Andreas Eckenfels/Ricore Text
Chris Kraus
"Gesellschaftlicher Kontext interessiert mich nicht"
Interview: Chris Kraus über extreme Figuren
Mit "Scherbentanz" lieferte Chris Kraus im Jahr 2002 ein bemerkenswertes und ausgezeichnetes Regiedebüt. Auch "Vier Minuten" verzückte die Kritiker. Es räumte Preise in China, Brasilien und Island ab. Die deutsche Filmlandschaft ist verspätet auf das Juwel aufmerksam geworden. Bevor er als Gast in zahlreichen Talkshows zu sehen war, plauderte der Filmemacher mit uns über seine Arbeit und seinen künstlerischen Antrieb. In der Bibliothek des Münchner Hotels Vier Jahreszeiten folgten wir den Spuren seiner untypischen Figuren.
erschienen am 28. 12. 2008
Piffl Medien
Vier Minuten
Ricore: Herr Kraus, spielen Sie Klavier?

Chris Kraus: Ich weiß was das Klavier für ein Instrument ist und ein bisschen kann ich auch darauf spielen, aber ich bin kein guter Pianist.

Ricore: Wie sind Sie auf die Thematik von "Vier Minuten" gekommen?

Kraus: Es war ein Zufall, der mit meiner alltäglichen Recherchearbeit zu tun hat. Ich habe zuhause ein riesiges Zeitungsarchiv. Da bin ich über ein Foto einer Pianistin gestolpert, die seit 1944 im Knast Klavierunterrichtet gab. Das Foto war so faszinierend, dass es mich nicht mehr losließ. In ihm offenbarte sich der Kontrast zwischen Gefängnis und Klavierkunst besonders eindrücklich.

Ricore: War Monica Bleibtreu von Anfang an für die Rolle der Traude Krüger vorgesehen?

Kraus: Das war erst ganz spät klar. Ich wollte für die Rolle unbedingt jemanden haben, der tatsächlich 80 Jahre alt ist, weil ich speziell bei der Hauptrolle der Maske nicht vertrauen wollte. Das ist schwierig aufgrund der vielen Grossaufnahmen des Gesichts. Eigentlich war Jeanne Moreau für die Rolle vorgesehen, die im entsprechenden Alter ist. Nachdem wir eineinhalb Jahre auf sie gewartet haben, ließen wir jedoch von dem Plan ab. Von dem Moment an galt es einfach eine sehr gute Schauspielerin zu finden. Der Monica hab ich das zugetraut und das war eine die wichtigsten Entscheidungen hinsichtlich des Projekts.
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Szene mit Jasmin Monica Bleibtreu und Tabatabai
Ricore: War das auch die schwierigste Entscheidung bei der Rollenbesetzung?

Kraus: Die schwierigste Entscheidung war die Besetzung der jungen Hauptdarstellerin. An dieser Rolle hing die Verantwortung ob der Film überhaupt funktioniert oder nicht. Sie trägt die Hauptbelastung was die Authentizität der Darstellung angeht. Leider konnte Hannah Herzsprung zu Beginn der Arbeit nicht Klavier spielen, worauf wir in der Folge dann sehr viel Zeit verwendet haben, damit sie das noch lernt.

Ricore: Hatten Sie im Vorfeld schon von Ihr gehört?

Kraus: Noch nie. Wir hatten ein 6-monatiges Massen-Casting. Sie wurde mir von der Casteringleiterin fast aufgedrängt. Zuerst wollte ich nicht recht, da wir einen Typus suchten der in seinen Möglichkeiten sehr extrem sein musste. Bei Hannahs schauspielerischem Hintergrund konnte ich mir nicht vorstellen, dass es klappen kann. Die Figur trägt eine unwahrscheinliche Härte und zugleich zarte Sensibilität in sich, um ihre musikalische Begabung umzusetzen. Diese Bandbreite ist in dem jungen Alter schwer zu finden. Als ich Hannah dann sah war ich total begeistert. Ihr ist es möglich diese zwei Charaktere in einer Person zu zeigen. Außerdem ist sie uneitel. Das ist ungewöhnlich, weil die meisten Schauspieler durch Vorabendserien verdorben werden. Für unser Projekt war es elementar wichtig. Monica und Hannah waren beide bereit sich für ihre Rollen komplett hinzugeben. Das war das entscheidend.

Ricore: Haben Sie Knast-Erfahrung?

Kraus: Nicht in der Form, aber ich war sehr lange Zeit auf einem Internat. Natürlich habe ich für den Film ausgiebig im Knastmilieu recherchiert und kann nur sagen, dass ich auf diese Erfahrung auch gut verzichten kann. 'Gefangensein' ist aber generell ein Thema was mich interessiert. Assoziativ als ein Bild von einem Zwang in dem wir ständig sind. Je älter man wird, desto mehr Zwängen ist man automatisch unterworfen. Wenn wir auf das Lebensende zurasen unterliegen wir dem Zwang uns zu etablieren. Auch wenn es mir keinen Spaß machen würde, müsste ich für meine drei Kinder Geld verdienen. Mich interessiert, wie ich in einem Zwang meine Freiheit behalten kann.
Andreas Eckenfels/Ricore Text
Jasmin Tabatabai mit Regisseur Chris Kraus
Ricore: Darf man die Grundthematik von "Vier Minuten" mit 'Resozialisierungsmöglichkeiten durch Kunst' zusammenfassen?

Kraus: Der gesellschaftliche Kontext interessiert mich nicht so, obwohl er sich aus der Figur heraus ergibt. Die Herangehensweise ist nicht dem Resozialisierungsprinzip unterstellt, sondern handelt vom Einbruch abstrakter, lebensferner Kunst in ein extrem gescheitertes Leben sowie der Beeinflussung die das zur Folge hat.

Ricore: Gibt es dahingehend Anknüpfungspunkte in Ihrem Leben?

Kraus: Ich habe den Film meiner früheren Klavierlehrerin am Internat gewidmet. Acht Jahre habe ich dort verbracht. Sie hat sich sehr um mich gekümmert und mich zum Zeichnen gebracht. Damit hat sie entscheidend in mein Leben eingegriffen, zudem meine Berufswahl beeinflusst. "Vier Minuten" ist meine eher langweilige Jugendgeschichte ins Extreme gesteigert.

Ricore: Gehörten die historischen Rückblenden zur ursprünglichen Idee der Umsetzung?

Kraus: Zunächst hatten wir weniger Rückblenden. Die meisten Sequenzen wurden in einem Nachdreh eingebaut, weil sich der Film vorher nicht von alleine mitgeteilt hat. Es waren einige Fragen offen geblieben.

Ricore: Können sie verstehen wenn kritisiert wird, die historische Bezugnahmen überladen das Werk stellenweise?

Kraus: Das ist die Entscheidung vor der man steht. Zu viele Erklärungen zerstören das Geheimnis und ich spiele gerne mit dem Geheimnis. Das macht für mich die Magie von Kino aus. Auch im Leben möchte ich nicht ständig mit Erklärungen konfrontiert werden.
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Monica Bleibtreu in "Vier Minuten"
Ricore: Woher kommt Ihre Sympathie für Figuren vom Rande der Gesellschaft?

Kraus: Mich interessieren extreme Figuren, da ich selber eine Menge radikaler Figuren privat kennen gelernt habe.

Ricore: Sind Sie persönlich ein extremer Typ?

Kraus: Das müssen andere beurteilen. Ich empfinde mich nicht als extrem. Das kommt aber auch darauf an, was man unter 'extrem' versteht. 'Extrem' ist, wenn man außerhalb einer Norm Erfahrungen macht die man sich nicht selber aussucht. 'Extrem' ist immer nur im situativen Kontext zu verstehen. Ich war in sehr extremen Situationen, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte, und habe sicher einen anderen Lebenslauf als 99 Prozent der meisten Leute. "Scherbentanz" beispielsweise war ein sehr persönlicher Film. Vor diesem Hintergrund interessieren mich diese Figuren. Ich mache Filme aus einem persönlichen Antrieb heraus. In dem Spannungsverhältnis von Kunst, Leben und Gewalt habe ich einige persönliche Erfahrungen gesammelt.

Ricore: Was unterscheiden extreme Figuren von anderen Typen?

Kraus: Sie haben ein größeres dramaturgisches Potenzial. Ihre Veränderung ist extrem, man kann an ihnen als Regisseur viel ausprobieren und viel zeigen. In der Kombination mit meiner eigenen Nähe dazu, funktioniert die Umsetzung einfach gut.

Ricore: Wie beurteilen Sie aktuelle Tendenzen innerhalb der deutschen Filmlandschaft? Sind Sie genervt oder begeistert?

Kraus: Ich bin natürlich jemand dem da ganz viele Dinge auf die Nerven gehen. Letztendlich ist es jedoch speziell für Journalisten interessant danach zu gucken, wie sich ein Filmemacher positioniert. Wenn man in einem Projekt steckt, hat man gar nicht die Möglichkeit sich großartig umzugucken. Ich tauche jetzt nach "Vier Minuten" aus einem zweijährigen Rausch auf und fange wieder an Filme zu gucken. Von daher maße ich mir nicht an, allgemeingültige Vorgaben zu liefern, aber mir fallen tendenzielle Moden auf, wie beispielsweise die Vielzahl sozialrealistischer Motive. Es ist en vogue so kunstlos wie möglich bei der Beobachtung von Leben zu erscheinen. Natürlich gibt es sehr gute Filme. Christian Petzold oder Valeska Grisebach liefern den aktuellen Beweis.
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Hannah Herzsprung als Häftling und musikalisches Talent
Ricore: Entspricht "Vier Minuten" einer Mode?

Kraus: Jedenfalls keiner aktuellen. Ich habe das an den Reaktionen auf das Werk gemerkt. Am Anfang wurde der Film in Deutschland komplett abgelehnt. Bei der Berlinale, den Filmfesten in München und Ludwigshafen wollte uns keiner haben. Da habe ich gemerkt, dass der Film nicht modern ist. Wir laufen hier überhaupt nur, weil der Erfolg und die Begeisterung im Ausland so groß sind. Dadurch haben wir den Glauben an dem Film zurück gewonnen.

Ricore: Lassen Sie sich von Trends beeinflussen?

Kraus: Das ist insofern schwierig, weil ich generell sehr viel Zeit für die Entstehung meiner Arbeiten brauche. Ich bin ein sehr emotionaler Mensch und würde mich einer Geschichte niemals über ein Thema, sondern immer über eine Figur nähern. Von daher könnte ich auch keinen Film über einen Themenkomplex wie Ausländerfeindlichkeit machen. Da die Figur die kleinste Filmeinheit ist, fällt es mir schwer mich innerhalb der Szene in Reihe zu setzen.

Ricore: Welches Meinungsurteil würde Sie hinsichtlich Ihrer Kunst kränken?

Kraus: Ich mag es überhaupt nicht, zu langweilen. Die Filme die ich mache, sind sehr persönliche Werke, bei denen ich mich frage was die Leute daran interessiert. Filmemachen ist mein Antrieb. Ich vertraue dabei nicht auf aktuelle Bezüge, sondern thematisiere Motive die mich sehr lange beschäftigen. "Vier Minuten" ist kein Film den man noch nie gesehen hat, aber ich hoffe die Figuren sind neu und wurden in der Form noch nicht oft gezeigt. Ich habe tatsächlich Panik davor, zu langweilen, das könnte ich nicht ertragen.

Ricore: Sie haben vor Ihrer Tätigkeit als Regisseur bereits Drehbücher für Rosa von Praunheim, Detlev Buck und Volker Schlöndorff geschrieben. Was haben Sie daraus gelernt?

Kraus: Alle drei waren sehr wichtig. Der Lerneffekt fiel aber jeweils unterschiedlich aus. Schlöndorff war für mich entscheidend, weil es im Rückblick die einzig positive Regie/ Drehbuch-Erfahrung war. Er hat den Autor ernst genommen. Leider mochte er meine erste Regiearbeit "Scherbentanz" nicht. Momentan haben wir keinen engeren Kontakt. Mit Rosa bin ich dagegen sehr eng befreundet und er unterstützt mich enorm bei meiner Arbeit. Wir hatten mal gemeinsam den Workshop 'Was ist schöner: Sex oder Filmemachen?'. Praunheim ist ganz anders als sein öffentliches Bild. Unserer Radikalität verbindet uns. Er ist ein treuer Freund und großartiger Dokumentarfilmer. Bei Detlev Buck gab es Probleme, weil er eine zu starke Vision dessen hatte, was er geschrieben haben wollte. Er war nicht daran interessiert, etwas zu verfilmen. Das kann ich ganz schlecht. Wir sind nicht auf einen Nenner gekommen und haben die Zusammenarbeit abgebrochen. Die Entscheidung lief ganz offen ab, wurde aber auch sehr klar getroffen.

Ricore: Was bleibt aus diesen Erfahrungen zurück?

Kraus: Die Erfahrungen haben mir gezeigt, dass der Grossteil des Verdienstes als Drehbuchautor die Funktion von Schmerzensgeld erfüllt. Ich bin aber nicht masochistisch genug, das durchzuhalten, sondern glaube an meine Geschichten. Nachdem ich mich damit abfinden musste, habe ich mir gedacht: "Das machste jetzt selber!"

Ricore: Glückwunsch zu der Erkenntnis und vielen Dank für das interessante Gespräch, Herr Kraus.
erschienen am 28. Dezember 2008
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Vier Minuten (Kinofilm)
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2024