Movienet
Regisseur Hannes Stöhr (Locarno 2008)
Gesellschaftsporträt von Hannes Stöhr
Interview: Ich bin kein Pfarrer!
Im Oktober 2008 startet "Berlin Calling" in den Kinos. Das Projekt von Filmemacher Hannes Stöhr begeisterte bei der Weltpremiere in Locarno die Zuschauer. Das Musikerporträt erzählt die Geschichte von DJ Ickarus, der kurz vor einer Albumveröffentlichung in den Drogensumpf fällt. In einem aufschlussreichen Gespräch schildert der Berliner Regisseur seine persönlichen Erfahrungen in Psychiatrien und seine Ziele als Filmemacher.
erschienen am 29. 09. 2008
Movienet
Paul Kalkbrenner (Locarno 2008)
Ricore: Paul Kalkbrenner gibt in "Berlin Calling" sein Schauspiel-Debüt. Es war nicht von Anfang an geplant, dass er mitspielt. Wann haben Sie das entschieden? Hannes

Stöhr: Zuerst hatte ich Paul Kalkbrenner als Musiker im Kopf. Ich hatte sein Album "Self" gehört und mir war klar, dass ich jemand will, der an seinem Rechner live spielt. Wir haben über die Musik und über das Buch geredet. Dann habe ich ihn zu seinen Auftritten begleitet und gemerkt wie vielschichtig er ist. Er hatte großen Respekt vor dem Schauspielen. Ihm war klar, dass das nicht eine Poser-Nummer ist, sondern dass die Schauspielerei viel mit Vorbereitung zu tun hat. Wir hatten schon bei der Drehbucharbeit eine sehr gute Kommunikation. Ich habe auch festgestellt, dass sich seine Art des Musikmachens mit meiner Art Drehbücher zu schreiben ergänzt. Er baut ebenfalls etwas auf und reduziert es dann wieder. So macht er seine Musik und ich schreibe so meine Drehbücher. Dann habe ich Paul gefragt, ob er sich vorstellen könne, mitzuspielen. Paul hat kurz überlegt, nein, er hat eigentlich gar nicht überlegt und gesagt: "Komm, das ziehen wir durch". Dann sind wir das Projekt angegangen. Jim Jarmusch hat mal über die Dreharbeiten mit John Lurie von den Lounge Lizards bei "Stranger than Paradise" gesagt: "Gute Musiker sind meistens auch gute Schauspieler, weil sie ein gutes Gefühl für Timing haben". Diese Erfahrung habe ich mit Paul Kalkbrenner auch gemacht.

Ricore: Haben Sie nicht Angst gehabt, dass er die schauspielerischen Anforderungen nicht erfüllt?

Stöhr: Angst ist nie ein guter Ratgeber. Der Rest war Vorbereitung, wir haben viel geprobt. Man ist am Set erst dann frei, wenn man gut vorbereitet ist - das ist wie beim Jazz - wenn man das Instrument spielen kann, dann kann man auch später improvisieren. Ich hatte dieselbe Arbeitsweise, die ich auch bei "One Day in Europe" und "Berlin is in Germany" angewendet habe. Ich probe immer, nur dann schafft man es. Bei dem Zeitdruck, der am Set herrscht, muss man die wichtigen Entscheidungen im Vorhinein treffen. So haben wir auch mit der Kamera, mit Andreas Doub gearbeitet. Wir hatten ein Story-Board für den ganzen Film, von hinten bis vorne. Wir wussten genau, wie die Rhythmen und das Licht sind. Wir überlegten uns die Club-Szenen, es war klar, dass Techno mit Komparsen nicht funktioniert. Diese Szenen waren im Prinzip Paul Kalkbrenner Konzerte bzw. Partys. Wir haben 25 Mikrophone aufgehängt, die Lampen wurden zu Filmlampen gemacht. Der Gast hat das gar nicht mitbekommen.
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Regisseur Hannes Stöhr (Locarno 2008)
Ricore: Die Partys waren also richtige Partys?

Stöhr: Das waren Partys, die wir organisiert haben. Die Leute haben gewusst, dass gedreht wird. Aber wir haben es so organisiert, dass wir nicht gestört haben. Wir haben die Party immer laufen lassen. Es wurde immer alles vorbereitet, dass es so echt wie möglich wird.

Ricore: War es schwierig die Drehgenehmigungen in den Clubs und Konzerthallen zu bekommen?

Stöhr: Drehgenehmigungen sind immer schwierig. Aber wir haben mit Freunden gearbeitet. Wir kennen die Clubbetreiber. Die haben das Projekt unterstützt.

Ricore: Was waren für Sie die besonderen Herausforderungen bei den Dreharbeiten - abgesehen von dem Neuling im Schauspiel-Business?

Stöhr: Es ist immer eine Herausforderung, wenn man einen Film dreht. Ich habe Paul ganz normal behandelt. Er hat wie ein Schauspieler gearbeitet. Die Schwierigkeit ist, dass man realistisch arbeitet. Beim Realismus muss man genau hinschauen. Das ist immer die größte Herausforderung. Ich habe viele Drogeneinrichtungen besucht. Ich habe selbst in einer Psychiatrie Zivildienst gemacht, besser gesagt bei der Lebenshilfe und hatte da öfters mit der Psychiatrie zu tun. So habe ich bei der Recherche meine Erinnerungen aufgefrischt und einige Fotos gemacht. Zusammen mit dem Szenebild (Sebastian Wurm) habe ich versucht, das so realistisch wie möglich nachzubauen und dramaturgisch gerecht zu machen. Damit wir zu einem nicht ganz einfachen Thema keinen Mist erzählen. Das war uns wichtig. Das Oberthema von "Berlin Calling" ist für mich Kunst und Wahnsinn. Manche Zeitungen schreiben, es sei ein Techno-Film. Das finde ich undifferenziert. Wir arbeiten im Grunde mit dem Musikerporträt als Genre. Alle kennen die: Charlie Parker, Jim Morrison, Ian Curtis, Kurt Cobain. Da gibt es unglaublich viele. Der entscheidende Unterschied ist, das wir von einem deutschen Musiker erzählen, der noch lebt. Normalerweise handeln Musikerporträts ja immer von englischen Musikern oder Amerikanern, die tot sind. Das Grundprinzip des Musikerporträts ist: Es stellt den Held in die Mitte und spiegelt die Welt um ihn herum. Dieses Porträt ist immer auch eine Sozialstudie zum Gesellschaftsporträt, weil der Musiker ein Produkt seiner Zeit ist. Diese Grundstruktur habe ich übernommen.
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Zuschauer von Berlin Calling in Locarno (2008)
Ricore: Wie würden Sie den Film auf die heutige Party-Generation übertragen?

Stöhr: Roberto Rossellini hat einmal gesagt "Zeige die Realität, aber überlasse die Interpretationen den anderen. Wir leben in einem hedonistischen Zeitalter. Die Techno-Generation ist für mich eindeutig die Nachfolge-Generation der Hippies, der 68er, der Kultur der Ekstase, des Rausches. Das alles haben wir von den Hippies übernommen, auch die sexuelle Freiheit. Dennoch ist diese Generation anders, individualistischer. Das habe ich versucht neben dem Held auch in den Nebenfiguren darzustellen. Ich wollte gar nicht sagen: "Ich mache ein Generationen-Porträt". Ich habe eher gesagt: "Lasst uns die Figuren aus der Realität nehmen". Dann wird es zwangsläufig eine Gesellschaftsstudie. Ich finde elektronische Musik extrem reich und habe einen großen Respekt vor Leuten, die mit der eigenen Musik auf die Bühne gehen. Das hat in Locarno auf der Piazza Grande viele Leute unglaublich erstaunt. Die dachten, das sei jetzt bumbumbum. Am Ende tanzten Leute, die noch nie zu elektronischer Musik getanzt haben. Das war sehr interessant.

Ricore: Welche Musik bevorzugen Sie?

Stöhr: Ich höre schon elektronische Musik. Aber ich bin auch Querbeet unterwegs und höre Jazz, Rock und Latino. Musiker aus dem deutschsprachigen Raum hatten es lange Zeit sehr schwer, auch auf Grund der Sprachbarriere. Die globalisierte Welt verlangt nach einer Musik, die ohne Texte ist. Paul und viele andere elektronische Musiker reisen um den ganzen Globus. Electro Made in Germany steht überall hoch im Kurs. Bei Electro kehrt Musik zu seinen Wurzeln zurück: Es geht um Arrangement, Timing, Dramaturgie, Rhythmus, Aufbau, manchmal sogar Logik und natürlich um das richtige Gefühl für den Moment.
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Regisseur Hannes Stöhr mit Cast in Locarno (2008)
Ricore: Die Geschichte im Film handelt viel vom persönlichen Ziel des Musikers. Was ist ihr persönliches Ziel?

Stöhr: Mein Ziel als Filmemacher ist, dass ich die Welt da draußen verstehen möchte. Ich versuche, die Welt zu verstehen und zu dechiffrieren. Wolfgang Kohlhaase hat einmal gesagt "Man braucht viel Fantasie um die Realität zu verstehen". Ich versuche Bilder zu finden, um diese komplizierte Welt, für mich verständlich zu machen. Ich will es auch dem Publikum verständlich machen. Also nehme ich die Kommunikation auf, und frage: "Wisst ihr was ich meine?" Ich versuche, die deutliche Message wegzulassen, weil ich bin kein Pfarrer bin sondern Filmemacher. Ich will dem Zuschauer Interpretationsspielraum lassen.

Ricore: Der Film läuft unter dem Genre Tragik-Komödie. Worin sehen Sie die komischen Elemente?

Stöhr: Der Commedia dell'arte ist hier nichts hinzuzufügen. Keine Komödie ohne Tragik. Es ist eine Frage der Weltsicht. Man hätte diese Geschichte auch total tragisch erzählen können. Erich Kästner hat einmal gesagt: "Wer das Gute nicht sieht, wird böse, wer das Schlechte nicht sieht, wird dumm". Man kann jeden Lebensaspekt von verschiedenen Seiten beleuchten. Grund zur Hoffnung zu sehen, ist natürlich viel schwieriger, als schwarz malen. Die Tragik ist, dass in "Berlin Calling" jemand strauchelt. Die Hauptfigur kämpft mit einer allgemeinen Überforderung, mit einer hektischen Welt, mit einem schweren Beruf, ist dem Wahnsinn nahe, verliert den Boden unter den Füssen - wie Ikarus der zu nah an die Sonne flog. Er bringt aber die Kraft auf, sich selber wieder rauszuziehen. Am Ende ist er ganz alleine, bis auf die Freundin und seine Familie, die ihn nicht fallenlassen.

Ricore: Herzlichen Dank für das Gespräch.
erschienen am 29. September 2008
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Hannes Stöhr hat seinem Zivildienst in Südamerika abgeleistet. Zurück in Deutschland beginnt er das Jura-Studium und bewirbt sich parallel an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Dort angenommen studiert er Regie und Drehbuch. Seinen zunächst als Kurzfilm realisierten "Berlin is in Germany" erweitert er für seine Abschlussprüfung an der Akademie 1999 zum Spielfilm. Dafür erhielt er mehrere Auszeichnungen, darunter den Preis als bester deutscher Nachwuchsregisseurs 2002. Sein..
2024