Kinowelt
Deutschland. Ein Sommermärchen
Wenn die Realität zum Märchen wird
Feature: Geschichte eines Sommers
"Jedem Ende wohnt ein Anfang inne", sagte Hermann Hesse vor langer Zeit. Das Zitat taugt als Grundprinzip in vielen Lebenslagen. Ob als Trost nach dem Scheitern einer Liebesbeziehung oder als Leitmotiv der Dokumentation über eine Fußballmannschaft - es passt einfach! Der ehemals verzückten Nation wird in einer solchen der tragisch geplatzte Traum zitatgerecht serviert. Niemand kann die Vergangenheit verändern. Doch es ist möglich, durch den Wechsel der Perspektive die historischen Ereignisse aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Durch Nähe entsteht Vertrautheit - dieses Mal ist man so nah dran wie selten zuvor. Ein Schlüssellochreport zur Befriedigung des voyeuristischen Triebs und zugleich Renaissance der sonnigen Emotionen, deren Leichtigkeit nachvibriert.
erschienen am 16. 02. 2024
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Teamchef Jürgen Klinsmann motiviert die deutsche Elf
Sommermärchen kehrt nach Deutschland zurück
Der französische Filmemacher Stéphane Meunier hat 1998 die französische Nationalmannschaft während der Weltmeisterschaft im eigenen Land begleitet. Frankreich wurde Weltmeister und die Dokumentation ein großer Erfolg. Von dem Film fasziniert, realisiert der deutsche Filmemacher Sönke Wortmann 2006 ein ähnliches Projekt in Deutschland. An dem vorzeitigen Halbfinal-Aus gegen Italien nimmt sein Projekt keinen Schaden. In seiner Arbeit "Deutschland. Ein Sommermärchen" stellt er das Innenleben der heimischen Equipe in den Vordergrund. Dabei kommentiert Wortmann weder das Geschehen noch tritt er persönlich seinem Film auf. Seine Zurückhaltung und die dargestellte Nähe zu den Spielern bringen den Zuschauer in die Perspektive eines imaginären Mannschaftsmitglieds

2024 kommt der internationale Fußball wieder nach Deutschland. Daher ist es Zeit, sich an die ausgelassene Fußballfeste der vergangenen Meisterschaften zu erinnern. Zuvor erfreuen sich die Fans an der ungewohnt spannenden Bundesligasaison, einer der unvorhersehbarsten seit vielen Jahren. Zuvor erfreuen sich die Fans an der ungewohnt spannenden Bundesligasaison, einer der unvorhersehbarsten seit vielen Jahren. Welcher Verein wird der erdrückenden Dominanz von Bayern München gerecht? Manche werden auf ihren Verein wetten und verfolgen die Bundesliga Wettquoten akribisch. Im Sommer treten dann die besten Spieler der europäischen Teams in der Europameisterschaft gegeneinander an. "Deutschland. Ein Sommermärchen" ist für die Fans genau der richtige Film, um sich Stimmung zu bringen.

Die szenischen Abläufe sind nicht streng chronologisch gegliedert. Wiederholt werden sie durch Statements und Interviews unterbrochen. Teammanager Oliver Bierhoff rekapituliert etwa die Ereignisse am Schreibtisch. Jogi Löw erläutert im rosa Kapuzenshirt seine persönliche Fußballphilosophie. Sowohl die Spieler als auch Team-Unterstützer wie der Busfahrer, der Masseur und der Zeugwart kommen situationsbedingt zu Wort. Die Handkamera-Bilder werden durch das reduzierte Licht unterstützt, was den Urlaubsfilm-Charakter der Dokumentation unterstreicht.
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Tim Borowski freut sich über den Sieg
Das Beste kommt noch
Die idyllische Vorbereitungszeit auf das Großereignis in abgeschiedener Umgebung bildet das dramaturgische Spannungsaufbaumodul vor dem ausufernden Höhepunkt. Ähnlich wie beim Untergang der Titanic weiß man: Das Beste kommt noch. Wortmann wurde im Laufe der Zeit zu einem festen Mitglied der deutschen Mannschaft. Der ehemalige Fußballprofi hat einen guten Draht zu den Spielern gefunden, was an ihrem legeren und vertrauten Auftreten vor der Kamera abzulesen ist. Auf die übliche Sportschau-Rhetorik wird weitgehend verzichtet. Statt dessen neue Einblicke in Kabine, Hotelanlage und Mannschaftsbus gewährt.

Von der Rezeption jahrzehntelang kritisiert, waren es jugendliche Leser und Kritiker aus den USA, die zu Anfang der 1960 einen wahren "Hermann Hesse-Boom" in Deutschland auslösten. Auch die heimische Fußballnation wurde im Sommer 2006 durch die Amerikanisierung von Trainingsmethode und Motivation aus ihrem Tiefschlaf geweckt. Die Wiederentdeckung und Neuinterpretation von lange Bewährtem funktioniert interdisziplinär.
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Ein aufreibender Job für Kotrainer Jogi Löw
Slapstick-Duo Schweinsteiger/Podolski
Einer Tierfilmproduktion ähnlich nähert sich die Kamera dezent den Protagonisten des Weltmeisterschaftverrückten Sommers. Oftmals mit ulkigen Konsequenzen. Stürmer Miroslav Klose ist beim Smalltalk mit der hoteleigenen Friseurin zu belauschen und das Slapstick-Duo Schweinsteiger/Podolski unentwegt in Sachen Schabernack unterwegs. Ganz nebenbei werden sagenumwobene Zettel in die Kamera gehalten und Faustschläge spitzbübisch eingestanden. Bundestrainer Klinsmann beweist seinen eigenen Sinn für Komik, indem er an seinem kalifornischen Luxuswohnort die deutsche Jammermentalität beklagt. Zudem überrascht der Übungsleiter während des Turniers mit Motivationsaussagen der zweifelhaften Art, wie: "Das lassen wir uns hier von niemandem nehmen; schon gar nicht von Polen!"
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Kindisch: Klassenclown Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger
Mythos Deutsche Weltmeistermannschaft 2006
Die sieben Fußballspiele der Mannschaft sind der Darstellung nur eine zeitlupenversetzte Nebenrolle wert. Vielmehr werden vom Regisseur Bilder mit Erinnerungen assoziativ verbunden und durch Musikuntermalungen effektiv unterstützt. Als unsichtbarer Begleiter enthüllt Wortmann Schritt für Schritt den Mythos Deutsche Weltmeistermannschaft 2006. Die Helden des Sommers werden in der Dokumentation wieder zu Menschen aus Fleisch und Blut reduziert. Rituale und Habitus der Gefeierten enthüllen sich von alleine auf recht gewöhnlichem Format. Die Übersteigerung der Ereignisse wird vom Filmemacher detailliert festgehalten und dadurch zugleich relativiert. Ob gewollt oder nicht, ist dies neben dem voyeuristischen Vergnügen die größte Leistung der Dokumentation. Das die Protagonisten während des Turniers die Werke des Literaturnobelpreisträger Hesse studiert haben, bleibt ein Gerücht. Man kann also wieder beruhigt schlafen, denn mit diesem höchst unterhaltsamen Gesamtüberblick, wird der Mannschaft das Attribut verliehen was ihr sportlich versagt blieb: weltmeisterlich!
erschienen am 16. Februar 2024
Zum Thema
Die Geschichte eines Sommers. Millionen liegen sich vor Freude in den Armen. Gemeinsam wagen sie den Traum vom Weltmeistertitel. Sönke Wortmann dokumentiert die Entwicklung der Mannschaft und schildert aus dem Blickwinkel der Akteure die Geschehnisse. Es gelingt ihm dabei, die märchenhafte Atmosphäre des Sommers 2006 zu konservieren.
Fußball gehört zu Sönke Wortmanns großen Leidenschaften. Als Junge träumte er davon, Profispieler zu werden. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 begleitet er die deutsche Nationalmannschaft bei ihrem Kampf um den Titel. Das Ergebnis ist die Doku "Deutschland. Ein Sommermärchen". Als seinen besten Film bezeichnet er selbst jedoch "Das Wunder von Bern", der sich ebenfalls um Fußball dreht.Die Päpstin", ein Film über die Legende um Papst Johannes Anglicus, der eine Frau gewesen sein soll. Mit..
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