Universal Pictures (UPI)
Lars Kraume ("Die kommenden Tage")
Sympathie für Radikale
Interview: Lars Kraumes Zukunftsvision
Lars Kraume ist zunächst Assistent eines Porträtfotografen und anschließend freiberuflicher Fotograf. Nach dem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie verschlägt es ihn zum Fernsehen, für das er unter anderem "Der Mörder meiner Mutter" realisiert. Im Kino debütiert er 2001 mit "Viktor Vogel - Commercial Man". Ein Wagnis geht Kraume mit "Die kommenden Tage" ein und spielt zudem in der Zukunft. Das Drama gehört mit über sechs Millionen Euro Produktionskosten zu den teuersten deutschen Projekten überhaupt. Im Interview erzählt uns der gebürtige Italiener, was er von der Zukunft erwartet und warum er Sympathien für Radikale hegt.
erschienen am 23. 11. 2010
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Die kommenden Tage
Ricore: Herr Kraume, ist "Die kommenden Tage" ein Science-Fiction? Lars

Kraume: Nein (lacht).

Ricore: Von der Tageszeitung 'Die Welt' wurde er vor ein paar Monaten als Science-Fiction angekündigt.

Kraume: Im Grunde ist es so: Diese Genredefinitionen sind immer relativ eng. Natürlich ist es einfach zu sagen, dass ein Film, der in der Zukunft spielt, ein Science-Fiction-Film sei. Aber Science-Fiction kommt aus einer anderen Zeit und trägt die Idee einer Wissenschaftsfiktion. Darum geht es uns ja gar nicht so sehr. "Die kommenden Tage" ist ein Zukunftsdrama. Wir erfinden ja nicht viel. Es fliegen keine Menschen mit irgendwelchen Aliens im All herum, sondern es sind alles sehr realistische und glaubwürdige Entwicklungen. Deshalb ist die Bezeichnung Science-Fiction trügerisch. Aber ich verstehe die Einordnung schon.

Ricore: Warum war es Ihnen ein Anliegen, diesen Film zu machen?

Kraume: Es gibt einen ganz persönlichen Grund. Ich bin 2005 das erste Mal Vater geworden und habe eingefangen, mir mehr Gedanken über die Zukunft zu machen. Dann gibt es noch einen anderen Grund. Ich habe schon sehr lange ein Projekt in der Hinterhand, das ich noch nicht realisieren konnte. Es heißt " Lagos brennt" und spielt im nigerianischen Lagos des Jahres 2050. Es handelt vom Totalitarismus. Ich habe mich schon länger mit Science-Fiction beschäftigt und hatte die Idee, einen Film zu machen, der heute anfängt und eine schleichend langsame Reise in die nahe Zukunft beschreibt. Warum das mein Anliegen war, ist schwer zu begründen. Warum macht man die Dinge, die man macht? Von allen Ideen, die ich in den letzten Jahren hatte, war das diejenige, auf die ich am meisten Lust hatte und die mich einfach nicht losgelassen hat.

Ricore: Sie sind gleichzeitig Regisseur, Produzent und Drehbuchautor des Films. Konnten Sie das Drehbuch wie geplant umsetzen?

Kraume: In der ersten Fassung des Drehbuchs gab es eine Sache, die nicht finanzierbar war. Dabei handelte es sich um den noch weiter ausgebauten Handlungsstrang des Kriegsengagements Deutschlands in Turkmenistan. Es gab ein ganzes Kapitel, das Philipps Zeit im Krieg beschrieb. Das hätte das Budget aber gesprengt. Der Film wäre so teuer geworden, dass man ihn als sogenannten Amphibienfilm hätte machen müssen, also inklusive eines Zweiteilers für das Fernsehen. Das wiederum hätte viele inhaltliche Folgen gehabt, die ich wollte. Deshalb bin ich diesen Kompromiss eingegangen. Der Irak-Krieg beschäftigt mich in den letzten acht Jahren sehr intensiv, und ich war auch noch nie im Irak. Insofern ist es nicht ganz richtig, dass der Film plötzlich einen Krieg in der Zukunft Turkmenistans thematisiert. Die Idee ist schlichtweg der Krieg in Saudi-Arabien. Der Film erzählt ja auch nicht den Hintergrund der Flüchtlinge aus Afrika. Warum soll ich also mit dem einen Bruder in diesen Turkmenistan-Krieg gehen? Also habe ich mir gedacht: Erstens kann ich es nicht bezahlen, und zweitens ist es eigentlich genau die Perspektive, die der Film haben muss. Es geht um eine Berliner Familie, die vor Ort all die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen zu spüren bekommt.
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Lars Kraume ("Die kommenden Tage")
Ricore: War die Fokussierung auf die Familie und deren Probleme anfänglich noch kleiner, so dass das Weltgeschehen letztendlich nur als Rahmenhandlung diente? Der Rohschnitt des Films umfasste schließlich vier Stunden. Was haben sie weggelassen?

Kraume: Was wegfiel waren vor allem Teile der Rahmenhandlung innerhalb der Familie. Es gibt noch einen Prolog und einen Epilog, die auf der DVD zu sehen sein werden. Für die Kinofassung habe ich sie rausgeschnitten. Ansonsten waren die vier Stunden nur eine Vertiefung der bestehenden Handlung. Der Film richtet sich schon nach dem Drehbuch. Die geschnittenen Szenen bewirken keine substantielle Reduktion der Erzählung, sondern straffen lediglich die Handlung.

Ricore: Sie kreieren die Welt von morgen. Denken Sie sich die ganzen technischen Gimmicks einfach aus oder lassen Sie sich von ihrem Ausstatter oder einem Experten über den künftigen technischen Stand beraten?

Kraume: Beides. Es gibt eine Auswahl, die ich beim Schreiben und Recherchieren des Buches mache. Beispielsweise sieht man in einer Szene den Verkehr der Zukunft. Das steht auch so im Drehbuch. Bei der Vorauswahl gibt es natürlich Sachen, die mich mal mehr, mal weniger interessieren, wie z.B. die Cargolifter-Idee. Ich hielt das immer schon für ein tolles Projekt. Ich finde es bezeichnend, dass dieses zukunftsweisende Projekt in einer industrieschwachen Region wie hier zu einem ätzenden Schwimmbad umgebaut wird und die visionäre Idee nicht mehr stattfindet. Deshalb wollte ich unbedingt, dass es Zeppeline gibt, auch wenn es die in zehn Jahren wahrscheinlich immer noch nicht geben wird. Ich finde auch diese ganzen Stadtschloss-Ambitionen katastrophal, die jetzt zum Glück eingedampft wurden. Deshalb wollte ich unbedingt die Ruine eines nicht fertigen Stadtschlosses im Film haben. In der Produktionsphase haben wir mit Fachleuten recherchiert. Wir hatten mit Johannes Kiessler einen eigenen Produktdesigner, der sonst für die Industrie arbeitet und für uns solche Sachen wie Handys und Computer als Prototypen entworfen hat.

Ricore: Der Titel "Die kommenden Tage" klingt fast schon wie ein Fakt. Sind Sie der Meinung, dass es wirklich so passieren wird oder handelt es sich dabei um eine Warnung?

Kraume: Ich weiß natürlich genauso wenig wie sonst irgendjemand, wie die Zukunft aussehen wird. Ich werde mit Sicherheit nicht sagen, dass es so kommen wird, wie ich das sage (lacht). Jeder gute Film über die Zukunft ist natürlich auch ein Film über die Zeit, in der er gemacht wurde. Deshalb handelten zur Zeit des Kalten Krieges eigentlich alle Science-Fiction-Filme von Atombomben. Das trifft auch auf "Die kommenden Tage" zu. Ich glaube, dass die angesprochenen Themen wahnsinnig akut sind und unsere Welt nachhaltig verändern werden. Ich glaube auch, dass wir in einer Zeit leben, die bald von großen Umbrüchen gezeichnet sein wird.

Ricore: Inwiefern?

Kraume: Man hat in den letzten Jahren anhand der Wirtschaftskrise gespürt, wie schnell eine Währungsunion wie die EU auseinanderfallen kann. Würde der Euro fallen, wären die Folgen für uns verheerend. Ich habe versucht, nur die Themen in den Film aufzunehmen, an die ich tatsächlich glaube. Ich glaube an den medizinischen und den technologischen Fortschritt. Ich glaube, dass wir das Problem des Liebespaares, das keine Kinder kriegen kann, in der Zukunft in den Griff bekommen können - wie auch die Augenkrankheit, die Daniel Brühl im Film hat. Ich glaube aber nicht, dass wir uns davor schützen können, dass wir irgendwann von dem wahnsinnig hohen Lebensstandard, den wir in Deutschland haben, runter müssen. In der Zeit, in der ich das Buch geschrieben habe, war ich kurz davor, Notfallrucksäcke für den Totalkollaps vorzubereiten, um meine Familie die ersten drei Wochen ernähren zu können. Ernsthaft. Ich kenne genug Leute, die auf den Moment vorbereitet sind, wenn die Ereignisse sich überschlagen.
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Mehdi Nebbou und August Diehl können auch böse...
Ricore: Ist der Mauerbau um Zentraleuropa der Kulminationspunkt der aktuellen Integrationsdebatte?

Kraume: Das ist genau der Punkt. Viele Themen des Films sind Teil unserer Vergangenheit, die bereits ausführlich diskutiert wurden und die uns allen bekannt sind. Sie kommen eben interessanterweise immer wieder. Auch die Idee von der Festung Europas ist ein alter Gedanke. Die Dramen über die massiven Migrationsprobleme, die sich auf Lampedusa oder im Mittelmeer mit irgendwelchen Flüchtlingsschiffen abspielen, schauen wir uns jedes Jahr neu an. Insofern kommentiert der Film nicht die aktuelle Diskussion. Diese Themen kommen einfach immer wieder. Wenn man die Schlagworte des Films zusammenfasst - die Migrationsprobleme, die sozialen Konflikte innerhalb Deutschlands, die immer stärkere Trennung zwischen arm und reich, der Ressourcenkrieg, die Klimawandel-Probleme im Hintergrund, der Verlust von Biodiversität - all diese Themen werden uns immer weiter beschäftigen.

Ricore: Wie sollte man reagieren? Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder man sagt sich, die Welt geht unter und ich kann nichts dagegen tun, oder man wird aktiv und pflanzt beispielsweise einen Baum.

Kraume: Einen Baum zu pflanzen ist immer eine gute Idee (lacht).

Ricore: Und Kinder kriegen?

Kraume: Der Film hat ja bewusst keine Botschaft. Bei einem Film, der sich mit solch komplexen Problemen auseinandersetzt, werde ich einen Teufel tun und sagen, so wird es gemacht. Das finde ich nicht richtig. Ich glaube, dass wir sehr viele Möglichkeiten haben, damit umzugehen. Nicht nur die Flügel zu strecken oder einen Baum zu pflanzen. Jeder muss auf seine Art sehen, wie er seine Zukunft gestalten kann und wie die Welt aussehen soll. Für die einen bedeutet das Aktivismus, wie man ihn gerade hautnah in Stuttgart erlebt. Für die anderen bedeutet es so etwas Einfaches, wie an den Fortbestand der menschlichen Art zu glauben und Kinder zu kriegen. Alles, was die vier Figuren im Film machen, finde ich besser, als was ganz viele andere Menschen machen. Nämlich ihre Zukunft nicht gestalten, sondern einfach nur im alltäglichen Trott zu leben. Ich mag selbst den Terroristen dafür, dass er eigentlich ein Weltveränderer ist.

Ricore: Sie haben dem Film in einem anderen Interview ein großes internationales Potential bescheinigt. Haben Sie schon Resonanz bekommen?

Kraume: Anhand des Zitats sehen Sie, dass ich viel optimistischer bin, als der Film glauben lässt. Bisher ist der Film international noch nicht ausgewertet. Am 4. November ist erst einmal der Deutschland-Start. Dann werden wir sehen, wie die internationale Resonanz ist. Der Verleiher ist ja Universal. Den Leuten von Universal International in London hat der Film gut gefallen. Aber weiter als bis London ist er noch nicht gekommen.
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August Diehl und Johanna Wokalek in "Die kommenden Tage"
Ricore: Der Film war ziemlich teuer und behandelt ernste Themen. Waren Sie sich des Risikos bewusst?

Kraume: Ja klar, ich bin ja auch Produzent. Ich war mir die ganze Zeit bewusst, dass ein Risiko besteht. Aber das ist bei jedem Filmprojekt so. Filme sind investitionsintensive Kunstformen. Deshalb besteht immer ein hohes Risiko. Ich habe bei meinem Film versucht, einen Mittelweg zu gehen. Auf der einen Seite besteht eine politische Haltung und ein kultureller Anspruch. Auf der anderen Seite sollte es nicht politisch belehrend und dröge sein, sondern unterhaltsam, aber auch komplex und anregend. Insofern halte ich die getätigte Investition in jeder Hinsicht für gerechtfertigt. Ich hoffe auch, dass der Film erfolgreich sein wird.

Ricore: Vor ungefähr zehn Jahren drehten Sie "Viktor Vogel - Commercial Man". Wenn man diesen mit "Die kommenden Tage" vergleicht, scheinen Welten dazwischen zu liegen, was die Weltsicht und das Filmemachen angeht. Sie haben schon angedeutet, dass das Vatersein sie beeinflusst hat. Was hat noch zu ihrer Entwicklung beigetragen?

Kraume: Zwischen "Viktor Vogel" und "Die kommenden Tage" liegt noch ein wichtiger Film, den ich herausheben möchte, nämlich "Keine Lieder über Liebe". Ich habe dazwischen natürlich eine Menge Filme gemacht, aber auch viel für das Fernsehen gearbeitet. Meine Entwicklung als Filmemacher lässt sich folgendermaßen beschreiben. Die Komödie "Viktor Vogel" hat mich in einem Punkt ratlos gemacht. Das Kino, das mit jedem Satz und jeder Szene einem dramaturgischen Ziel und einer abgezirkelten Absicht folgt, langweilt mich. Ich empfinde das Leben als viel chaotischer und ungeordneter. Meinen nächsten Film habe ich ohne Drehbuch gedreht, weil es nur ein Funktionsträger ist. Ich habe versucht, mich gegen diese Oberfläche zu stellen und mich auf die Schauspieler zu konzentrieren. Nachdem ich dann "Keine Lieder über Liebe" gesehen hatte, habe ich gedacht: Das ist zwar sehr gut gespielt und situativ stark, aber nun gibt es einen anderen Kritikpunkt: Die große Erzählung fehlt (lacht).

Ricore: Wie sind Sie bei "Die kommenden Tage" vorgegangen?

Kraume: Ich habe versucht, die Erzählung mit dem zu verbinden, was ich in der Zwischenzeit über Schauspielerei gelernt habe. Der Punkt ist folgender: Die Filme sind so unterschiedlich, weil ich jedes Mal versuche, ein möglichst großes Abenteuer einzugehen. Ich habe drei Jahre an dem Film gearbeitet. Wenn die Herausforderung nicht gegeben wäre, würde ich gar nicht die Energie aufbringen, um mich so lange damit zu beschäftigen. Das soll heißen: Ich kann nicht immer wieder den gleichen Film machen. Als nächstes werde ich bestimmt wieder etwas ganz Anderes machen.
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Lars Kraume ("Die kommenden Tage")
Ricore: Aber das steht noch nicht fest?

Kraume: Es gibt ein Projekt, das wir hoffentlich bis zum Sommer finanzieren können. Es heißt "Schwestern" und ist eine ganz schöne Reise von drei Schwestern. (lacht)

Ricore: Wie war denn die Stimmung am Set? Machte sich die nachdenkliche Atmosphäre des Themas bemerkbar?

Kraume: Die Themen des Films wurden innerhalb des Teams viel diskutiert. Das hatte seine Auswirkungen. Es wird auf der DVD ein Making-Of zu finden sein, den ein venezolanisches Teammitglied wie einen eigenen Dokumentarfilm gedreht hat. Er erzählt das Making-of aus der Perspektive einer Person, die in Südamerika aufgewachsen ist. Er sagte: 'Jetzt machen die Deutschen einen Film darüber, dass es mal ein bisschen schlechter wird. Bei uns ist der Lebensalltag völlig anders.' Er macht sich von Anfang an lustig über das Thema des Films. Er verweist aber auch sehr auf das Team. Natürlich ist er niemand, der die ganze Zeit betrübt rumsitzt. Wie auch der Film möchte er die Leute zum Überlegen bringen, wie die Zukunft aussehen wird und ob sie in einer solchen Zukunft leben wollen. Ich finde es super, wenn die Leute das alles für Schwarzmalerei halten oder es wiederum viel zu positiv finden. Der Punkt ist, dass die Leute darüber ihre eigene Haltung definieren.

Ricore: Was wünschen Sie sich für die Zukunft ihrer Kinder?

Kraume: Auf jeden Fall wünsche ich mir für die Zukunft meiner Kinder, dass sich die Menschen für die Gestaltung der Welt engagieren und überlegen, was man verbessern kann. An unserer Gegenwart ist besonders das Gefühl frustrierend, dass wir brutale Konsumsklaven geworden sind, wahnsinnige "Matrix"-Menschen. Da kann einem schon Angst und Bange werden. Das halte ich für ein echtes Problem.

Ricore: Erteilen Sie dem Aktionismus, wie er von August Diehl im Film verkörpert wird, eine Absage? Seine Entwicklung verläuft sehr radikal.

Kraume: Was ich dazu zu sagen habe, gibt der Film wieder. Am Ende fragt Bernadette, die als Hauptfigur am meisten meine Weltsicht widerspiegelt, ihn: "Hat sich der Terrorismus gelohnt?" Und er sagt, und das verstehe ich auch: "Das wird die Zukunft zeigen." Ich kann nachvollziehen, dass Leute sich radikalisieren. Ich bin eher erstaunt über mich selbst und auch andere, dass zum Beispiel die Wirtschaftskrise und deren politische Reaktionen keine Gegenwehr hervorgerufen haben. Wenn ich Hartz IV-Empfänger wäre und wüsste, wie auf Kosten meines sozialen Status‘ Haushaltslöcher gestopft und Leute ungerecht behandelt wurden, weil sie zuerst ihr erwirtschaftetes Privatvermögen verbrauchen mussten, bevor sie soziale Leistungen beanspruchen konnten.
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Lars Kraume ("Die kommenden Tage")
Ricore: Wie hätten Sie reagiert?

Kraume: Ich wäre auf die Barrikaden gegangen, wenn mir irgendwelche Rettungspakete für systemrelevante Banken verkauft werden. Ich habe mich gewundert, dass es so ruhig geblieben ist. Ich dachte, das wird viel schlimmer. Ein anderes Beispiel: Deutsche Soldaten nehmen wieder an irgendwelchen Kriegseinsätzen im Ausland teil. Dann kommt jemand wie Herr Köhler und weist darauf hin, dass wir unsere wirtschaftlichen Interessen künftig auch im Ausland vertreten und mit militärischen Mitteln verteidigen müssten. Ich denke an die letzten 60 Jahre und sage mir: Die Zeit, in der wir unsere wirtschaftlichen Interessen im Ausland verteidigt haben, ist noch gar nicht so lange her. Und wir wissen, wie gut wir das können. Dass das nicht zu einer viel größeren Reaktion geführt hat, ist erstaunlich. Darum kann ich einen Radikalen wie Augusts Figur gut verstehen, deshalb habe ich sie ja geschrieben.

Ricore: Beziehen Sie sich mit dem dargestellten Terrorismus auf die aktuelle Debatte?

Kraume: Dieser Terrorismus hat nichts mit Al Qaida zu tun, und auch nichts mit den Sozialisten und Kommunisten. Es ist der Versuch, einen neuen, eigenen Terrorismus zu entwerfen. Ich sehe ihn am stärksten in dieser Sattheit und Dekadenz. Er entsteht durch die eigentliche Trägheit der Leute, die alles haben. Irgendwann muss dieses System gegen die Wand fahren, weil das alles einfach falsch ist. Dieses Gefühl erlebe ich ganz oft. Es erinnert mich an die Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Wenn man Joseph Roth liest und sich vorstellt, wie das in Wien gewesen sein muss, als sich alle in ihren Salons und ihrer Dekadenz eigentlich wahnsinnig auf diesen Krieg gefreut haben. Dann haben sie sich gewundert, wie schlimm es gekommen ist. Wenn man beispielsweise über die Globalisierung diskutiert, hört man sehr oft, dass es so nicht weitergehen kann. Das bedeutet für uns alle wahnsinnige Einschnitte und stellt ein echtes Problem dar. Deshalb habe ich diese Figur geschrieben. Ich sehe in ihm aber auch viel Positives. Immer Sympathie für Radikale.

Ricore: Heißt das für Sie, uns geht es noch zu gut?

Kraume: Wenn mit "uns" wir Deutsche gemeint sind, glaube ich, dass wir auf einem sehr hohen Niveau jammern.

Ricore: Ich kenne auch Hartz IV-Empfänger. Ich weiß, dass die ganz andere Sorgen haben. Sie müssen schauen, dass sie ihr Essen auf den Tisch bringen.

Kraume: Das ist klar. Ich kenne nicht so viele Hartz-IV-Empfänger. Die meisten kenne ich aus der Talkshow. Aber einer Sache bin ich mir ziemlich sicher: Die Armut an für sich ist nicht so ein großes Problem, wie der soziale Konflikt, in dem man lebt. Wenn man in einem reichen Land wie Deutschland kein Geld hat, ist das ein viel größeres Problem, als wenn man in einem armen Land wie Nepal kein Geld hat. Das ist wiederum etwas, das wir selbst gestalten können, unabhängig von der Position in unserer Gesellschaft. Wie sehr wir wollen, dass diese sozialen Differenzen zu sehen sind. Wie sehr ich will, dass ich ständig mit meinem Porsche Cayenne durch die Gegend fahre und deshalb der Hartz IV-Empfänger sich wie ein Idiot fühlt, weil er kein 800 PS-Auto hat. Das ist etwas, das man gestalten kann.

Ricore: Wir haben die ganze Zeit die schweren Probleme gewälzt. Jetzt machen wir noch etwas für die bunte Seite zum Schluss. Wie heikel ist es, einen flotten Dreier zu inszenieren?

Kraume: Das ist viel mehr Arbeit, als man denkt (lacht). Mehr habe ich dazu auch nicht zu sagen (lacht).

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 23. November 2010
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2024