Sascha Hilpert
Wolfgang Lötzsch
"Ich dachte, die können nicht auf mich verzichten"
Interview: Wolfgang Lötzsch über ein Leben im Abseits
Wolfgang Lötzsch ist eine deutsche Radsport-Legende. Er hat es nie zu den großen Rennen geschafft. Nicht weil er in dem Sport zu schlecht war, sondern weil er sich gegen die DDR-Politik und die Machenschaften der Stasi auflehnte. Täglich trainierte er mehrere Stunden. Er fuhr im Regen, im Schnee und im Dreck, während seine systemkonformen Kollegen im sonnigen Ausland in Trainingslagern waren. Als er wegen Staatsverleumdung mehrere Monate ins Gefängnis musste, hielt er seinen Körper mit 5.000 Kniebeugen pro Tag fit. Die Dokumentation "Sportsfreund Lötzsch" von Sascha Hilpert und Sandra Prechtel erzählt die Geschichte seines revolutionäres Lebens. In einem entspannten Gespräch sprach der 55-Jährige über seine damaligen Beweggründe und liefert interessante Hintergründe zum Film.
erschienen am 21. 07. 2008
MFA+
Sportsfreund Lötzsch
Filmreporter.de: Die meisten Ihrer Kollegen sind vor der Olympiade 1972 ohne lange zu überlegen in die SED eingetreten. Das war eine Voraussetzung für die Teilnahme. Warum haben Sie das nicht gemacht?

Wolfgang Lötzsch:: Ich war mit einigen Sachen nicht einverstanden. Die zensierte Musik ist nur ein Beispiel. Man hat nicht das bekommen, was man wollte oder dringend brauchte. Eine Zeitlang war ja bei fast Allem ein Engpass. Das war der Grund.

Filmreporter.de: Was dachten Sie, würde passieren, wenn Sie nicht eintreten?

Lötzsch:: Ich dachte, das gar nichts passieren wird. Dass die nicht auf mich verzichten können, weil ich eine überdurchschnittliche Leistung erbracht habe.

Filmreporter.de: Sie waren sich also nicht über die Konsequenzen bewusst?

Lötzsch:: Genau, so weit habe ich nicht gedacht. Mit 18 Jahren sieht man das alles etwas anders.

Filmreporter.de: Wenn Sie sich jetzt im Nachhinein noch einmal entscheiden könnten, würden Sie es noch einmal genau so machen? Oder war der Preis für Sie zu hoch?

Lötzsch:: Jetzt würde ich mit den Wölfen heulen. Im Nachhinein muss ich schon feststellen, dass ich Vieles versäumt habe und man mir Vieles genommen hat. Man hat mir eigentlich das ganze Leben genommen. Es ist ungefähr das gleiche Schicksal wie das von Jan Ulrich. Aber der hat immerhin Millionen gemacht, bevor er des Dopings beschuldigt worden ist. Es ist ja immer noch nicht nachgewiesen, dass er etwas gemacht oder genommen hat. Es ist noch immer keine hundertprozentige Entscheidung getroffen, ob er schuldig oder nicht schuldig ist.
Ann-Catherin Karg/Ricore Text
Wolfgang Lötzsch
Filmreporter.de: Insgesamt betrachtet hat es Sie aber doch härter getroffen…

Lötzsch:: Ja, er hatte seine Schäfchen ja schon im Trockenen. Mir wurde von heute auf Morgen gesagt, es ist Schluss. Aber ich habe dann noch 17 Jahre gegen das System gekämpft.

Filmreporter.de: Sie haben trotzdem immer weiter trainiert. Wann haben Sie gemerkt, dass das System Sie nie wieder aufnehmen wird und dass Sie nie wieder zu den Leistungssportlern der DDR gehören werden?

Lötzsch:: Nach etwa zehn Jahren habe ich kapiert, dass es keine Chance mehr gibt. Werner Marschner hat sich noch für mich eingesetzt, hat Anträge an den Ministerrat geschrieben. Aber es wurde alles abgelehnt. Irgendwann kommt die Zeit, in der es vom Alter her nicht mehr funktioniert.

Filmreporter.de: Aber trainiert haben Sie trotzdem. Wie haben Sie sich all die Jahre motiviert?

Lötzsch:: Ich habe trainiert wie ein Ochse. Das Ganze hat immer mehr Wut in mir hervorgerufen und ich habe mir gesagt: "Dann erst recht".

Filmreporter.de: Wollten Sie keinen anderen Beruf erlernen?

Lötzsch:: Es ist ja kein Beruf. Es ist Radsport. Es gab damals keinen Profi-Sport. Jene im Leistungszentrum wurden zwar vom Staat bezahlt, aber den Profi-Sport gab es in der DDR nicht. Ich war besessen davon und bin auch nicht davon losgekommen.

Filmreporter.de: Wie sind die anderen Radsportler mit Ihnen umgegangen, wenn Sie bei Rennen zusammen kamen?

Lötzsch:: Ich bin mit den meisten sehr gut ausgekommen. Sie haben meine Leistungen anerkannt und gewürdigt. Nach dem spektakulären Sieg in Berlin wurden zwei aus der ersten Reihe abbestellt, die nur bei mir bleiben mussten. Sie wurden für internationale Wettkämpfe ausgegliedert, das war eine Disziplinar-Maßnahme.
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Eine Szene aus "Sportsfreund Lötzsch"
Filmreporter.de: Haben die Anderen Sie beneidet, weil Sie sich etwas trauten, was die anderen sich nicht getraut haben?

Lötzsch:: Ja, vielleicht haben sie mich beneidet, aber nur wegen meines Talentes. Ich hatte Talent und musste etwas tun. Und wenn ich etwas tat, dann kam es auch an. Es gibt Menschen, die können machen was sie wollen. Die können Tag und Nacht trainieren und dabei wahnsinnig werden. Und nichts kommt dabei heraus. Die eignen sich einfach nicht dazu. Ich habe mich dazu geeignet. Ich hätte die dementsprechenden Erfolge gehabt. Aber ich habe auch die Anderen beneidet. Die haben im Winter in Kuba, Äthiopien und Mexiko trainiert, während wir im Dreck durch die Kälte gefahren sind.

Filmreporter.de: Haben Sie alleine trainiert?

Lötzsch:: Ja, die meiste Zeit habe ich alleine trainiert. Weil die anderen bis um vier Uhr in der Arbeit waren und erst danach Sport machen durften. Sie wollten es sich nicht antun, so viel zu trainieren. Sie hatten auch nicht das Talent dazu, mehr daraus zu machen. Sie waren nach der Arbeit meistens so fertig, dass sie fast gar nichts mehr machen konnten.

Filmreporter.de: Was glauben Sie, warum keiner Ihrer zahlreichen Ausreiseanträge bewilligt wurde?

Lötzsch:: Die Staatssicherheit hat mir damals gesagt, dass sie mich nicht gehen lassen, weil sie sich die Medaillen nicht wegnehmen lassen.

Filmreporter.de: Aber so richtig große Medaillen konnten Sie für die ja gar nicht gewinnen…

Lötzsch:: Nein, wenn ich in die BRD gekommen wäre, hätte ich für die BRD die Medaillen gewonnen und der DDR wären Sie verloren gegangen. So hat man das damals gesehen.

Filmreporter.de: Haben Sie einmal daran gedacht, einfach abzuhauen?

Lötzsch:: Nein, das war mir zu riskant. Da wäre man dann mit einem Bein im Grab gestanden. Sie hätten meiner Familie das Leben zur Hölle gemacht. Meine Eltern waren auch schon ziemlich alt. Meine Mutter war sehr sensibel, das wäre ihr Ende gewesen.
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Wolfgang Lötzsch mit Kamerawagen
Filmreporter.de: Können Sie kurz erzählen, wie es zur Verurteilung wegen Staatsverleumdung kam?

Lötzsch:: Naja, wir waren bei einem Polterabend. Als wir nach Hause gegangen sind, ist die Polizei gekommen und hat uns der Randale beschuldigt. Wer mich kennt, der weiß, wenn ich etwas getrunken habe, schlafe ich eher ein als dass ich aufsässig werde. Wir sollten ein Ordnungsgeld bezahlen, aber das habe ich nicht gemacht. Das war die Zeit von Wolf Biermann, ich habe mich auf ihn bezogen und gesagt: "Hier ist sowieso alles Scheiße, hier hat man überhaupt keine Rechte!" Das wars dann. Für Staatsverleumdung gab es einen eigenen Paragrafen und die Strafe ging bis zu zwei Jahre.

Filmreporter.de: Was war das Schlimmste im Gefängnis?

Lötzsch:: Die Einsamkeit. Und nichts machen zu können.

Filmreporter.de: Wie haben Sie die Tage verbracht?

Lötzsch:: Ich war ein halbes Jahr auf acht Quadratmeter in U-Haft. Neonlicht, kein Fenster, keine Uhr, nichts. Ich habe mit Kniebeugen begonnen. Ich habe mich gesteigert auf vier bis fünftausend Stück täglich. Dazu habe ich vier bis fünfhundert Liegestützen täglich gemacht. Wir bekamen pro Tag zwei Zeitungen. Die "Freie Presse", das ist eine Lokalzeitung, und "Das neue Deutschland". Wir bekamen immer die Ausgabe vom Vortag. Natürlich hat man jedes Wort gelesen. Und pro Woche gab es ein Buch, das war alles.

Filmreporter.de: Wie war es für Sie, für die Dreharbeiten zurück zu kehren?

Lötzsch:: Ich war vor zwei Jahren schon einmal dort. Der WDR drehte einen Bericht über 20 Minuten. Mittlerweile hat aber der Gefängnisdirektor gewechselt und es ist alles anders geworden. Es gibt Fenster, die Ausgangshöfe wurden weggerissen. Man hatte am Tag 20 Minuten Freigang in einen kleinen Hof mit drei Meter Breite und fünf Meter Höhe, eingezäunt mit Maschendraht. Man hat in den Himmel geblickt, mehr konnte man nicht machen. Es gab auch Fälle, in denen Vater, Mutter und Kind in Zellen nebeneinander eingesperrt waren. Das haben die aber nicht gewusst, sondern erst später herausgefunden.
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Regisseurin Sandra Prechtel und Wolfgang Lötzsch
Filmreporter.de: Sie wurden von über 50 Leuten bespitzelt unter denen auch Ihr bester Freund war. Hat er sich jemals dazu geäußert oder sich entschuldigt?

Lötzsch:: Nein, und seitdem ich das wusste, kannte ich ihn nicht mehr. Sascha Hilpert und Sandra Prechtel waren bei ihm und wollten ihn in den Film einbauen, aber er wollte nicht, weil er seiner Familie nicht schaden will. Sein Argument war, dass er mich nur wieder auf die richtige Linie bringen wollte.

Filmreporter.de: Waren Sie vorher schon mit ihm befreundet?

Lötzsch:: Ja, seit meinem Rausschmiss, da bin ich an ihn herangetreten. Er hat mich ab und zu bei Dienstfahrten mit nach Berlin genommen. Einmal bin ich in die Ständige Vertretung der BRD gegangen, das haben sie mitgekriegt. Dann haben sie ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Bei Wolfgang Schoppe haben sie das auch gemacht, aber der hat gleich abgelehnt.

Filmreporter.de: Gab es nie wieder Kontakt zwischen Ihnen?

Lötzsch: Nein.

Filmreporter.de: Warum sind Sie 1985 doch noch in die SJD eingetreten?

Lötzsch:: Weil ich nicht arbeiten wollte. Ich wollte nur trainieren, den ganzen Tag. Ich wollte mit der Spitze mitfahren. Da muss man täglich sechs bis acht Stunden trainieren. Das ist eine Sportart, bei der man mit mehr noch viel mehr erreichen kann. Mit noch mehr quälen und noch mehr schinden. Und da ich nicht die Rundfahrten hatte, die die Nationalmannschaften und die Clubsportler machten, eine Reise nach Peking oder nach Frankreich - das gabs für mich nicht, musste man das mit Training ausgleichen. Das ging nicht nach der Arbeit um vier Uhr, der Tag hat nur 24 Stunden. Die hätten mir den Hahn zugedreht, wenn man mir immer arbeitsfrei gegeben hätte, wenn ich unter der Woche zu Wettkämpfen wollte. Irgendwann wird man älter und ruhiger und will nicht mehr nur auf Konfrontation leben.

Filmreporter.de: Hatten Sie noch mal die Hoffnung, dass Sie wieder bei den ganz großen Rennen mitfahren können?

Lötzsch:: Das durfte ich, aber nur in der DDR, im Ostblock. Auf Initiative von Wolfgang Schoppe durfte ich 1987 die DDR-Rundfahrt fahren. Die erste bin ich 1971 als Jugendfahrer gefahren, dazwischen liegen 16 Jahre! 16 Jahre durfte ich das nicht einmal im Inland machen, ganz zu schweigen von Spanien, Frankreich. Aber danach durften wir alles fahren. Das ist alles auf Kampf von Wolfgang Schoppe hin passiert.

Filmreporter.de: Haben Sie den Film schon gesehen?

Lötzsch:: Ja, schon vier Mal.

Filmreporter.de: Was empfinden Sie, wenn Sie Heinz Engelhardt sehen, der über Sie redet?

Lötzsch:: Er hat eben nichts gelernt. Aber gut, er verdient viel Geld damit.

Filmreporter.de: Was macht der denn?

Lötzsch:: Er hat in Berlin ein Reisebüro und verkauft den Leuten jetzt das, wofür er die Leute früher eingesperrt hat. Das geht nicht in meinen Kopf, wie so einer überhaupt so etwas aufmachen darf. Das hat in meinen Augen nichts mehr mit Demokratie zu tun. Das ist ein bisschen wie mit den unbestraften Nazis.

Filmreporter.de: Ich bedanke mich für das Interview.
erschienen am 21. Juli 2008
Zum Thema
In der DDR wurden Sportler extrem gefördert - zumindest solange sie erfolgreich waren und sich der Staatsführung unterordneten. Der Fall des Radsportprofis Wolfgang Lötzsch ist ein Paradebeispiel dafür, wie das System Karrieren von in Ungnade gefallenen Sportlern torpedierte. Lötzsch galt als Riesentalent, träumte von den Olympischen Spielen. Der SED wollte er jedoch nicht beitreten. Als sein Cousin in den Westen floh, war der Ofen aus.
Wolfgang Lötzsch hätte ein ganz Großer werden können. Anfang der 1970er Jahre ist er das vielversprechendste Talent des DDR-Radsports. Seine Teilnahme an den Olympischen Spielen ist so gut wie sicher. Doch dann macht er etwas, was einige für heldenhaft, andere für dumm halten: Er verweigert seinen Eintritt in die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschands). Seine Karriere ist damit gelaufen. Aufgeben tut der Ausnahmesportler trotzdem nicht. Eisern trainiert er weiter und wird zur..
2024