Marie-Lou Sellem
Marie-Lou Sellem
"Hundert Facebook-Freunde bedeuten nichts"
Interview: Marie-Lou Sellem: Tochter hat Vorrang
In Franz Müllers Beziehungsdrama "Die Liebe der Kinder" lernt Marie-Lou Sellem ihren Partner via Internet kennen. Privat nutzt die deutsch-französische Schauspielerin die virtuelle Welt hauptsächlich für den Briefverkehr. Ab und zu kauft sie auch schon mal was ein, wie sie uns in dem entspannten Interview verrät. Soziale Netzwerke wie Facebook empfindet sie allerdings eher als Heuschreckenplage. Außerdem verrät uns die sympathische Theater- und Filmdarstellerin, wer in ihrem Leben die Hauptrolle spielt.
erschienen am 23. 08. 2010
Real Fiction Film
Alex Brendemühl und Marie-Lou Sellem in "Die Liebe der Kinder"
Ricore: In "Die Liebe der Kinder" lernen Sie ihren Partner via Internet kennen. Haben Sie selbst schon mal Erfahrung mit Internet-Partnerbörsen gemacht?

Marie-Lou Sellem: Nein, ich selbst nicht. Aber eine gute Freundin von mir hat ihren Partner via Internet gefunden. Es ist schon so, dass diese Art von Kommunikation einen immer größeren Platz in unserer Gesellschaft einnimmt.

Ricore: Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Sellem: Ich glaube, das hat zweierlei Gründe. Es verschafft einem die Möglichkeit, sich eine Weile unerkannt zu beschnuppern. Man wähnt sich in einer gewissen Sicherheit und kann beliebig lange überlegen, ob man Lust hat, den anderen zu treffen. Dies ist vor allem für all jene vom Vorteil, die sich in der realen Welt unsicher sind. Andrerseits kostet es nichts, wenn man sich im Internet trifft und eine Zeit lang chattet. Draußen in der Welt wird es einfach immer härter, während es drinnen immer leichter wird, so könnte man es vielleicht zusammenfassen.

Ricore: Ist diese Entwicklung auch ein Symbol unserer Gesellschaft - weniger Spontanität, wenig Direktheit, alles abwägen und den scheinbar sichersten Weg wählen?

Sellem: Es hat sicherlich etwas damit zu tun. Abgesehen von der Partnersuche spielen sich auch andere Dinge im Internet ab: man kann virtuell einkaufen, Fernsehen, Spielen oder sich mit Freunden verabreden. Die Zukunft gehört nun mal dem Internet und wir müssen uns wohl oder übel damit abfinden. Man denke da nur an Facebook. Da hat man beispielsweise hunderte Freunde, kennt aber kaum jemand von denen. Hat man Geburtstag, bekommt man unzählige Glückwünsche, das ist wie eine Heuschreckenplage. Das verleiht einem natürlich ein gesteigertes Selbstbewusstsein, bedeutet aber de facto nichts.

Ricore: Sind Sie selbst bei Facebook?

Sellem: Natürlich nutze auch ich das Internet und bin bei Facebook, allerdings verwende ich es sehr eingeschränkt. Für mich ist es mehr ein Briefkasten, da mein ganzer Briefverkehrt übers Internet verläuft. Ab und zu kaufe ich auch mal was (lacht). Aber im Grunde bin ich ein bescheidener Internetnutzer.
Real Fiction Film
Marie-Lou Sellem schaut aus dem Fenster
Ricore: Kommen wir zurück zum Film: Sie gründen mit Ihrem Filmpartner eine moderne Patchwork-Familie. Dieses Familienmodell ist auch im realen Leben immer mehr im Kommen. Warum?

Sellem: Patchwork-Familien bilden sich gerade deshalb, weil sie funktionieren. Im Film lebe ich in einem solchen Familienmodell. Ob Patchwork-Familie oder nicht, jede Familie sieht sich in der heutigen Zeit mit diversen Probleme konfrontiert. Daher muss man sich nach neuen Formen umsehen. Letztendlich bleibt die traditionelle Familienstruktur erhalten, nur wählt man eben andere Rahmenbedingungen, die man sich nach eigenen Vorstellungen gestalten kann. Patchwork-Familien sind heute kein Novum mehr. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass solche Familienmodelle bereits Tradition geworden sind. Schauen Sie sich um, es gibt nur noch wenige sogenannte Stammfamilien. Partner trennen sich und schließen sich mit ihren Kindern zu neuen Familien zusammen. Damit das funktioniert, muss man sich natürlich lieben. Aber das ist Grundvoraussetzung eines jeden Zusammenlebens.

Ricore: Der Begriff Familie wird oft inflationär verwendet...

Sellem: In meinen Augen ist die sogenannte 'historische Familie' schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts abgeschafft. Sie wird natürlich immer noch aufrechterhalten, warum auch immer. Der Begriff wird heute regelrecht missbraucht, Beispiel Wahlkampf. Was uns da präsentiert wird, ist ein unglaublich bigottes Bild einer Familie, das es schon längst nicht mehr gibt. Vereinzelt gibt es solche Familien noch, und dagegen gibt es auch gar nichts zu sagen. Im Gegenteil. Das sollte geschätzt und bewahrt werden. Aber es ist kein fester Wert. Patchwork-Familien existieren genauso intensiv.

Ricore: "Die Liebe der Kinder" ist erst der zweite Film von Franz Müller...

Sellem: Genau, "Kein Science Fiction" war sein erster Film, mit dem hat er ziemlich Furore gemacht. Er ist in eigentlich kein junger Regisseur mehr. Er schreibt schon lange über Film, hat eine eigene Zeitung, die er mitgestaltet. Er kommt aus der bildenden Kunst, hat Mathematik studiert. Franz hat eine unglaubliche Vita hinter sich. Insofern kann man ihn nicht als Anfänger bezeichnen.

Ricore: Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie das Buch mitentwickelt?

Sellem: Ja, im weitesten Sinne. Die Idee zu "Die Lieber der Kinder" stammt natürlich von ihm, aber über die drei Jahre Entstehungszeit hat er immer wieder mit mir Rücksprache gehalten. Das spricht von großer Qualität. Er war in der Lage, Inputs aufzunehmen, umzuwandeln und mit Kritik umzugehen. Mit den Ideen der Schauspieler umzugehen, ist die höchste Qualität, die ein Regisseur haben kann. Im Filmbereich ist das ja anders als im Theater. Im Film hat man viele Helfer und Helfershelfer, vom Kameramann über den Tontechniker, die Schauspieler, den Art Director und nicht zu vergessen den Drehbuchautor. Er hat sich hervorragend mit allen Mitgliedern der Gruppe ausgetauscht. Das spricht in meinen Augen von Erfahrung.
Real Fiction
Szene aus: Die Liebe der Kinder
Ricore: Warum hat es so lange gedauert, bis "Die Liebe der Kinder" schließlich finanziert wurde?

Sellem: Das hing damit zusammen, dass wir zwei Mal nicht finanziert wurden. Bis wir endlich gedreht haben, war es ein langer Weg. In dieser Zeit hat Franz Müller immer wieder hartnäckig meine Meinung gefordert.

Ricore: Wie haben Sie ihn kennen gelernt?

Sellem: Er hat mich kennen gelernt. Er hat mich irgendwo schon mal gesehen und dann war ihm wohl schnell klar, dass ich es sein sollte.

Ricore: Immer wenn Ihr Name fällt, werden Stimmen laut, dass Sie öfters fürs Kino arbeiten sollen. Liegt es an mangelnden Angeboten, dass sie vornehmlich fürs Fernsehen arbeiten?

Sellem: Ich habe schon einige Kinoprojekte abgelehnt. Wenn ich fürs Kino arbeite, muss es ein Projekt sein, hinter dem ich voll und ganz stehe. Schließlich kauft sich ein Kinozuschauer die Karte und geht mit einer gewissen Erwartungshaltung hinein. Tatsächlich gibt es nicht so viele gute Kinoprojekte. Ich habe auch schon mal einen Film gemacht, der mir am Ende nicht gefallen hat. Den hätte ich nicht machen müssen. Die andere Sache ist die, dass sehr viele gute Projekte nicht finanziert und dadurch natürlich auch nicht inszeniert werden.

Ricore: Hat es Ihnen auch schon mal leid getan, ein Drehbuch abgelehnt zu haben?

Sellem: Vor kurzem hatte ich den Fall, dass ich ein Drehbuch für einen Kinofilm zugeschickt bekommen habe, das mir nicht gefallen hat. Ich wollte das Projekt nicht machen. Später habe ich den Regisseur kennen gelernt, wir haben uns gut verstanden und jetzt tut es mir furchtbar leid. Ich bin hin- und hergerissen. In der Regel ist es ja so, dass man bei einem schlechten Buch nicht mehr viel rupfen kann. Da muss man schon jemand Unglaubliches an der Seite haben, aber auch der kriegt das nur selten hin. Im Theater ist das etwas anderes, da geht das.
Real Fiction Film
Regisseur Franz Müller
Ricore: Wäre es eine Option für Sie, in Frankreich zu arbeiten?

Sellem: Das würde ich sehr gerne machen. Vor geraumer Zeit habe ich mir überlegt, in Paris eine Agentur zu suchen. Meine Eltern leben ja dort. Aber ich habe schlicht und ergreifend keine Zeit dafür. Und nicht zuletzt ist meine Familie hier.

Ricore: Sie machen auch den Radio-Tatort. Wie erklären Sie sich den Erfolg von Radio-Hörspielen?

Sellem: Ich weiß gar nicht, wie erfolgreich die sind. Ich vermute, sie kommen ganz gut an, denn normalerweise machen wir einen "Tatort" pro Jahr. Dieses Jahr legen wir noch einen zweiten drauf.

Ricore: Worauf muss man bei Hörspielen achten?

Sellem: Man muss sich sehr schnell in die Stimme einfühlen, denn die Figuren müssen plastisch werden. Ich finde, dies ist eine unglaublich saubere Arbeit, und macht sehr viel Spaß. Man ist seine eigene Gestalt, niemand kann einem ein Bild drüber legen oder ein schlechtes Kostüm verpassen. Und die Dialoge sind auch sehr gut. Zur Not könnte man noch dran feilen, aber ich habe mit André Jung einen großartigen Partner. Mit ihm zusammen geht das super von der Hand.

Ricore: Sie arbeiten viel, machen Theater, Filme, Hörspiele und den Radio-Tatort. Geht dabei manchmal die Leidenschaft für die Schauspielerei verloren?

Sellem: Nein, die geht nur dann verloren, wenn die Projekte leidenschaftslos sind. Das hat nichts mit der Größe des Projekts zu tun, sondern mit dem Material, das man erzählen will. Das klingt jetzt vielleicht blöd, aber wenn Drehbücher gut sind, macht die Arbeit mehr Spaß. Es gibt Sachen, die sind wirklich jämmerlich, die man beim Lesen schon fast nicht erträgt. Und das ist für einen Schauspieler schrecklich. Man ist ja schließlich in diesem Beruf, weil man etwas mitteilen will. Manchmal hat das beinahe schon etwas Missionarisches an sich.
Real Fiction Film
Marie-Lou Sellem verliert in "Die Liebe der Kinder" die Nerven
Ricore: Ziehen Sie Ihre Familie zu Rate, wenn es um neue Projekte geht?

Sellem: Ja. Ich bespreche mich regelmäßig mit meinem Mann, der Kameramann ist. Er arbeitet eng mit Regisseuren und Drehbuchautoren zusammen und kennt sich im Metier sehr gut aus. Ursprünglich hat er ja auch Regie studiert. Ich frage ihn schon um Rat. Auch was die Organisation unserer Familie betrifft. Da hat meine Tochter aber absoluten Vorrang. Ich gehe nicht einige Monate nach Südafrika, wenn ich weiß, dass sie beispielsweise eine schwierige Phase in der Schule durchmacht.

Ricore: Sie haben auch ein Sabbatjahr genommen.

Sellem: Genau, das war, als sie auf die französische Schule kam. Ich wusste, das wird hart für sie. Aber meine Tochter hat Vorrang. Sie ist quasi die Hauptdarstellerin in unserer Familie.

Ricore: Haben Sie und Ihr Mann schon mal zusammengearbeitet?

Sellem: Ja, so haben wir uns kennengelernt (lacht) - auf der Hochschule. Danach haben wir noch ein oder zwei Mal zusammen etwas gemacht. Auch am Theater.

Ricore: Ist es schwierig, als Paar beruflich zusammen zu arbeiten?

Sellem: Am Anfang waren wir wahnsinnig verliebt. Da haben wir keine Schwierigkeiten gesehen. Die anderen Male waren ganz gut. Es war nicht schwierig, aber es ist sicherlich auch nicht normal. Der Regisseur, mit dem ich jetzt am Theater arbeite, arbeitet seit mehr als zehn Jahren mit seiner Frau zusammen. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 23. August 2010
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2024