der Hochschule der Künste in Berlin. Die 1973 geborene Nordfriesin macht ihr Schauspiel-Diplom mit Auszeichnung. Danach gehts an das Schauspielhaus Hannover bis sie 2000 zum Schauspielhaus in Hamburg wechselt. Seit 2005 ist sie festes Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele.Strong Shit" gibt sie ihr Debüt in einem Fernsehfilm. 2011 ist sie an der Seite von Oliver Korittke in Marcus H. Rosenmüllers "Sommer in Orange" zu sehen. Im selben Jahr überzeugt sie als..
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