3L Filmverleih
Marga Spiegel
"Wehret den Anfängen!"
Interview: Marga Spiegels schwere Zeiten
Marga Spiegel gehört zu den wenigen überlebenden Zeitzeugen des Holocausts. In ihrem Buch "Retter in der Nacht" beschreibt sie die schrecklichen Ereignisse der Jahre 1943 bis 1945. Zusammen mit ihrem Ehemann Menne und ihrer Tochter Karin findet sie Zuflucht bei Münsterländer Bauern. Ihre Erinnerungen sind in "Unter Bauern - Retter in der Nacht" mit Veronica Ferres und Armin Rohde in den Hauptrollen verfilmt. In unserem Gespräch äußert sich die mittlerweile 97 jährige zur Kinoadaption, der deutschen Verantwortung und vermeintlichen Widerstandshelden.
erschienen am 7. 10. 2009
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Marga Spiegel am Set von "Unter Bauern - Retter in der Nacht"
Ricore: Welchen Eindruck haben Sie von "Unter Bauern - Retter in der Nacht"?

Marga Spiegel: Ich habe den Film erstmals in einer Privatvorführung gesehen. Anwesend waren nur die älteste Tochter der Bauernfamilie Aschoff und ich. Dort habe ich ausschließlich auf die Handlung geachtet. Beim zweiten Mal, im Rahmen der Filmfestspiele in Locarno, habe ich mehr auf die einzelnen Darsteller achten können - auf deren Mimik, Sprache und Bewegung. Im Vorfeld hatte ich am meisten Angst davor, dass man die Ereignisse nicht nachvollziehen könne. Speziell das Gefühl der Angst wurde jedoch sehr anschaulich dargestellt, obwohl es sehr schwer ist, Angst wiederzugeben.

Ricore: Wie beurteilen Sie die Auswahl der Schauspieler?

Spiegel: Alle beteiligten Schauspieler wurden nach dem zweiten Weltkrieg geboren. Ich habe aber festgestellt, dass sie sich mit der damaligen Zeit intensiv auseinander gesetzt haben. Sie haben sich bemüht den Film als Warnung an die Folgegenerationen verstanden zu wissen. Ich glaube dass diese Warnung aktuell notwendig ist. Ich hätte damals auch nicht geglaubt, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Wehret den Anfängen, das ist mein größter Wunsch.

Ricore: Erkennen Sie sich in Veronica Ferres wieder?

Spiegel: Mittlerweile schon, aber es hat länger gedauert, mich daran zu gewöhnen. Ich kannte Veronica Ferres vorher nicht, weil ich kaum Fernsehen gucke, sondern lieber lese. Mit der Zeit und nach vielen Gesprächen sowie gegenseitigen Besuchen haben Veronica und ich festgestellt, dass wir sehr viele Eigenschaften teilen. Wir haben uns angefreundet und ich bin davon überzeugt, dass es keine bessere Schauspielerin für diese Rolle gibt. Ich habe mich ihr anvertraut und kenne jetzt auch einige Filme von ihr. Sie hat sich beispielsweise in "Neger, Neger, Schornsteinfeger" auch schon intensiv mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt. Sie ist eine großartige Frau.
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Unter Bauern - Retter in der Nacht
Ricore: Gibt es äußerliche Ähnlichkeiten zwischen Veronica Ferres und der jungen Marga Spiegel?

Spiegel: Ich war kleiner als Sie, aber im Profil gibt es schon eine Ähnlichkeit. Allerdings überwiegen die charakterlichen Übereinstimmungen. Ich mag jemanden, wenn ich ihn gut riechen kann - bei Veronica war das der Fall.

Ricore: Wie gefiel Ihnen Armin Rohde in der Rolle ihres Mannes?

Spiegel: Auch ihn kann ich gut leiden. Er hat schon eine gewisse Ähnlichkeit mit Menne.

Ricore: Ab wann haben Sie der Tochter der Bauernfamilie Aschoff, Anni, die zunächst überzeugte Nationalsozialisten ist, vertrauen können?

Spiegel: Anni war keine überzeugte Nationalsozialistin, sie war von Anfang an eingeweiht. Sie hatte vormals auch schon mal etwas in die Baracken nach Dortmund gebracht. In diesem Fall hält sich das Drehbuch aus dramaturgischen Beweggründen nicht an meine Vorlage.

Ricore: Haben Sie schon als Kind antisemitische Ressentiments in Deutschland gespürt?

Spiegel: Mir war als Kind schon bewusst, dass ich in der Schule besser sein musste, als nichtjüdische Mitschüler, um dasselbe zu erreichen. Oft haben sich die anderen Kinder auch auf dem Schulhof von einem abgesondert. Beim Überreichen des Abiturzeugnisses hat der Schuldirektor zu mir gesagt: "Ihre Beton-Eins in Mathematik ist ja bekannt, aber Juden können ja immer gut rechnen!" Antisemitismus kam nicht nur in den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland zum Tragen. Hitler stieß hier auf fruchtbaren Boden für seine teuflische Saat.

Ricore: Hatten Sie einen Plan für den Fall, dass die Nazis den westfälischen Landstrich nach Juden durchsuchen würden?

Spiegel: Ich und mein Mann Menne haben nie darüber gesprochen was passieren würde wenn eines Tages die Nazis kommen würden. Ich war in diesem Punkt naiv. Wir lebten in einer Baracke in Dortmund und versuchten mit Lebensmittelkarten zu überleben. Allerdings waren die Karten mit einem J überstempelt und wir bekamen weder Gries, Hülsenfrüchte noch Butter oder Milch. Menne hatte dann den Mut verbotenerweise mit dem Zug nach Kapelle zu fahren um sich dort etwas zu essen zu holen. Ein Stück Wurst von dem, ein Stück Speck von jemand anderem. Ein Bauer hat ihm dann davon berichtet, dass ein Nachbarsjunge, der Fahrer bei der Armee war, gesehen hatte wie Juden in Krakau zunächst Erdlöcher ausheben mussten, hernach dort hingelegt und dann mit Maschinenpistolen erschossen wurden. In dieser Form hatten wir es noch nie gehört, ich war geschockt.
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Marga Spiegel und Veronica Ferres
Ricore: Gab es im Vorfeld Anzeichen, dass die Bauern Ihnen helfen würden?

Spiegel: Ein Bauer, den Menne auf seinen Fahrten öfter traf, hat damals zu meinem Mann gesagt: "Wenn die Nazis kommen, dann verstecke ich dich!" Er war Kirchenvorsteher und sich durchaus der Gefahr bewusst. Daraus ergibt sich für mich retrospektiv folgender Leitgedanke: die Vision, der Gedanke ist alles! Durch diese Option hatten ich und mein Mann einen kleinen Hoffnungsschimmer. Das Problem war nur, dass auf den Bauernhöfen oft Hitlerjungen zur Erntehilfe eingesetzt wurden. Später war es genau einer dieser Jungen der meinen Mann in seinem Versteck entdeckt und verraten hat. Jedoch will ich nochmal betonen, dass viele Bauern auch spontan ihre Hilfe anboten und sie sich alle der Gefahr bewusst waren.

Ricore: Was waren Ihrer Meinung nach die Beweggründe der Bauern, Ihnen zu helfen?

Spiegel: Sie folgten einzig ihrem christlichen Glauben und ihrer Menschlichkeit. Es waren keine politischen Motive. In alten Psalmen heißt es: wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Menschheit.

Ricore: War Ihnen die Gefahr immer bewusst?

Spiegel: Es haben ja nur eine Handvoll Leute davon gewusst. Die Bauern haben unglaublichen Mut bewiesen. Der Bauer Aschoff hat einmal gesagt: "Es waren doch auch Menschen!" Diese Einstellung war damals nicht alltäglich. Auf dem Plumpsklo des Bauernhofs habe ich einen Zeitungsausschnitt entdeckt, indem stand, dass in Amsterdam drei Holländer erschossen wurden, weil sie Juden versteckt hielten.

Ricore: Hatten Sie irgendwann Hoffnung, dass sich alles zum Besseren wenden wird?

Spiegel: In der Zeit vor Stalingrad gab es für mich keine Hoffnung. Die Baracken in Dortmund waren schon nicht mehr bewohnbar. Voller Schimmel, keine Toilette, kein fließendes Wasser. Einfach erbärmlich. Am Borsigplatz gab es damals eine Tafel mit einer Europakarte. Mit kleinen Fähnchen wurde das deutsche Reich markiert. Daran konnte ich erkennen, dass sich das Territorium stetig vergrößerte. Nur Idealisten hatten noch Hoffnung. Ein befreundeter Kommunist besuchte uns in dieser Zeit häufig und sagte zu meinem Mann: "Menne, du musst nur durchhalten!" Ich hätte diesen Kerl am liebsten rausgeschmissen, doch er hat tatsächlich Recht behalten.
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Marga Spiegel am Set von "Unter Bauern - Retter in der Nacht"
Ricore: Wie beurteilen Sie das Verhalten nichtjüdischer Mitbürger zur damaligen Zeit?

Spiegel: Viele waren Mitwisser. Die Meisten haben weggesehen und auch das empfinde ich als Schuld. Es ist die junge Generation die sich jetzt nach den Ereignissen erkundigt.

Ricore: Wie beurteilen Sie das damalige Verhalten der deutschen Nachbarstaaten?

Spiegel: Der dänische König hat damals gesagt, er hefte sich einen Judenstern ans Revers, wenn Juden in seinem Land behelligt werden und hat dann in einer Nacht- und Nebelaktion alle dänischen Juden mit Zügen in Richtung deutsche Konzentrationslager abtransportieren lassen. Die Nachbarstaaten haben erst begonnen, Juden zu deportieren, nachdem sie von Nazi-Deutschland überfallen wurden, dass muss man erwähnen. Ein Freund von mir, der Vater von Paul Spiegel, ist nach Holland geflohen und wurde dort von den Nazis aufgegriffen. Pauls Schwester, Röschen, wurde dort als siebenjährige von der SS aus einem Lebensmittelladen entführt. Die Familie hat das Kind nie wieder gesehen.

Ricore: Wie erklären Sie sich heute die damaligen Ereignisse?

Spiegel: Ich habe mittlerweile verstanden was damals passiert ist. Heute bin ich überzeugt, dass alle Deutschen, mit wenigen Ausnahmen, froh waren, ihre Juden los zu sein. Ich sage nicht, dass es ihnen Recht war, dass sie umkamen. Mit ihrem Verschwinden gab es jedoch keine Konkurrenz mehr. Das gilt für Banker, Kaufleute und Künstler. Ansonsten wäre der Holocaust nicht möglich gewesen. Wir sind die einzige jüdische Kleinfamilie der Region, die den Holocaust komplett überlebt hat. Leider ist mein Kind vor vier Jahren verstorben.

Ricore: Viele Holocaust-Überlebende sind nach Israel oder in die USA emigriert. Warum sind Sie in Ahlen geblieben?

Spiegel: Das war eine Entscheidung meines Mannes. Ich habe diesen Entschluss geteilt, weil ich es nicht als Martyrium empfand in Ahlen weiter zu leben. Für meinen Mann gab es keine andere Möglichkeit, weil er kein Englisch sprach. Zudem waren die Bauern seine Freunde. Er war Deutscher, sehr bodenständig, ein bewusster Westfale und zugleich Jude. Er hatte mit 18 Jahren schon das eiserne Kreuz gehabt und sich freiwillig zum ersten Weltkrieg gemeldet. Deutschland war seine Heimat.
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Marga Spiegel am Set von "Unter Bauern - Retter in der Nacht"
Ricore: Was war retrospektiv für Sie persönlich das größte Unglück?

Spiegel: Der Verlust meiner Lieben. 37 Menschen der Familie Spiegel wurden von den Nazis umgebracht. Besonders an die Kinder mit ihren fragenden Augen erinnere ich mich immer noch. Das wird nicht aufhören. Ich habe versucht es zu verarbeiten - ohne Erfolg.

Ricore: Wie geht Deutschland Ihrer Meinung nach mit seiner Schuld um?

Spiegel: Ich hoffe dass die Deutschen aus den Ereignissen gelernt haben. Persönlich glaube ich, dass ich einen Schutzengel hatte, aber Regisseur Ludi Boeken sagt, dass ich an jedem Finger einen gehabt habe. Das Erlebte ist sehr schwer glaubhaft an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Für mich waren weder Kardinal von Galen noch Graf von Stauffenberg wirkliche Widerstandskämpfer. Beide haben erst reagiert als ihnen persönlich das Wasser bis zum Hals stand. Von Galen beispielsweise hat gesehen wie in Münster am helllichten Tag 314 Juden deportiert wurden und hat keinen Finger gerührt.

Ricore: Wie geben Sie Ihr Wissen weiter?

Spiegel: Zum Einen in Form des Buches "Retter in der Nacht", zum Anderen habe ich viele Schulen in Ahlen und im Umkreis besucht, um den Schülern von den damaligen Ereignissen zu berichten. Die Tantiemen meines Buches und des Films spende ich einem Krankenhaus in Israel. Als ich es einst besuchte, mussten die Ärzte noch in Zelten operieren. Mittlerweile habe ich fast 14.000 Euro gesammelt und die dortigen Zustände haben sich deutlich verbessert.

Ricore: Was ist Ihr Anliegen?

Spiegel: Zu warnen. Ich habe einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und stehe oft auf der Seite des Verlierers. Mir ist wichtig, dass der Film "Unter Bauern - Retter in der Nacht" auch politisch etwas bewegt und Menschen zum Nachdenken anregt. Unsere jetzige Zeit ähnelt in Teilen der Zeit nach dem verlorenen ersten Weltkrieg.

Ricore: Frau Spiegel, wir bedanken uns für das Gespräch.
erschienen am 7. Oktober 2009
Zum Thema
Marga Spiegel wird am 21. Juni 1912 in Hersfeld geboren und lebt zunächst mit ihrer Familie im hessischen Oberaula. Ihr Physik-Studium in Frankfurt muss sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung nach dem 1. Semester abbrechen. Kurz darauf heiratet sie Siegmund 'Menne' Spiegel und zieht mit ihm nach Ahlen, wo ein Jahr später Tochter Karin zur Welt kommt. Unter Bauern - Retter in der Nacht" verfilmt. Am am 19. Juli 2010 bekommt sie das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik..
Auf der Jagd nach jüdischen Bürgern durchkämmen Nationalsozialisten im Jahr 1943 auch das Münsterland. Das Ehepaar Marga (Veronica Ferres) und Menne Spiegel (Armin Rohde) taucht mit ihrer Tochter Karin (Luisa Mix) unter. Bei Bauernfamilien der Region finden sie Schutz, aber noch lange keine Sicherheit. Regisseur Ludi Boeken verfilmt die Erinnerungen von Zeitzeugin Marga Spiegell. Nicht nur die überzeugenden Schauspieldarbietungen und die authentische Kulisse überzeugen.
2024