Ann-Catherin Karg/Ricore Text
Stephen Walker
Stephen Walkers Rock-Oper
Interview: Humor, Sex, Schmerz und Verlust
Stephen Walker hat schon öfters für Furore gesorgt. 2005 landet sein Buch "Hiroshima. Countdown der Katastrophe" auf der Bestsellerliste der New York Times, seine Dokumentation über dasselbe Thema wird für einen Emmy nominiert. "Young@Heart", der neueste Streich des sympathischen Briten ist eine Dokumentation über einen Chor, dessen Durchschnittsalter bei 80 Jahren liegt. Klingt langweilig? Weit gefehlt! Wir trafen uns mit Walker zu einem netten Gespräch, in dem sich der Filmemacher über die Macht der Musik und die Angst vor dem Älterwerden äußerte.
erschienen am 13. 10. 2008
Senator Film
Young@Heart
Ricore: Mr. Walker, wie sind Sie auf den Young@Heart-Chor gestoßen?

Stephen Walker: Der Chor gibt Konzerte auf der ganzen Welt und ist auch in Europa sehr bekannt. Eines Tages hatte er in London einen Auftritt, ganz in der Nähe von meinem Zuhause. Meine Frau, die Produzentin Sally George, kam eines Abends mit einem Artikel nach Hause und sagte gleich, dass sich daraus ein interessanter Film machen ließe. Dieser Haufen alter Menschen die Rock'n'roll singen und eine derart großartige Resonanz bekommen. Sie sagte: "Die spielen hier ganz in der Nähe, da sollten wir unbedingt hingehen!" Ich hatte gar keine Lust. Für mich hörte es sich an, als könne es wirklich grässlich werden. Ich fragte mich, ob es so etwas wie Karaoke oder einfach nur peinlich werden würde. Aber sie hat mich dann überzeugt und wir sind hingegangen. Als Erstes fiel mir auf, wie viele Menschen gekommen waren. Das Theater war brechend voll. Und die Zuschauer waren zwischen 10 und 90 Jahren. Das fand ich unglaublich. Als die Mitglieder dann auf die Bühne kamen dachte ich nur: "Oh weia".

Ricore: Wie gings weiter?

Walker: Das Erste was geschah war, dass Eileen, diese 92-jährige Frau, mit "Should I Stay or Should I Go" loslegte. Das fand ich total irre, wie sie in ihr Mikrofon geschrien hat. Und dann fiel mir auf, dass sie eigentlich über Leben und Tod singt - "Should I Stay or Should I Go". Wenn eine 92-Jährige diesen Song singt, erhält er eine ganz andere Bedeutung. Und jeder Song der folgte, war auf eine unglaublich interessante Weise interpretiert. Durch das Alter der Sänger entstand etwas völlig Neues. Sie sangen eine wahnsinnig schöne Version von Bob Dylans "Forever Young", der ist ja auch im Film. Im Film sieht man auch eines der Chor-Mitglieder "Fix You" singen. Was die Power des Songs ausmacht ist der Fakt, dass der Sänger 83 ist und ein schweres Herzleiden hat. Er hängt 24 Stunden an einer Sauerstoffmaschine und singt "Fix You", und das wunderschön. Als ich aus dem Theater kam sagte ich zu Sally: "Lass uns einen Film machen. Über das Alter und alles was dazugehört. Der Spaß und Humor, Sex, Schmerz und Verlust - eben alles." Und das mit Rock'n'roll, eine richtige Rock-Oper über das Alter. So haben wir uns das vorgestellt.
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Chorleiter und Gründer: Bob Cilman
Ricore: Welches Lied im Film ist Ihr Lieblingslied?

Walker: Erstaunlich, aber darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich wurde nach meinem Lieblingsmoment und Lieblingsakteur gefragt, aber noch nie nach meinem Lieblingslied. Darüber muss ich nachdenken. Ich denke, es sind eigentlich zwei Songs. Der erste ist "Fix You", den finde ich verblüffend. Ich liebe Fred und seine Stimme. Der andere Song den ich wirklich liebe ist "Forever Young". Diese Version von "Forever Young" im Gefängnis ist wunderschön. Dieses Lied ist mir schon bei den Proben am ersten Drehtag aufgefallen. Es ist ein Chorstück bei dem verschiedene Leute ans Mikrofon kommen und einzelne Zeilen singen. Es ist so wunderschön, wie diese alten Menschen vor einem viel jüngeren Publikum "Forever Young" singen. Aber ich mag natürlich alle ihrer Lieder. Im Film gibt es so etwas wie einen running gag mit "I Feel Good" von James Brown, den sie nie richtig hinbekommen. Als Stan und Dora dann beim Auftritt am Ende des Films die Bühne betreten und alles ist mucksmäuschenstill, das ist großartig. Und ich liebe die Art wie sie den Song bringen, es ist so ein Chaos. Ich habe Vorführungen erlebt, in denen nach diesem Lied das gesamte Publikum applaudierte.

Ricore: War es das erste Mal, dass die beiden das Lied richtig gesungen haben?

Walker: Sie singen es nicht richtig. Ich glaube, sie haben das Lied nie richtig gesungen. Das kriegen sie einfach nicht hin. Aber das ist sehr lustig.

Ricore: Wann kam Ihnen die Idee, Musikvideos der Chor-Mitglieder in den Film einzubauen?

Walker: Ganz am Anfang. Das war eines der Dinge, die wir beim ersten Treffen intensiv mit dem Chorleiter Bob Cilman diskutiert haben. Da mussten wir richtige Überzeugungsarbeit leisten. Er war sehr skeptisch. Es gab schon zwei Fernseh-Dokumentationen über den Chor, die Bob nicht gefallen haben. Viele andere wollten ebenfalls einen Film über den Chor machen, aber Bob hat immer abgelehnt. Wir haben ihm dann erklärt, dass ein Musikvideo einfach der nächste Schritt von Rock'n'roll ist. Damit haben wir ihn dann rumgekriegt. Die Videos sind wirklich etwas Besonderes. So etwas hat es noch nie gegeben, und das hat Bob gefallen.
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Young@Heart
Ricore: Im Film gibt es einige sehr intime Momente. In einer Szene steht Steve Martin unter der Dusche und erzählt von seinem Sexualleben.

Walker: Die Szene hätte noch intimer sein können. Steve hat mich danach oft gefragt: "Warum hast du mich nicht ohne Hose interviewt?" Er wollte, dass die Welt ihn in seiner ganzen Pracht sieht. Ich habe mich dann auch gefragt, wieso ich ihn nicht nackt interviewt habe, das war seltsam. Das lag an mir, ich war da irgendwie zu schüchtern und dachte, ich könnte das nicht zeigen.

Ricore: Sie haben eben erzählt, dass Bob Cilman dem Projekt kritisch gegenüberstand. Wie war das mit den Chor-Mitgliedern?

Walker: Die waren viel einfacher zu überzeugen. Sie lieben es, auf der Bühne zu stehen, das sind Exhibitionisten. Da stellte sich dann das konträre Problem. Den Chor musste ich bremsen, vor der Kamera zu spielen. Das ist oft der erste Impuls, wenn irgendwo Kameras aufgestellt werden. Das hat sich nach den ersten zwei bis drei Tagen zum Glück wieder gelegt. Wann immer sie geschauspielert haben, habe ich es herausgeschnitten.

Ricore: Wie war die Aufnahme durch den Chor?

Walker: In den Chor wurden wir schnell aufgenommen, Bob war da viel skeptischer. Als dann Mitglieder gestorben sind wurde Bob sehr zurückhaltend, was ich sehr gut nachvollziehen kann. Er hat den Chor 1982 gegründet, da war er 29 Jahre alt. Der Chor ist sein Baby, und seit seiner Gründung war er auf 70 Beerdigungen. Von den Gründingsmitgliedern ist kein Einziger mehr am Leben. Da findet ein ständiger Wechsel statt, die Leute sterben und es kommen neue dazu. Diese Zeit war für uns alle schwer, wir haben sehr eng mit dem Chor zusammengearbeitet. Der Umgang war sehr freundschaftlich und wir waren uns nah. Im Film gibt es diese Szene, in der wir nach dem Tod von Joe Benoit zur Probe gehen. Alle wussten erst seit einer Stunde, dass Joe gestorben war. Und dann singt Patsy eine wunderschöne Version von "Nothing Compares 2 U". In dieser Situation war es das perfekte Lied. Und wir durften an diesem Tag auch nur aufgrund unserer besonderen Beziehung zum Chor dabei sein. Ich hätte es auch verstanden, wenn sie uns nicht hinein gelassen hätten, aber so war es nicht. Mit der Zeit kam ich auch Bob näher. Ich bin ein verrückter Filmemacher und er ist ein verrückter Musikdirektor, da kann es schon mal krachen. Manchmal haben wir uns gestritten wie Hund und Katze, aber das Ergebnis ist gut.
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Mitglieder des Chors: Young@Heart
Ricore: Was haben Sie von den Chor-Mitgliedern gelernt?

Walker: Diese Frage ist interessant und sie ist mir auch schon öfter gestellt worden, aber ich habe sie noch nie zufriedenstellend beantworten können. Es ist sehr einfach zu sagen: "Ich habe gelernt, was es im Leben für Möglichkeiten gibt. Ich habe mich inspirieren lassen und weiß jetzt, dass man das Maximale aus dem Leben herausholen muss und nie aufgeben darf. Aber das alles hört sich immer etwas dumm an. Die Wahrheit ist, dass ich es einfach nicht weiß. Ich weiß nur, dass mich die Arbeit an dem Film tief berührt hat. Wahrscheinlich wird mir diese Erfahrung helfen, wenn ich selbst alt bin. Ich weiß nicht wie sie sich dann auswirken wird, aber sie wird es definitiv. Diese Menschen waren wirklich eine verblüffende Inspiration. Im Film gibt es Menschen, die buchstäblich mit ihrem letzten Atem singen. Das war beeindruckend zu beobachten. Ich selbst bin ein schrecklicher Sänger, aber ich bin sicher, dass ich etwas Ähnliches für mich finden werde, was immer das sein wird. Diese Erfahrung wird mein Leben sicher beeinflussen.

Ricore: Haben Sie Angst vor dem Älterwerden?

Walker: Haben wir das nicht alle?

Ricore: Doch, aber manche mehr und manche weniger.

Walker: Ich bin jetzt Mitte vierzig, also schon etwas über der Halbzeit. Das interessante in diesem Alter ist, dass man sich an so vieles erinnert. An Dinge, die man vor 35 Jahren als Zehnjähriger gemacht hat. Und man kann sich vorstellen noch einmal dieselbe Zeitspanne zu leben, man bekommt ein Gefühl für die Dauer eines Lebens. Man sieht das große Ganze. Die Leute in meinem Film sind am Ende des Lebens angekommen. Sie versuchen nicht jung zu sein, aber im Geist sind sie sehr jung geblieben. Sie haben sich ihren jugendlichen Geist bewahrt. Ich glaube, dass mich das Filmemachen auch jung hält. Oh Gott, ich höre mich an wie ein Neunzigjähriger. Eigentlich bin ich 87, aber ich sehe noch ganz gut aus.
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Mit knappem Atem: Fred Knittle
Ricore: Sie haben vorhin davon gesprochen wie es ist, wenn ein Filmteam in eine fremde Gruppe eindringt. Wie real können Dokumentationen überhaupt sein? Die Menschen sind sich ja bewusst, dass sie gefilmt werden.

Walker: Über die Jahre habe ich über 20 Dokumentationen gemacht und irgendwann wird man gut im Unsichtbarwerden. Es mag wenig überzeugend klingen, aber ich bin mir ganz sicher, dass nichts in dem Film passiert weil eine Kamera anwesend war. Ich glaube nicht, dass sich dadurch irgendetwas verändert hat. Am Ende wurden wir nicht einmal mehr beachtet.

Ricore: Wie viele Crew-Mitglieder waren denn am Set?

Walker: Das war sehr unterschiedlich. Manchmal hatten wir nur zwei Kameras, manchmal fünf. Am kleinsten war die Crew mit zwei Leuten, am größten mit 15 bis 20 Menschen. Meistens waren wir zu viert oder fünft.

Ricore: In letzter Zeit häufen sich Filme in deren Mittelpunkt ältere Menschen stehen. Sehen Sie darin einen Trend?

Walker: Ja, ich denke schon, dass das ein Trend ist. Ich kann für England und die USA sprechen, wo ich lange gelebt habe, da sind die Menschen geradezu besessen von Jugendlichkeit. Allen wollen jung aussehen. Da gibt es jetzt eine Gegenbewegung. Wir zeigen, dass es in Ordnung ist, alt zu sein, dass man ein Recht auf Falten hat und darauf man selbst zu sein. In der Hinsicht finde ich Young@Heart sehr erfrischend. Die Leute machen Musik, singen Rock'n'roll, sind lustig und auch mal traurig. Man geht aus dem Kino und denkt sich: Schön, diese Leute haben auch einen Platz für sich gefunden. Nach den Vorführungen sagten viele Leute zu mir, dass sie ihre Eltern und Großeltern anrufen wollten um ihnen zu sagen, dass sie sie lieben.
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Cool: Young@Heart
Ricore: Durch die realen Ereignisse während der Dreharbeiten ist der Film teilweise sehr traurig. Welcher Moment war für Sie der emotionalste?

Walker: Der emotionalste Moment war das Konzert im Gefängnis. Ich habe die Insassen selbst mit der Kamera gefilmt. Bob Salvini war gerade gestorben und die Nachricht wurde erst kurz zuvor im Bus bekannt gegeben. Ich wusste nicht, ob der Chor singen würde oder nicht. Am Anfang lachen die Häftlinge und fragen sich "was geht denn hier ab?". Dann singt der Chor "Forever Young" und etwas passiert mit den Gesichtern der Insassen. Man sieht wie sie dahin schmelzen. Bei diesen harten Kerlen ist das wahnsinnig bewegend. Das waren keine Mörder oder Vergewaltiger, eher Diebe und Drogensüchtige. Die haben einen Fehler gemacht und jetzt ist ein großer Teil ihres Lebens vergeudet. Und dann kommen diese alten Leute um für sie zu singen. Ich glaube, das hat sie an ihre Eltern oder Großeltern erinnert, die sie vielleicht nie hatten oder die nicht für sie da waren. Ich weiß nicht was es war, aber mit ihren Gesichtern ist etwas Unglaubliches vorgegangen. Das sind Momente, die nur Dokumentationen einfangen können. Das bewegt jeden, in diesem Moment steigen allen Tränen in die Augen. Zwei Stunden nach Bobs Tod, das war wirklich emotional.

Ricore: Mr. Walker, vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 13. Oktober 2008
Zum Thema
Stephen Walker studiert in Harvard Geschichte und beginnt nach seinem Abschluss als Dokumentarfilmer für die englischen Fernseh-Sender Young@Heart" einen bewegenden Dokumentarfilm über einen Chor, dessen Durchschnittsalter bei 80 liegt.
Young@Heart (Kinofilm)
Ein Film über einen Chor der ein Durchschnittsalter von über 80 hat, das klingt zunächst nicht berauschend. Doch schon nach wenigen Minuten wird man eines besseren belehrt. Die alternden Charakterköpfe wachsen den Zuschauern schneller als Herz, als manchem am Ende lieb ist. Sieben Wochen begleitet Regisseur Stephen Walker die Proben des Young@Heart-Chors, der sich auf eine große Tournee vorbereitet. Sieben Wochen können für 80-Jährige aber eine lange Zeit sein - für manche zu lang..
2024