Rufus F. Folkks/Ricore Text
Ferzan Ozpetek (Venedig 2008)
Über schwul sein, Toleranz und Freiheit
Interview: Ferzan Ozpeteks Hassliebe zu Italien
Als junger Student kam Ferzan Ozpetek nach Rom, um an der Universität Film zu studieren. Damals sei das Leben in Rom noch ganz anders verlaufen, meint er heute. Die Welt sei offener, toleranter gewesen. Seit dem 11. September 2001 hätten sich jedoch zahlreichen unsichtbare Mauern in den Köpfen der Römer breit gemacht. Mit seinem neuen Film "Männer al dente" versucht er, diese zumindest ein wenig einzureißen. Die bittersüße Komödie erzählt von einem schwulen Sohn, der mit seinem Coming Out seinem Bruder zuvorkommt und seinen Vater ins Krankenhaus bringt. Ozpetek geht es aber nicht nur um mehr Toleranz, sondern auch um die italienische Kultur, die in den vergangenen Jahren drastisch beschnitten wurde.
erschienen am 13. 07. 2010
Prokino
Männer al dente
Ricore: "Männer al dente" ist ein wenig autobiografisch…

Ferzan Ozpetek: Erinnern Sie sich an die etwas seltsame Tante Luciana, dargestellt von Elena Sofia Ricci? Sie verkörpert quasi meine drei Tanten, mit denen ich in meiner Jugend aufgewachsen bin. Auch habe ich meine Beziehung mit meinen Vater aufgearbeitet. Mich zog es immer in das Filmbusiness, das hat ihm gar nicht gefallen. Auch der Konflikt, der im Film zwischen der Mutter und der Großmutter herrscht, hat autobiografische Züge.

Ricore: Inwiefern?

Ozpetek: Nun ja, meine Mutter war konservativer, traditioneller eingestellt als meine Großmutter, die für ihre Verhältnisse sehr modern gelebt und gedacht hat. Aber dennoch haben wir auch in unserer Familie immer gemeinsam an einem großen Tisch gegessen. Das war einfach so.

Ricore: Wie sind Sie eigentlich auf diese Geschichte gestoßen?

Ozpetek: 2003 war ich auf Werbetour in New York. Damals habe ich meinen Film "Das Fenster gegenüber" vorgestellt. Eines Abends habe ich mich mit einem Freund getroffen, den ich schon ewig nicht mehr gesehen habe. Er hat mir dann diese unglaubliche Geschichte erzählt. Sie ist wahr!

Ricore: Sie meinen, die Geschichte hat sich wirklich so zugetragen?

Ozpetek: Ja. Der Bruder meines Freundes ist ihm nämlich am jenem Abend zuvorgekommen, als er selbst seiner Familie von seiner Homosexualität berichten wollte (lacht). Das hat ihn natürlich an seinem eigenen Coming-Out gehindert. Seine Mutter meinte dann zu ihm: "Zum Glück haben wir noch dich. Soll dein Bruder doch so leben!" Plötzlich stand er im Mittelpunkt der Familie, alle Hoffnungen stützten sich auf ihn. Er war darüber sehr unglücklich.

Ricore: Stimmt es, dass Sie 16 Versionen des Drehbuchs geschrieben haben?

Ozpetek: Ja, das ist wahr. Ich habe das Drehbuch aber nicht alleine geschrieben, sondern mit Ivan Cotroneo. Er ist ein großartiger Autor. Anfangs haben wir sechs oder sieben Mal das Buch überarbeitet, später noch einige Male mit den Schauspielern, da sich bei den Proben immer wieder neue Dinge aufgetan haben. Jeden Tag haben wir neue Szenen ausprobiert, die abhängig vom jeweiligen Ambiente waren.
Prokino
Szene aus: Männer al dente
Ricore: Ich stelle mir die Finanzierung für diesen Film schwer vor, gerade mit diesem Thema...

Ozpetek: Ich habe noch für keinen meiner Filme öffentliche Unterstützung bekommen. Mein großes Glück bisher war, dass ich noch nie auf staatliche Gelder angewiesen war.

Ricore: Wie haben Sie Ihre Filme dann finanziert?

Ozpetek: Bisher liefen meine Filme immer so gut, dass ich daraus das nächste Projekt finanzieren konnte (lacht).

Ricore: Gerade die italienische Kulturlandschaft ist mit ihren Förderungen und Unterstützungen sehr knausrig...

Ozpetek: Die Kultur in Italien befindet sich derzeit in einer großen Krise. Erst im Mai dieses Jahres wurden zum wiederholten Male kulturelle Förderungen gestrichen. Ich persönlich finde das sehr schwierig, traurig und deprimierend. Das was in Italien derzeit geschieht, ist in meinen Augen absurd und passt eher in einen Science-Fiction-Film.

Ricore: Erschwert sich dadurch auch die Arbeit der Filmemacher?

Ozpetek: Auf jeden Fall. Aber es sind ja nicht nur Regisseure betroffen. Mit ihnen verlieren ganze Familien ihren Lebensunterhalt. Aber die Regierung beschneidet ja nicht nur das Kino, auch Theater, Film- und Fernsehen oder die Literatur sind betroffen. Es ist wirklich ein Desaster für die gesamte italienische Kultur. Ich habe manchmal das Gefühl, unsere Regierung will gar keine Kultur, schon gar keine Vielfalt. Ich kann das nicht verstehen.

Ricore: Dennoch sind Sie 1976 nach Rom gezogen, um hier zu studieren...

Ozpetek: Ich habe in Rom studiert und mich dann verliebt. Manchmal geschehen eben Dinge, die man nicht lenken kann. Man verliebt sich und entscheidet sich dann, zu bleiben. Ich liebe Italien sehr, ich fühle mich mit dem Land und den Leuten verbunden. Ich finde, dass Italien Atmosphäre ausstrahlt, viel Geschichte und Kultur hat. Wie auch die Türkei. Ich bin sehr glücklich, dass ich zwischen diesen beiden Ländern hin- und herpendeln kann.
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Hamam - Das türkische Bad
Ricore: Was gefällt Ihnen am heutigen Rom am besten?

Ozpetek: Das kann ich Ihnen nicht beantworten, derzeit pendle ich zwischen meinen Wohn-, dem Arbeits- und Schlafzimmer sowie der Küche. Vor lauter Arbeit komme ich kaum noch raus.

Ricore: Die Arbeit hat sich aber ausgezahlt.

Ozpetek: Ja, auf jeden Fall. "Männer al dente" wurde bereits in mehrere Länder verkauft. Es ist selten, dass ein italienischer Film so viel Erfolg hat. Das bedeutet aber auch, dass ich viel unterwegs bin. Heute kehre ich noch nach Rom zurück. Morgen geht es dann weiter nach Los Angeles, wo eine Retrospektive über mich gezeigt wird. Danach bin ich Frankreich und Deutschland, pünktlich zu den jeweiligen Kino-Starts.

Ricore: Ich möchte nochmal auf das kulturelle Leben in Italien zurückkommen. Hat sich in Ihren Augen seit den 1960er Jahren etwas verändert?

Ozpetek: Es hat sich sehr viel verändert. Manches hat sich verschlechtert. Manchmal entstehen aber gerade aus widrigen Situationen schöne Dinge. Das ist immer so. In Zeiten der Depression werden manche ganz besonders kreativ.

Ricore: Hat sich auch in Bezug auf die Akzeptanz von Homosexualität etwas verändert?

Ozpetek: Zuerst möchte ich etwas klarstellen: Das Wort "Homosexualität" oder auch "Heterosexualität" bezüglich einer Person gefällt mir gar nicht. Man kann einen Menschen nämlich nicht aufgrund seines Unterkörpers definieren. Man sollte sich angewöhnen, Menschen anders zu sehen. Die Wörter homosexuell und heterosexuell finde ich daher absurd.
Prokino
Szene aus: Männer al dente
Ricore: Aber selbst in Ihrem Film kommen diese Bezeichnungen vor.

Ozpetek: Natürlich, aber nur aus dem Grund, weil man im öffentlichen Sprachgebrauch nicht umhin kommt, diese zu verwenden. Aber um auf Ihre erste Frage zurückzukommen: Ich kann und will nicht beantworten, ob Italiener tolerant sind oder nicht. Ich finde, dass sich die gesamte Gesellschaft - nicht nur die italienische - derzeit in Richtung Intoleranz bewegt - und das schon seit Jahren. Natürlich gibt es in gewissen Ländern mehr Rechte für gleichgeschlechtliche Paare. Mancherorts dürfen sie sogar heiraten. Ich finde aber, man muss in den Köpfen der Menschen noch sehr viel tun, damit diese aufgeschlossener und toleranter werden. Immerhin wird ein großer Teil der Menschheit von Religionen beeinflusst. Und viele große Religionen sträuben sich gegen Homosexualität, verurteilen gleichgeschlechtliche Paare oder bestrafen sie gar mit dem Tod.

Ricore: Sie finden also, man muss die Menschen erziehen, nicht die Politik?

Ozpetek: Das ist grundlegend. Es ist natürlich positiv, dass sich diverse Regierungen tolerant zeigen, aber die einzige Möglichkeit, Menschen zu mehr Toleranz zu erziehen, ist über die Kultur.

Ricore: War dies vor rund 35 Jahren wirklich besser?

Ozpetek: Ich finde schon. Es herrschte damals eine andere Atmosphäre. Die Menschen waren viel offener. Die Welt an sich hat sich verändert, vor allem seit dem 11. September 2001. Viele unsichtbare Mauern haben sich seitdem in den Köpfen der Menschen aufgebaut. An der Stelle von alten, ausgedienten Feinden, wie der Sowjetunion, sind neue getreten. Spricht man heute von Menschen, fragt man als erstes nach ihrer Religion, ihrer Sexualität. Das sind Mauern, die in den letzten Jahren verstärkt entstanden sind.

Ricore: Trägt auch der Papst dazu bei, dass vor allem Italien in dieser Beziehung hinterherhinkt?

Ozpetek: Ich glaube nicht, dass der Papst einen großen Einfluss hat. Er kann nicht anders. Er hat seine vorgefertigten Strukturen, die er nicht aufbrechen kann. Es wäre völlig unglaubwürdig, wenn er plötzlich sagen würde, Männer und Frauen dürfen ab sofort untereinander heiraten. Viel wichtiger ist doch, dass Politiker die Freiheit hätten, dies zu sagen. Sie müssen weder auf den Papst noch auf sonst wen hören. Sie können sich der Kirche entgegenstellen und Gesetze erlassen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen mehr Rechte geben.

Ricore: Was trägt in Ihren Augen am meisten für mehr Toleranz bei?

Ozpetek: Grundlegende Werte wie Liebe und Respekt sind in meinen Augen immer noch am Wichtigsten. Es sind auch jene Dinge, die in unserer Welt heute am meisten vermisst werden. Wir versuchen immer, dem anderen die Schuld an etwas zu geben, anstatt sich selber an die Hand zu nehmen. Wir respektieren heute unser Gegenüber viel zu wenig. Daher rührt auch die Intoleranz, die in den letzten Jahren rasant angestiegen ist.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 13. Juli 2010
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