Zorro Film
Alain Gsponer
"Alles wird verkürzt"
Interview: Alain Gsponer zu Lügen
Von den Leiden eines unsicheren jungen Mannes handelt "Lila, Lila". David Kern (Daniel Brühl) wünscht sich nichts sehnlicher, als von seiner Herzdame Marie (Hannah Herzsprung) beachtet zu werden. Dazu gibt er sich als Schriftsteller aus. In unserem Interview verrät uns Regisseur Alain Gsponer, mit welcher Lüge er bisher ungestraft davon kam. Um Martin Suters Roman verfilmen zu dürfen, ließen er und sein Team sich etwas Besonderes einfallen. Trotz seiner erst 33 Jahre wehrt sich Gsponer gegen den allseits grassierenden Jugendwahn und sorgt sich um die Zukunft des Lesens.
erschienen am 16. 12. 2009
Falcom Media Group
Lila, Lila
Ricore: Wie sind Sie darauf gekommen, Martin Suters Roman zu verfilmen?

Alain Gsponer: Produzentin Andrea Willson von Falcom fragte mich, ob ich an Martin Suter interessiert sei. Da wurde ich sofort hellhörig, weil er in der Schweiz so etwas wie ein Star ist. Ich kannte viele seiner Bücher, "Lila, Lila" jedoch nicht. Es kam zu der Zeit gerade erst raus. Dann habe ich es gelesen und sofort mein OK gegeben.

Ricore: Wie einfach bzw. wie schwierig war es, ihn von einer Verfilmung zu überzeugen?

Gsponer: Das Problem war, dass Suter aufgrund seiner schlechten Erfahrung mit deutschen Verfilmungen wahrscheinlich nicht die Rechte an eine deutsche Produktionsfirma verkaufen würde. Wir wussten, dass viele Firmen interessiert waren, was die Angelegenheit erschwerte. Falcom kam dann auf einen interessanten Coup. Sie wussten, dass Suter begeistert gewesen war, wie Daniel Brühl das Hörbuch gelesen hatte. Da haben sie die Kombi geknüpft mit mir als gebürtigem Schweizer und Daniel Brühl. Wir sind gemeinsam mit dem Drehbuchautor Alexander Buresch nach Ibiza geflogen, um Suter um die Rechte zu bitten.

Ricore: Was hat dann den Ausschlag gegeben, dass Sie den Zuschlag erhielten?

Gsponer: Ich glaube, es war hilfreich, dass auch Daniel Brühl dabei war. Suter ist ein höflicher Mensch und weiß Entgegenkommen sehr zu schätzen. Es war ausgesprochen wichtig, dass wir ihm diese persönliche Aufwartung gemacht hat. So etwas hat von den anderen Firmen niemand gemacht.

Ricore: Was hat Sie an dem Buch gereizt?

Gsponer: Ich konnte mich besonders mit der Hauptfigur identifizieren. Es ist ja ein typisches Teenager-Problem, nicht wahrgenommen zu werden. Dass man Geschichten größer macht, als sie sind, um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Und ich habe mir immer ausgemalt, was passiert, wenn die Lügen größer werden. Ich kenne dieses Problem sehr gut und dachte mir, wenn ich es kenne, können viele andere junge Männer und Frauen damit auch etwas anfangen.
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Regisseur Alain Gsponer nachdenklich
Ricore: David Kern gibt sich als etwas aus, das er nicht ist, um die Liebe einer Frau zu gewinnen. Haben Sie auch schon mal als jemanden ausgegeben, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?

Gsponer: Ja, mit einer Lüge habe ich es geschafft, an der Filmhochschule aufgenommen zu werden. Voraussetzung dafür war, dass man vorher mindestens ein zweijähriges Praktikum absolviert. Ich war sehr jung und wollte sofort mit dem Studium anfangen. Das Praktikum habe ich vorgetäuscht. Bei der Aufnahmeprüfung habe ich dann so getan, als hätte ich bereits wahnsinnig viel Erfahrung.

Ricore: Ist dies während ihres Studiums nicht herausgekommen?

Gsponer: (lacht) Nein, erst jetzt kommt die Wahrheit ans Tageslicht!

Ricore: Hat Suter den Drehprozess verfolgt oder beraten?

Gsponer: Suter hat schon Drehbücher verfasst, aber nie zu seinen Romanen. Für ihn ist das ein Rückschritt von einem Endprodukt zu einem Halbprodukt. Aber wir haben ihn in den Prozess involviert und er fand es gut, dass wir mit dem Stoff etwas freier umgegangen sind. Er sollte in der Schlussszene auch eine kleine Rolle übernehmen, aber aus terminlichen Gründen hat das nicht geklappt.

Ricore: Welche Rolle wäre das gewesen?

Gsponer: Eigentlich sollte er anstelle eines Komparsen am Ende dem Schriftsteller die Frage stellen: "Haben Sie ihren ersten Roman nun selbst geschrieben oder nicht?" Der Witz dabei sollte sein, dass der echte Autor den fiktionalen Autor befragt, ob er das Buch verfasst habe. Wir haben es sehr bedauert, dass es nicht geklappt hat und Suter auch.

Ricore: Im Buch wird der Literaturbetrieb satirisch auf die Schippe genommen. Wie wichtig war es Ihnen, das im Film herauszustellen?

Gsponer: Auch da mussten wir ein paar Änderungen vornehmen. Das Thema Buch im Buch funktioniert nämlich besser als das Thema Buch im Film. Das ist eine Ebene, die eins zu eins nicht übertragbar ist. Deswegen haben wir uns nicht nur auf den Literaturbetrieb konzentriert, sondern das Ganze auch auf das Thema Medienhype bezogen.
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Alain Gsponer
Ricore: Wie hat Suter auf die Veränderungen reagiert?

Gsponer: Er hat sehr positiv reagiert und konnte die Änderungen auch immer nachvollziehen. Als Drehbuchautor weiß er, was es heißt, ein Skript zu schreiben und versteht, dass Film eben ein anderes Medium ist. In der 1950er-Jahre-Geschichte im Buch geht es auch ums Eiskunstlaufen. Daraus haben wir Eishockey gemacht. Jacky behauptet im Film, er sei Eishockeytrainer gewesen. Das fand Suter ziemlich eigen. Es war aber auch das Einzige, was er auszusetzen hatte. Als er die Szene dann sah, fand er es aber auch lustig.

Ricore: War er mit dem Endergebnis zufrieden?

Gsponer: Ja. Er hat den Film bei sich zu Hause auf Ibiza gesehen, mich dann angerufen und gesagt, dass er ihm sehr gut gefallen habe. Er möchte auch zur Premiere nach Berlin kommen.

Ricore: Hatten Sie Hannah Herzsprung sofort für die weibliche Hauptrolle im Kopf?

Gsponer: Mit ihr hatte ich schon "Das wahre Leben" gedreht. Die Figur, die sie darin spielt, ging mir nicht aus dem Kopf. Sie ist ganz anders, so gar nicht weiblich. Deswegen konnte ich mir zuerst gar nicht vorstellen, dass Hannah die Marie spielt. Aber Simone Bär, die für das Casting zuständig war, war überzeugt, dass sie die Richtige ist. Dann habe ich gedacht, wenn ich schon halb Deutschland zum Casting einlade, warum nicht noch eine Stunde länger machen und auch Hannah dazu nehmen?

Ricore: Wie hat sie Sie dann überzeugt?

Gsponer: Sie war einfach mit Abstand die Beste beim Casting. Und sie hat vor allem auch Daniel beflügelt. Man hat sofort gespürt, da passiert etwas zwischen den beiden, was ausschlaggebend war.
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Das wahre Leben
Ricore: Sie haben außer mit Hannah Herzsprung auch mit Drehbuchautor Alexander Buresch und Kameramann Matthias Fleischer schon mehrmals zusammengearbeitet. Wie wirkt sich so etwas auf die Stimmung am Set aus?

Gsponer: Das hört sich so an, als ob ich immer mit denselben Leuten zusammenarbeite. Mit den übrigen Beteiligten habe ich noch nie zuvor einen Film gemacht. Aber es hat schon zur Folge, dass die Kamera am Set und die Kamera-Regie mit einer gewissen Systematik arbeiten. Ich drehe im Moment wieder und alle sagen, es sei erstaunlich, wie wenig wir am Set reden. Wenn es immer so viele Auseinandersetzungen darüber gibt, wie etwas gemacht wird, dann herrscht viel mehr Chaos. Das ist bei uns nicht so.

Ricore: Sie beginnen bei ihren Dreharbeiten immer mit einer intensiven Probenphase, was nicht jeder Regisseur so macht. Warum?

Gsponer: In erster Linie geht es dabei um die Figurenfindung. Wenn man die Figuren in "Lila, Lila" betrachtet, sieht man, dass die nicht ganz realistisch, sondern bewusst etwas verdichtet und überhöht sind. Da muss man die Schauspieler drauf vorbereiten. Die Figur des David Kern ist beispielsweise sehr passiv. Man muss dann aber etwas finden, das er in seiner Passivität aktiv spielen kann. Dafür brauchten wir diese Probephase, in der wir so etwas herausfinden und ausprobieren konnten.

Ricore: Geht es dabei auch um die psychologische und emotionale Ebene?

Gsponer: Bei Familienfilmen mache ich immer erst eine psychologische Familienaufstellung, so dass man die Familie spürt. Auch die Emotionalität zwischen David und Marie mussten wir in der Probephase erarbeiten. Denn so etwas ist beim Drehen sonst einfach nicht vorhanden, weil dann immer zu viel Hektik herrscht. Es läuft alles zu oberflächlich, wenn man es vorher nicht geprobt hat.

Ricore: Arbeiten Sie dabei in erster Linie mit Improvisation?

Gsponer: Die Probenphase soll vor allem Raum für Improvisation geben, weil beim Dreh dafür relativ wenig Raum ist. Dabei sollen die Schauspieler sich möglichst frei fühlen und sie dürfen ruhig Fehler machen. Aber man muss dabei auch immer ein Ziel im Auge haben und es ist absolut wichtig, dass man es auch erreicht. Das Ziel ist dabei immer die Findung der Figuren.

Ricore: Sie haben am Berliner Hauptbahnhof bei Originalbetrieb gedreht - gab es dabei Probleme mit Reisenden oder Bahnmitarbeitern?

Gsponer: Haben Sie das Gefühl, dass das in Berlin war? Dann ist uns die Täuschung ja gelungen. Denn wir wollten unbedingt den Eindruck erwecken, dass die Szene dort spielt. Tatsächlich war das in Leipzig, in Berlin haben wir keine Drehgenehmigung bekommen. Es ist aber auch sonst niemandem aufgefallen.
Ricore Text
Ulrich Noethen und Katja Riemann aus "Das wahre Leben"
Ricore: Warum haben Sie Leipzig gewählt und wie war die Situation dort?

Gsponer: Der Bahnhof dort ist ein Sackbahnhof, das ist etwas einfacher zum Drehen. Wir mussten immer die ICEs durchlassen und bei manchen Takes waren einfach zu viele Menschen da, die in die Kamera starren. Die konnten wir dann nicht benutzen. Aber dadurch, dass wir ein kleines Team waren, konnten wir relativ viele Aufnahmen machen und hatten mehr Zeit. Der laufende Betrieb ist unterdessen einfach so weiter gegangen. Natürlich hatten wir viel Wegwerfmaterial, weil Takes durch Schaulustige zerstört wurden. Aber dadurch war es authentisch. Auf diese Weise hat sich auch der Bildhintergrund viel homogener gefüllt, ohne dass wir etwas dafür tun mussten.

Ricore: Also verlief alles reibungslos?

Gsponer: Zwischenfälle gab es eher durch Henry Hübchen. Da gibt es diese Szene, in der er hinter einen Bahnwagen springen muss, um sich daran zu hängen. Das musste genau abgepasst werden. Er ist mal total ins Bild gesprungen und mal ist er zu früh gesprungen. Wir mussten davon ziemlich viele Takes machen.

Ricore: Im Film wird die Meinung vertreten, dass es nicht auf Qualität ankommt, sondern dass man mit der richtigen Vermarktung jeden Müll verkaufen kann. Ist diese Einstellung bezeichnend für die heutige Zeit?

Gsponer: Das herauszustellen war uns schon ein Anliegen. Dass man etwas mit Vermarktung größer machen kann, als es ist. Und dass dies zu einem Mechanismus führt, der dafür sorgt, dass alle Leute das auch so sehen wollen. Man will in einem Star auch den Star sehen. Auch wenn alle Anzeichen dafür sprechen, dass das, was er macht, eigentlich schlecht ist, will man das gar nicht sehen. Man wird blind dabei. Besonders, wenn alle Leute, forciert durch die Medien, dieselbe Meinung vertreten. Das ist schon eine Tatsache, die man heutzutage beobachten kann.

Ricore: Wollten Sie dabei insbesondere die Medien aufs Korn nehmen, in ihrem Wahn, heute neue Stars zu entdecken, um sie dann schon morgen wieder eiskalt fallen zu lassen?

Gsponer: Ich dachte dabei nicht an die Medien allgemein, sondern vor allem an Castingshows. Dort benutzt man diesen Hype schon gerne, um etwas groß aufzubauen. Alle Medien, egal ob Fernsehen, Radio, Zeitschriften oder Internet können von dem Hype um eine Person profitieren. Dabei kann man oft eine Kettenreaktion der Medien beobachten. Das wollte ich aufzeigen.
Ricore Text
Ulrich Noethen mit Regisseur Alain Gsponer am Set von "Das wahre Leben"
Ricore: Leben wir in einer Wegwerfgesellschaft?

Gsponer: In gewissen Bereichen schon. Wenn man sich diese Medienwelt anschaut, kann man schon sagen, es werden Leute aufgebaut, um sie fallen zu lassen. Das geschieht sogar konzeptionell. Das sieht man besonders an den Castingshows. Von denen, die dort zum Superstar werden, bleibt kaum jemand länger im Geschäft. Deren Karriere ist nicht auf eine längere Dauer angelegt. Ein Star wird dort systematisch gemacht.

Ricore: Was halten Sie vom Jugendwahn in den Medien?

Gsponer: Davon halte ich gar nichts. Ich bin ein Mensch, der sehr gerne in Würde altern würde. Aber es ist schon so wie Jacky in "Lila, Lila" zu David sagt: "Du machst die Geschichte zu etwas Besonderem, denn die wollen Frischfleisch". Man kann schon beobachten, dass sich ein frisches, neues Gesicht besser vermarkten lässt. Ich erlebe so etwas auch, wenn man mir ein Drehbuch anbietet, für dessen Inszenierung ich mich nicht geeignet halte. Wenn ich ihnen dann Namen von erfahrenen Regisseuren empfehle, sagen sie mir, wir möchten aber frischen Wind. Sie wollen mich engagieren, einfach weil ich jung bin und anders denke. Alte, bewährte Qualitäten wollen sie gar nicht sehen.

Ricore: Glauben Sie, dass es für Schauspieler ab einem gewissen Alter schwierig ist, interessante Rollen zu bekommen?

Gsponer: Durchaus. Männer haben es da noch etwas leichter als Frauen. Aus zweierlei Gründen: Es gibt weniger männliche Schauspieler als weibliche, und es gibt aber mehr männliche Hauptrollen. Dann ist es auch ein Problem, dass kaum interessante Rollen für Frauen ab 40 geschrieben werden. Bei meinem ersten Film "Rose" mit Corinna Harfouch hatte ich sämtliche Schauspielerinnen in dem Alter zum Casting eingeladen. Sie waren alle sehr glücklich über das Drehbuch. Sie meinten, so eine Rolle würde ihnen sonst nicht mehr angeboten. Es gibt kaum Filme über eine Frau, die noch mitten im Leben steht. Die kann zwar keine Kinder mehr bekommen, ist aber auch noch nicht in den Wechseljahren. Sie hat ernst zu nehmende Probleme, über die man einen interessanten Film machen könnte.

Ricore: Deutschland lebt in einer alternden Gesellschaft. Sollte man nicht gerade deswegen darüber nachdenken, vermehrt Rollen mit älteren Schauspielern zu besetzen?

Gsponer: Da bin ich sehr dafür. Dabei ist nur das Problem, dass viele ältere Schauspieler nicht bis ins hohe Alter durchhalten. Das merke ich auch an etablierten Darstellern, dass sie ab 50 dazu tendieren, immer weniger Filme zu machen. Dadurch wird es wirklich schwierig, Filme mit über 60-jährigen zu besetzen. Da gibt es kaum noch eine Auswahl, da die Leute dann im Rentenalter sind und sich zunehmend zurückziehen wollen. Bei einem Film suchte ich nach einem männlichen Darsteller für eine 75-jährigen, da konnte ich die Kandidaten an einer Hand abzählen.
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Alain Gsponer
Ricore: Also ist es vor allem eine Frage, wie fit die Schauspieler noch sind?

Gsponer: Das auch. Neben der Suche nach dem geeigneten Personal, das eben auch noch in der Lage ist, die Rolle zu spielen, muss man natürlich auch die Themen dafür finden. Das ist ebenfalls nicht so einfach.

Ricore: "Lila, Lila" übt nicht nur Kritik am Literaturbetrieb, sondern ist auch eine Liebeserklärung an die Literatur und ans Schreiben. Glauben Sie, dass er die Zuschauer animieren kann, sich wieder mehr mit Büchern zu beschäftigen oder sogar selbst etwas zu schreiben?

Gsponer: Ich hoffe, dass sich die Leute mal wieder hinsetzen, um zu lesen. Ich will dass sie mit einem guten Gefühl für das Buch aus dem Kino gehen. Die Frage ist natürlich immer, ob ein Film etwas verändern kann. Man sollte als Regisseur nicht vorher schon mit so einem didaktischen Ansatz herangehen. Ob "Lila, Lila" auch zum Schreiben anregt, möchte ich bezweifeln. Denn wir zeigen ja die Ängste eines Autors auf, und was es für einen Rattenschwanz nach sich zieht, wenn man ein Werk veröffentlicht. Man sieht, dass es gar nicht so viel Spaß macht, Autor zu sein und dass dabei auch eine Menge Druck im Spiel ist. Es ist schon ein Propaganda-Film für das Lesen, aber nicht fürs Schreiben.

Ricore: Viele junge Leute lesen heutzutage kaum noch. Glauben Sie, dass Bücher irgendwann aussterben?

Gsponer: Nein, das glaube ich nicht. Man hat das Buch schon so oft für tot erklärt und es ist immer noch da. Was ich aber beobachte ist, dass es zu einer Verküzrung kommt. Dass ich ein über 1.000-seitiges Werk kaum noch lese und einen 300 Seiten langen Roman bevorzuge. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Reflex bei Jugendlichen noch stärker ist. Dass sie Romane gar nicht mehr komplett lesen und zu Novellen übergehen. Diese Verkürzung findet auch beim Film statt. Auf Youtube sind die Filme in der Regel höchstens drei Minuten lang. Es ist daher auch schwieriger geworden, junge Leute zu motivieren, sich einen abendfüllenden Spielfilm anzusehen.

Ricore: Welche Folgen kann diese Tendenz zur Verkürzung Ihrer Ansicht nach haben?

Gsponer: Man denkt und nimmt die Dinge in viel kürzeren Episoden wahr. Wenn Jugendliche in zehn Jahren nur noch bereit sind, ein Buch mit höchstens 90 Seiten zu lesen, dann kann man gar nicht mehr so ein richtiges Epos schreiben. Es würde ja nicht gelesen werden. Dass es soweit kommt, davor habe ich schon Angst.
Verleih
Hannah Herzsprung und Daniel Brühl in Alain Gsponers "Lila, Lila"
Ricore: Woran merken Sie, ob sich ein Buch zur Verfilmung eignet?

Gsponer: Im Prinzip an zwei Dingen. Es muss eine Hauptfigur haben, zu der man eine Empathie herstellen kann. Und zweitens muss auch eine Geschichte vorhanden sein. Deutsche Romane sind oft sehr reflektiert geschrieben und es wird darin eine Atmosphäre beschrieben. Das Geschichtenerzählen ist aber regelrecht verpönt. Für eine Verfilmung muss aber wenigstens ansatzweise eine Handlung erkennbar sein.

Ricore: Welche Art von Büchern lesen Sie in Ihrer Freizeit gerne?

Gsponer: Schwer zu sagen. Ich bin da schon jemand, der auf Mundpropaganda setzt. Mir werden immer wieder Bücher empfohlen und danach richte ich mich dann auch. Es gibt keinen speziellen Stil, der mir besonders gefällt. Ich gehe dabei gerne auf eine Reise und werde überrascht.

Ricore: Denken Sie beim Lesen auch daran, ob der Roman sich für eine Verfilmung eignen könnte?

Gsponer: Inzwischen ja. Ich arbeite gerade an einer weiteren Literaturverfilmung und werde mit Büchern immer mehr zugeballert. Leute kommen auf mich zu, empfehlen mir Werke und fragen, ob ich mir vorstellen könnte, die zu verfilmen. Das führt dazu dass ich privat immer weniger lese. Wenn ich doch dazu komme, ist sogar dann dieser blöde Gedanke ans Filmemachen immer im Hinterkopf.

Ricore: Ein Fluch?

Gsponer: Das Regieführen und die Arbeit an einer Literaturverfilmung hat mir privat das Lesen ein bisschen zerstört. Auch kann ich mir als Filmemacher nicht mehr ganz normal einen Film anschauen, ohne den analysierenden Blick. Der Genuss an Filmen und Literatur wurde mir durch den Beruf schon ein bisschen verdorben.

Ricore: Gibt es für Sie keine Möglichkeit, davon Abstand zu nehmen?

Gsponer: Da bräuchte ich Urlaub. Wenn ich im Arbeitsprozess bin, ist die Freizeitlektüre für mich Arbeit. Wenn ich in den Urlaub fahre und ein Buch mitnehme, dann kann ich es genießen. Erst dann lese ich privat, sonst ist es beruflich.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 16. Dezember 2009
Zum Thema
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2024