Jean-François Martin/Ricore Text
Gewinner Cannes Goldene Palme 2008: Laurent Cantet
Sarkozys fehlgeschlagene Filmmisshandlung
Interview: Laurent Cantet und die Politik
Für seinen Spielfilm "Die Klasse" arbeitete Regisseur Laurent Cantet ein gesamtes Schuljahr mit einer Hauptschulklasse zusammen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen und überzeugte auch die Juroren von Cannes 2008. Diese verliehen dem Drama nämlich die Goldene Palme. Diese Auszeichnung ist nicht nur für den Regisseur der Lohn des vergangenen Jahres, sondern auch ein politisches Statement. In einer angenehmen Gesprächsatmosphäre erklärt uns Cantet, warum Nicolas Sarkozy den Film als politisches Manifest verwenden wollte und warum ihm dies nicht gelang.
erschienen am 16. 01. 2009
Concorde Filmverleih
Die Klasse
Ricore: Wie war die Arbeit mit den Jugendlichen? Wurden sie gecastet?

Laurent Cantet: Ich habe in einer Schule im 20. Arrondissement im Osten von Paris ein Atelier eingerichtet. Das Viertel ist sehr beliebt und hat gemischte Bevölkerungsgruppen. Während des gesamten Schuljahres sind rund 40 Schüler jeden Mittwochnachmittag gekommen. Sie haben Szenen oder Situationen, die ich vorgeschlagen habe, nachgespielt und improvisiert. Wir haben natürlich auch gemerkt, welche Rollen zu welchen Jugendlichen am besten passen. Einige haben den Workshop natürlich verlassen. Sie haben gemerkt, dass ihnen Fußball und andere Dinge doch wichtiger sind als die Kamera. Jene 24 Schüler aus dem Film sind dann übriggeblieben, sie waren mit voller Begeisterung dabei. Für einige mussten wir neue Rollen schreiben, weil sie in keine andere gepasst haben. Es war aber von Anfang an klar, dass ich nicht ein klassisches 20-Minuten Casting machen konnte.

Ricore: War es während der Dreharbeiten möglich, mit den Schülern zu improvisieren?

Cantet: Die Dreharbeiten sind das Ergebnis unserer Workshops während des Schuljahres. Wir haben über das ganze Jahr verschiedene Charaktere und Persönlichkeiten erarbeitet, die sich die Schüler langsam übergestreift haben. Der Drehbeginn war immer von Improvisation geprägt. Ich habe immer etwas gesagt, was sich auf vorhergehende oder bekannte Situationen bezogen hat, und habe ihnen vorgeschlagen, das noch einmal so zu wiederholen. Genaue Angaben gab es aber nicht. Der Rest war Improvisation. Das fiel den Jugendlichen deshalb leicht, da wir vor der Kamera das weitergeführt haben, was wir das ganze Jahr über als Spiel gemacht haben.
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Laurent Cantets "Die Klasse"
Ricore: Gab es einen Punkt, an dem die Schüler aussteigen wollten?

Cantet: Nein, wir wurden im Film getragen von all dem, was sich evident erwiesen hat. Es gab keine Schwierigkeiten, keine Zweifel. Die Schüler hatten viel Energie, die daher kam, dass sie keine Distanz zum Film herstellten. Es war alles sehr leicht: Die Finanzierung und das Casting hat sich quasi alleine eingestellt. Wir haben nicht gecastet, die Schüler kamen zu uns. Nach drei Nachmittagen wussten wir bereits, dass wir super Darsteller vor uns hatten. Natürlich gab es während der Dreharbeiten immer wieder Momente, in denen man zweifelt oder sich auch langweilt. Manchmal stellen sich auch kleine Dramen ein. Aber hier gab es nichts dergleichen. Das lag auch daran, dass das Jugendamt stark aufgepasst und die Dreharbeiten überwacht hat. Das ist normal, wenn man mit Jugendlichen arbeitet. Sechs Stunden Dreh am Tag war möglich, mehr nicht. Dadurch waren die Arbeitstage sehr kurz. Fast schon zu kurz, aber gleichzeitig hat es uns Spaß gemacht, morgens zusammen zu kommen und noch einen Drehtag vor uns zu haben. Insofern war am Ende des Tages auch niemand übermüdet. Das war schon eine einmalige Erfahrung, in einem einmaligen Raum. Im Laufe der Zeit haben wir ein besonderes Verhältnis zu ihm entwickelt. Es war unser Raum, unsere Deko, unser Ort. Ebenso leicht war der Schnitt. Wir haben jene Dinge, die nicht gelungen sind, ohne großes Bedauern beiseite getan, da wir noch sehr viel Material übrig hatten.

Ricore: Was Sie hier erzählen klingt ja beinahe schon paradiesisch…

Cantet: Ich muss dazu sagen, dass dies eine Ausnahmesituation war. Das ist mir auch bewusst. Heutzutage wird es in Frankreich immer schwieriger, große Filme zu machen. Die kleinen, die lässt man so geschehen, die kosten ja nicht viel Geld. Aber bei den mittelgroßen Filmen, die einiges an Budget nötig haben, weiß man, dass sie am Ende vielleicht nicht so viel Geld einspielen werden. Daher ist es heute für viele Kollegen schwierig, diese Mittel aufzutreiben und ihren Film herzustellen. Meine früheren Filme waren ähnlich schwer zu realisieren. Ich gehe auch davon aus, dass mir das wieder geschehen wird. Aber vielleicht erst in ein paar Jahren, denn dieses Jahr habe ich die Goldene Palme gewonnen und vielleicht wird es jetzt etwas leichter, hoffe ich zumindest.
Jean-François Martin/Ricore Text
Laurent Cantet (Cannes 2008)
Ricore: Sie waren selbst mal Schüler und Student. Haben Sie eigene Erfahrungen mit einbringen können?

Cantet: Nein, denn die Gesellschaft hat sich seitdem stark verändert. Ich bin jetzt 47 Jahre alt. Als ich zur Schule ging, war diese noch anders strukturiert. Außerdem komme ich aus einem kleinen Provinznest. Diese Melange aus dem Film kannte ich zu meiner Schulzeit noch nicht. Ich habe das eher aus den Erfahrungen meiner Kinder mitbekommen. Sie gehen in eine Schule, die schon eher an jene aus dem Film erinnert. Ich war auch ein zurückhaltender und freundlicher Schüler, der Konflikten stets aus dem Weg gegangen ist.

Ricore: Kann man diese Klasse in Ihrem Film als die neue französische Gesellschaft sehen, die sich seit den 1960er Jahren shr verändert hat?

Cantet: Ja, das Bild, das wir im Film vermitteln, ist auch das reale Bild der heutigen Jugendlichen in diesen Vierteln. Ich suche nicht nach Exemplarischen oder nach Modellen. In den Vororten ist die Situation anders als im Zentrum von Paris. Man findet dort andere Bevölkerungsschichten, die aus unterschiedlichen Kulturen zusammengewürfelt sind. Dennoch glaube ich, dass der Film repräsentativ für viele Ecken von Paris ist. Ich halte diese Mischung für eine große Chance für unsere Gesellschaft, da diese sonst sehr stark verkalken würde. Es nützt nichts, an die unabänderlichen und unerschütterlichen Werte der französischen Gesellschaft, an die Universalität ihrer Kultur und Literatur zu glauben, sondern Identität ist immer die Summe der verschiedenen Bestandteile, die in diesem Moment eine Gesellschaft ausmachen. Und unsere Gesellschaft ist nun mal eine, die sich bewegt und nicht wie ein monolithisches Denkmal feststeht.

Ricore: Da sich der Film mit diesem Thema befasst, wurde er zwangsläufig auch zu einem politischen Film…

Cantet: Ja.
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Die Klasse
Ricore: Als Innenminister hatte Nicolas Sarkozy gerade mit dieser Gruppe von Jugendlichen seine Probleme…

Cantet: Was ihn nicht daran gehindert hat, dem Film Beifall zu zollen, ohne ihn vorher gesehen zu haben. Der Erziehungsminister hingegen hat uns gebeten, eine Vorführung zu organisieren und wir haben ihm eine Kopie des Films zukommen lassen. Er war einer der ersten, der über unseren Film gesprochen hat. Allerdings hatte er Schwierigkeiten mit den Lehrern und so sagte er ihnen, der Film sei eine Hommage an die wunderbare Arbeit der Lehrkräfte. Mittlerweile hat ihn auch Sarkozy gesehen, sich aber nicht mit einem Wort an uns gewandt. Allerdings beruhigt mich das, denn es beweist, dass man sich den Film nicht so leicht zu eigen machen und ihn ebenso wenig als politisches Manifest vor sich hertragen kann, wie er es anfangs versucht hat.

Ricore: Gibt es in Frankreich ebenso wie in Deutschland eine Empfehlung vom Kulturministerium, bestimmte Filme für den Unterricht zu verwenden?

Cantet: Es gibt Programme, die allerdings sehr institutionalisiert sind. Das sind zumeist Filmwochen, die in Schulen, Hochschulen oder Universitäten abgehalten werden. Die Lehrer erhalten zu einer gewissen Zahl von ausgewählten Filmen pädagogisches Material und sind angehalten, mit ihren Klassen die Filme zu besuchen. Anschließend wird mit dem Material gearbeitet. Ich kenne das Programm sehr gut, da ich vor einigen Jahren mit meinem Film "Ressources Humaines" Teil dieses Programms an Schulen war. Ansonsten gibt es keine Empfehlungen. Allerdings gibt es den Preis des französischen Bildungsministeriums, der in Cannes verliehen wird. Den haben wir dieses Jahr allerdings nicht bekommen.

Ricore: Wie haben die mitspielenden Schüler diesen Film empfunden?

Cantet: Die erste Vorführung war in Cannes 2008. Aber wir wollten ihnen den Film schon früher zeigen, damit sie sich nicht zum ersten Mal auf einer großen Leinwand in diesem eindrucksvollen Raum zusehen müssen. Denn dieser kann sehr einschüchternd sein. Es gab eine Vorführung mit Eltern, Lehrern und Schülern. Natürlich wurde viel gelacht und geschrien: "Hast du deine Fresse gesehen…?". Nach fünf Minuten hat sie der Film eingefangen. Sie wussten, dass der Film über sie handelt, dass er von ihrem Leben erzählt, so wie sie sind. Sie haben verstanden, dass ihnen der Film Gerechtigkeit zu Teil werden lässt, dass er sie nicht für Idioten hält und sie keineswegs verschaukelt. Das war für sie sehr wichtig.
Ricore: Wie haben die Jugendlichen dann reagiert, als sie die Goldene Palme von Cannes erhielten?

Cantet: Das war eine große Überraschung. Schon als der Film für den Wettbewerb ausgewählt wurde, waren sie ganz aus dem Häuschen. Als wir nach Cannes kamen, waren wir alle sehr aufgeregt. Dann erfuhren wir, dass der Film nach Italien, Amerika und Deutschland verkauft wurde. Das war sehr überraschend, damit haben wir nicht gerechnet. Und dann natürlich noch die offizielle Vorführung im Großen Saal. Das war sehr emotional, für uns alle.

Ricore: Hatten Sie Zweifel, den Film außerhalb Frankreichs zu verkaufen? Er dreht sich ja um ein universal gültiges Thema…

Cantet: Natürlich sind es universale Probleme, dennoch beinhaltet der Film französische Besonderheiten. So waren wir uns nicht sicher, ob er auch außerhalb unserer Grenzen gut laufen würde. Ein anderes Problem ist die Sprache. Die Jugendlichen sprechen einen eigenen Slang, der typisch für französische Vororte ist. Und diesen kann man beispielsweise nur schlecht ins Englische übersetzen. Dasselbe gilt für die Untertitel. Wir hatten schon Probleme bei der Herstellung der englischen Untertitel. Das war nicht einfach. Wir haben gewusst, dass dies ein Handicap sein würde. Aber die Verleiher haben gesagt, dass dieses Problem überwindbar ist, angesichts der Universalität des Themas.

Ricore: Drehbuchautor François Bégaudeau spielt auch die Hauptrolle. Warum?

Cantet: Er ist ein sehr guter Schauspieler. Er hat wie auch die anderen über das gesamte Jahr am Workshop an der Schule teilgenommen. Und natürlich war es von Vorteil, ihn für die Hauptrolle zu engagieren, da er die Rolle selbst geschrieben hat und sie daher so gut wie kein anderer kannte. Und als ehemaliger Lehrer kennt er sich natürlich bestens mit dem französischen Lehrkörper aus. Er hat sich quasi selbst geschrieben und dann auch selbst gespielt, besser konnte es gar nicht laufen.

Ricore: Da er für die Romanvorlage, das Drehbuch und die Hauptrolle verantwortlich war, lag ein großer Teil des Films auf seinen Schultern. Gab es auch Differenzen zwischen Ihnen?

Cantet: Nein, wir haben uns oft getroffen und über das Drehbuch und den Film gesprochen, wie wir uns die Arbeit vorstellen. Zwischen uns gab es eine Art stummes Vertrauen. François war sehr korrekt mit mir. Er hat mir von Anfang an wissen lassen, dass es mein Film war. Auf der anderen Seite ist er ein so großer Spezialist in diesem Thema, dass ich alles, was er mir sagte, wie ein Schwamm aufgesogen habe. Seine Ratschläge und Erfahrungen waren für mich extrem wichtig. Filmemachen ist auch so etwas wie Dirigent sein: Ich schaffe den Rahmen, rege an und am Ende wähle ich aus.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Cantet.
erschienen am 16. Januar 2009
Zum Thema
Mit seinem insgesamt fünften Spielfilm gelingt dem Franzosen sein bisher größter Erfolg. Dank "Entre les murs" bleibt nach einer Pause von elf Jahren die Goldene Palme von Cannes im Jahr 2008 endlich wieder im Lande. Laurent Cantet überzeugt die Jury unter dem Vorsitz des kritischen Sean Penn mit seinem Sozialdrama.
Die Klasse (Kinofilm)
Im Zentrum des Geschehens steht ein junger engagierter Lehrer (François Bégaudeau). Der arbeitet an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt. Mit seinen unkonventionellen Lehrmethoden konfrontiert er seine Schüler mit andersartigen Weltanschauen und demokratischen Sichtweisen. Von sich selbst eingenommen, überzeugt von seinen Methoden, bemerkt er nicht, dass er zu weit geht.
2024