Maria Ortiz
Joann Sfar
Letzter Held Frankreichs?
Interview: Multitalent Joann Sfar
In der französisch-belgischen Comic-Szene gilt Joann Sfar als einer der renommierten Künstler seiner Generation. Mit seinen philosophisch angehauchten Werken spricht der preisgekrönte Autor und Zeichner sowohl Kinder als auch erwachsene Leser an. Beim Biopic "Gainsbourg - Der Mann, der die Frauen liebte" nahm er nun erstmals auf dem Regiestuhl Platz. Mit uns sprach der 39-Jährige über den titelgebenden Sänger Serge Gainsbourg und dessen Einfluss auf Sfars eigenes Schaffen. Zudem unterhielten wir uns mit ihm über Laetitia Casta, Brigitte Bardot und das Ende der französischen Helden.
erschienen am 28. 10. 2010
Prokino
Gainsbourg - Der Mann, der die Frauen liebte
Ricore: Wann haben Sie zuletzt einen Song von Serge Gainsbourg gehört?

Joann Sfar: Das war erst gestern. Ich habe nämlich gezeichnet und dazu höre ich immer Musik. Und gestern habe ich "Larmoyer" gehört, eines seiner traurigsten Lieder, das mich aber sehr inspiriert hat.

Ricore: Sie können ihn also noch hören?

Sfar: Ja, und darüber bin ich sehr glücklich, denn ich habe die letzten drei Jahre mit ihm verbracht. Aber seiner Musik bin ich bis jetzt noch nicht überdrüssig geworden.

Ricore: Waren Sie bereits ein Fan, bevor Sie dieses Projekt begonnen haben?

Sfar: Ich war sicher ein Fan von ihm. Und mit mir waren das alle anderen jungen Franzosen auch. Unser Fernsehen damals war nämlich so langweilig und er war der einzige, der mit schlechtem Verhalten aufgefallen ist. Er war oft betrunken bei Dreharbeiten, redete schmutziges Zeug und spielte tolle Musik. Meine zwei Leidenschaften sind Sex und Musik, daher war ich sehr erfreut, als ich als junger Mensch Serge Gainsbourg entdeckt hatte, mit dem ich denselben Geschmack teilte.

Ricore: Wie viel von Ihnen steckt denn im Film "Gainsbourg - Der Mann, der die Frauen liebte"?

Sfar: Ich benutze das Filmprojekt, um dem Publikum so viele meiner eigenen Obsessionen als seine zu verkaufen. Was wir zum Beispiel gemeinsam haben, sind seine russischen Eltern, die ich aus meinen eigenen Großeltern konstruiert habe. Diese waren russische Juden aus der Ukraine und sie waren extrem komisch und den Film-Figuren sehr ähnlich. Es gibt aber noch etwas, was uns beide verbindet, und das ist ein bisschen trauriger. Es ist die totale Verwirrung vieler Künstler über die Beziehung zwischen Intimität und dem Publikum. Das Traurige daran ist, dass viele Künstler vom Publikum erwarten, geliebt zu werden, und ich befürchte, das tue ich ebenfalls, wie so viele andere auch. Und Gainsbourg war ein König darin.

Ricore: Wie hat Sie Gainsbourg in Ihrer Jugend beeinflusst?

Sfar: Er gab mir immer das Gefühl, schnell erwachsen werden zu wollen, weil Erwachsensein ein großer Spaß zu sein schien. Als ich heraus fand, dass dem nicht so ist, war es zu spät. Denn da war ich bereits zu alt. Aber als junger Mensch dachte ich beim Anblick des betrunkenen Gainsbourg, der mit [Brigitte] Bardot zusammen war und ständig wechselnde Beziehungen hatte, wie toll es sein muss, endlich erwachsen zu sein. Das hat so cool gewirkt, so wollte ich auch sein.
Prokino
Gainsbourg - Der Mann, der die Frauen liebte
Ricore: Er hat dir also die Kindheit geraubt?

Sfar: Könnte man so sagen, ja. Aber mal im Ernst: In meinem Film geht es darum, herauszufinden, was aus den französischen Helden geworden ist. Also dem Macho, der seine Frauen nachts an das Seine-Ufer stellt und sie nackt zeichnet. Es ist ein Spiel mit den Klischees, verbunden mit einer Frage an die französische Gesellschaft: Warum sind wir nach all den Diskussionen in den 1960ern nicht in der Lage, weitere Helden zu produzieren? Es gibt einen Moment im Film, in dem Gainsbourg einen alten Wagen fährt und sagt, das es ein altes Delon-Auto sei. Und ich glaube, wir fahren immer noch diesen einen Delon-Oldtimer.

Ricore: Und warum gibt es keine neuen französischen Helden?

Sfar: Es ist wahr, es gibt heute keine französische Helden mehr, die europäische Geschichte machen würden. Aber wenn Franzosen heutzutage an Europa denken, denken sie an Polizei, sie denken nicht an die Kultur. Ich bin überzeugt, um die amerikanische Massenkultur zu überleben, muss man eine europäische Massenkultur dagegen setzen. Wir alle haben unsere Phantasien und die können einfach keine nationalen Phantasien mehr sein.

Ricore: Wie kam es nun zu Ihrem ersten Filmprojekt?

Sfar: Ich bin Comiczeichner und habe bereits viele Comics veröffentlicht. Einige Produzenten kamen zu mir und haben mich gebeten, einige meiner erfolgreichen Bücher zu verfilmen. Das waren aber nur sehr vage Gespräche. Und als es dann endlich zu einem ernsthaften Gespräch mit einem Produzenten kam, wollte der von mir wissen, was ich gerne machen würde. Ich habe Serge Gainsbourg gesagt, doch die Produzenten rieten mir davon ab.

Ricore: Woran lag das?

Sfar: So genannte Biopics haben seit dem gefloppten Film über Coluches Leben in Frankreich keine Chance mehr. Ich wollte aber kein Biopic machen, sondern ein Musical mit Puppenfiguren. Der Kommentar dazu war: Das ist ja noch schlimmer. Sogar mein Agent hat mir verboten, daran zu arbeiten. Ich würde meine Zeit verschwenden. Mich haben diese Kommentare nicht gestört. Denn mir war klar, dass ich einen Comic daraus mache, wenn es nicht klappt. Zugegebenermaßen war ich dann tatsächlich überrascht, als Leute von Universal Studio das Skript gelesen haben und sofort Produktionsgelder gaben. Es ist schon komisch. Eigentlich ist das jetzt ein amerikanischer Film, denn ohne Universals Engagement würde es ihn nicht geben.
Prokino
Gainsbourg - Der Mann, der die Frauen liebte
Ricore: Und der Film wurde ein großer Erfolg in Frankreich...

Sfar: Ja, allerdings. Wir hatten 1,3 Millionen Zuschauer in Frankreich, aber auch im Ausland war er erfolgreich. Er lief in 100 Kinos in England, in 50 in Spanien und 100 werden es auch in Deutschland sein. Viele andere Länder werden ihn ebenfalls zeigen. Mir ist dann klar geworden, sobald ich mich so französisch wie möglich verhalte, wird auch jeder Nicht-Franzose sofort verstehen, worum es mir geht. Es macht überhaupt keinen Sinn, so zu tun, als ob ich Amerikaner wäre und gute Actionfilme machen könnte. Ich bin sehr französisch und liebe Liebesfilme, schöne Frauen und schöne Klamotten. Über die Dinge, die ich auch im Leben liebe, mache ich jetzt Filme.

Ricore: Ihre Arbeit als Comiczeichner hat Ihnen bei Universal also geholfen?

Sfar: Ja, die Zeichentrickfigur, die im Film Gainsbourgs depressives Alter Ego ist, haben sie sehr geliebt. Ich habe nach der kompletten Guillermo del Toro-Crew verlangt und habe alle Leute bekommen, die an "Pans Labyrinth gearbeitet haben. Aus Barcelona kam Performer Doug Jones. Lustig, aber wenn eine Idee kreativ und merkwürdig genug ist, bekommt man sofort das Interesse der Amerikaner. Das hat mich schon überrascht.

Ricore: Ihr eigener jüdischer Background hat Ihnen beim Schreiben und bei der Inszenierung der Geschichte geholfen, richtig?

Sfar: Ja, obwohl meine jüdische Erfahrung sehr anders war als die von Gainsbourg. Ich komme aus einer sehr religiösen Familie, von der ein Teil osteuropäisch und der andere nordafrikanisch ist. Gainsbourg auf der anderen Seite hat sich um Religion nie geschert und in seiner Familie hat keiner davon geredet. Als er zehn Jahre alt war, haben die französischen Polizisten ihm einen Judenstern gegeben. Das ist schon komisch, dass die französische Polizei ihn zum Juden gemacht hat. Das war eine Art verwaltungstechnische Ernennung zum Juden. Frankreich ist also manchmal ein Land, das einen willkommen heißt, und in anderen Momenten ist es das gerade nicht.

Ricore: Was beurteilen Sie das?

Sfar: Ich werfe das meinem Heimatland gar nicht vor, ich erzähle nur gerne Geschichten darüber, wie dieses Land einen provokanten Rockstar produziert hat, allein durch die Ausgabe eines Judensterns. Gainsbourg wurde von diesem Polizisten, der ihm einen gelben Stern verpasst hat, in sein Schaffen getrieben. Er benutzt ihn nicht als religiöses Symbol, als Fluch oder als eine Identität sondern eher als Punk-Symbol. Sein gesamtes Verhalten entstammt diesem Moment.
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Gainsbourg - Der Mann, der die Frauen liebte
Ricore: Obwohl er so jung war?

Sfar: Ja, er sagte damals sogar, er war stolz auf diesen Stern, er wollte der erste Träger sein. Für ihn hatte das damals schon etwas mit einem provokanten Helden zu tun.

Ricore: Diese Episode im Film ist also wahr?

Sfar: Ja, das ist sie. Alles, was man im Film sieht, basiert auf Gainsbourgs eigenen Aussagen. Daher sind sie nicht unbedingt wahr, aber diese Geschichten wurden von ihm so erzählt. Ich habe keine einzige Zeile der Geschichte erfunden, denn ich habe alle seine Interviews originalgetreu wiedergegeben. Natürlich werden diese Interviews voller Lügen gewesen sein, aber das sind seine Lügen, die dadurch eine besondere Bedeutung bekommen.

Ricore: Wie haben Sie aus all den vielen Geschichten die für den Film ausgewählt?

Sfar: Ich bin da sehr gefühlsmäßig vorgegangen. Ich bin kein guter Drehbuchautor. Aber mir war klar, dass ich einen Maler zeigen wollte, wie er sein Modell malt. Der Film "Ein Amerikaner in Paris" hat mich auch sehr beeinflusst, darüber hinaus ist Brigitte Bardot so ein bekanntes Symbol in Frankreich. Ich hatte immer einen Comic im Hinterkopf, über das Drehbuchschreiben muss ich wahrscheinlich noch viel lernen. Aber es war lustig für mich, mir eine bestimmte Methode zu überlegen. Immerhin ist das mein erster Film und der ist nun angefüllt mit meiner kindischen Faszination über das Filmemachen. Ich denke, es gibt sehr viele visuelle Momente und nur wenig Analyse. Ich mag es, ohne Zensur zu arbeiten und einfach das zu machen, was ich gut finde. Ich halte ja auch schließlich meinen Kopf dafür hin.

Ricore: Haben Sie mit Brigitte Bardot gesprochen?

Sfar: Ja, das habe ich. Und es ist schon ein bisschen traurig, weil Brigitte Bardot während der Dreharbeiten so charmant zu mir war. Sie hat uns viele Tipps gegeben und war sehr glücklich darüber, dass Laetitia Casta ihren Part gespielt hat. Das scheint sie vergessen zu haben, weil sie heute in Interviews sagt, dass niemand sie darstellen könne und dass der Film nicht gut sein könne, weil das französische Kino im Allgemeinen nicht gut sei. Das ist komisch, weil sie während der Dreharbeiten so entzückend war.

Ricore: Wie hat Gainsbourgs Familie reagiert?

Sfar: Die Gainsbourg-Familie hingegen liebt das Projekt, wegen ihr haben wir es ja überhaupt erst gemacht. Sie haben uns sogar problemlos alle verwendeten Songs verkauft. Charlotte und Jane haben gesagt, ich müsse den Film machen, weil Serge es geliebt hätte, berühmt zu sein. Sie werden sich den Film allerdings nie angucken, weil es zu schmerzvoll für sie sei, jemand anderen ihren Ehemann oder Vater spielen zu sehen.
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Gainsbourg - Der Mann, der die Frauen liebte


Ricore: Wie haben Sie Laetitia Casta gewinnen können?

Sfar: Für sie war es sehr wichtig, sich einmal an der Rolle von Brigitte Bardot ausprobieren zu können. Und sie hatte wirklich viel Spaß dabei. Sie war vier Monate schwanger, als wir das gedreht haben, und es war für alle eine Herausforderung zu verhindern, dass das Publikum das bemerkt. Sie ist in ihrer Figur dann aber völlig aufgegangen, weil es ein wichtiger Punkt in ihrer Karriere war, das authentisch hinzukriegen. Sie war also sehr glücklich, wir haben viel gelacht.

Ricore: Wie viele Fans hatten Sie an Ihrer Seite während der Entwicklung des Projektes?

Sfar: Nur einen einzigen, nämlich mich. Die größten Gainsbourg-Fans sind eine richtige Qual, ich begrüßte sie regelmäßig mit einem Gewehr. Das ist, als ob man am "Der Herr der Ringe" arbeitet und plötzlich alle "Batman"-Fans kommen. Ich wusste, dass ich nicht alle Fans glücklich machen kann. Daher wollte ich einen Film machen für die Art von Fan, die ich selbst darstelle. Ich wollte nicht den einen Gainsbourg-Film machen, sondern einen Film über meine Vision von Gainsbourg. Auf eine Art ist das natürlich sehr überheblich, auf eine andere Art aber auch sehr bescheiden. Es ist nämlich kein ultimativer Film über Gainsbourg, es ist vielmehr ein Tribut an ihn. Daher habe ich die Fans vermieden, wo ich konnte.

Ricore: Und die zahlreichen Experten?

Sfar: Da hatte ich auch nur einen Einzigen, nämlich auch mich. Keiner hat mehr über Gainsbourg gelesen, als ich. Ich habe ja Universitäts-Erfahrung und egal woran ich arbeite, auch wenn es eine Fantasy-Geschichte ist, arbeite ich so genau daran, als ob es Geschichtsunterricht wäre. Dann versuche ich alles wieder zu vergessen und sehe nach, was übrig geblieben ist. Was tatsächlich noch da ist, ist mit mir auf einer Gefühlsebene verbunden. Daraus gelingt es mir dann, Zeichnungen und Geschichten zu produzieren.

Ricore: Sie haben Lehramt studiert?

Sfar: Ja, ich wäre beinahe Philosophie-Lehrer geworden. Glücklicherweise für meine Studenten hat das nicht geklappt. Sie und ich wären sehr unglücklich gewesen, weil ich ein sehr schlechter Lehrer gewesen wäre. Ich habe also nie als Lehrer gearbeitet, aber daraufhin studiert.

Ricore: Und Ihr nächstes Projekt?

Sfar: Das ist ein Animationsfilm, der "The Rabbi's Cat" heißt. Das wird ein Film für die ganze Familie, in dem es darum geht, dass es vielleicht doch keinen Gott im Himmel gibt. Ich bin sehr froh, dass ich diesen Film machen konnte, weil diese Nachricht heutzutage in Europa sehr wichtig ist. Er kommt Ende März in Frankreich heraus und dann etwas später in Deutschland, manchmal dauert es ja bis zu sieben Monaten, bis ein französischer Film Deutschland erreicht hat.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 28. Oktober 2010
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Serge Gainsbourg entwickelt sich vom erfolglosen Maler zu einem der bedeutendsten musikalischen Persönlichkeiten Frankreichs. Seine Chansons erlangen weltweit Bekanntheit, sogar die Reggea-Szene mischt er auf. Mit zahlreichen Skandalen wird er auch zum Idol vieler Unangepasster, darunter Filmemachers Joann Sfar. Dieser wollte einen Kultfilm über den Musiker realisieren. Leider glückt ihm das nicht ganz, da seine Psychologisierungen klischeehaft wirken und eine zu subjektive Stimmung..
Der französische Comic-Zeichner Joann Sfar studiert zunächst in seiner Geburtsstadt Nizza Philosophie, bevor er sich in Paris der Kunst widmet. Der Einfluss des Philosophiestudiums ist auch in seinen zahlreichen Werken deutlich spürbar. Im Laufe seiner Karriere entwickelt sich der am 28. August 1971 geborene Sfar zu einem der renommiertesten Autoren der französisch-belgischen Comic-Szene. Im Jahre 2010 gibt er mit "Gainsbourg - Der Mann, der die Frauen liebte" sein Regiedebüt. Das Biopic über..
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