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Sandra Hüller in "Requiem"
Gern auch sperrige Charaktere
Interview: Mut in Rollenwahl: Sandra Hüller
Sie hat eine angenehme Stimme. Man merkt, dass Sandra Hüller während ihrer Theaterausbildung an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin Sprecherziehung hatte. Sie berichtet Filmreporter.de, was sie an der sexsüchtigen Charlotte in "Brownian Movement" gereizt hat und warum sie gern sperrige Figuren spielt. Sie liebt die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Stoff in kleineren Filmen und erzählt, dass sie aus der Notwendigkeit, sich auszudrücken Schauspielerin wurde und nicht, weil sie Popularität anstrebte.
erschienen am 4. 07. 2011
Filmlichter
Sandra Hüller in "Brownian Movement"
Ricore: "Brownian Movement" ist radikal, sowohl formal als auch inhaltlich. Es gehörte viel Mut dazu, diese Rolle anzunehmen. Was hat Sie daran gereizt?

Sandra Hüller: Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich dafür mutig sein muss, sondern dass es in sich stimmig ist, und ich das machen muss. Wenn man die Figurenbeschreibung liest hat man manchmal das Gefühl, dass man diese beschützen muss und dass kein anderer das machen darf. So ging es mir mit Charlotte. Das ist eine sehr fragile Figur, die Nanouk Leopold beschrieben hat.

Ricore: Ist diese Figur bewusst so angelegt, dass man sie nicht greifen kann? Der Film gibt für ihren Charakter wenig Erklärungen.

Hüller: Man kann versuchen über sie zu reden, ohne zu psychologisieren. Ich habe ein sehr klares Gefühl zu ihr und, das hört sich zwar komisch an, aber ich habe sie sehr gespürt. Ihre Persönlichkeit hat mit einer großen Klarheit, einer großen Liebe und auch einer großen Unabhängigkeit zu tun. Das hat mich fasziniert. Sie ist sich sehr bewusst, was sie macht.

Ricore: Obwohl sie glücklich verheiratet ist, trifft sie sich mit anderen Männern zum Sex, die nicht besonders ansehnlich sind. Man fragt sich, ob das eine sexuelle Abnormität oder Mitleid für diese Männer ist.

Hüller: Ich glaube, dass sie auf jeden Fall etwas gibt, wenn sie sich mit ihnen trifft. Sie nimmt nichts - außer der Erfahrung. Sie ist ja Forscherin und will wissen, wie es sich anfühlt, einen dicken oder alten Mann anzufassen. Ich weiß nicht, ob es per se um eine Erregung geht, es gibt ja auch nur eine Stelle, an der man das wirklich sieht. Ich hab das Gefühl, dass sie etwas schenkt, aus welchem Grund auch immer.

Ricore: Die Figur ist eine der radikalsten und es ist auch mit der radikalste Film, in dem Sie bisher gespielt haben. Hatten Sie im Vorfeld Bedenken?

Hüller: Nein. Wenn ich nur eine Sekunde das Gefühl gehabt hätte, dass Nanouk Leopold das alles nicht im Griff hat oder dass die Figuren nicht tragen, hätte ich das nicht gemacht. Mir ist sehr bewusst, dass man sich konzentrieren muss, um diesen Film zu sehen. Und ich glaube auch, dass er viele wütend machen wird, weil sie gerne etwas in der Hand hätten, um die Figuren und die Geschichte zu erklären, und weil sie gerne urteilen möchten. Aber genau damit arbeitet der Film.
Filmlichter
Provokant und rätselhaft: Sandra Hüller in "Brownian Movement"
Ricore: Trotz dieser Ungreifbarkeit strahlt Charlotte eine große Gelassenheit aus. Was macht ihre Stärke aus?

Hüller: Ich glaube, sie weiß, wer sie ist und sie hat keine Angst. Sie hat ja nur in dem einen Moment Angst, als ihre zwei Welten aufeinander prallen. Das war nicht geplant, damit kann sie nicht umgehen. Sonst hat sie keine Angst. Sie nimmt das an, was in ihrem Leben passiert. Als sie nicht mehr praktizieren darf, akzeptiert sie das und versteht sogar, warum die Leute diese Entscheidung treffen müssen. Sie hat sogar Mitleid mit ihnen.

Ricore: Sie lächelt immer, auch als ihr Mann alles herausfindet. Haben Sie das bewusst so dargestellt?

Hüller: Sie ist ja immer zufrieden oder anders gesagt, es geht ihr selten schlecht. Sie hat eine unglaubliche Liebe in sich.

Ricore: Sie spielen häufig ambivalente und zerrissene Figuren.

Hüller: Naja, die muss ja auch jemand spielen. Dann ist doch besser, ich mach das gut als jemand anders, der das nicht so gut kann. Es interessiert mich einfach.

Ricore: In einem anderen Interview sagten sie einmal: Die Welt und das Leben und die Charaktere seien selten gradlinig, es herrsche meistens Chaos. Ist diese Lebensauffassung der Grund, warum Sie zu solchen Figuren tendieren?

Hüller: Solche Figuren ziehen mich an. Ich hätte gerne diese Lebensauffassung. Aber letztendlich versuche ich natürlich auch alles zu ordnen, wie andere Menschen auch. Aber ich scheitere permanent daran.
Reverse Angle
Sandra Hüller in "Der Architekt"
Ricore: Seit ihrem Debüt "Requiem" haben Sie nicht in vielen Filmen gespielt. Spricht das für eine besonders bedachte Rollenauswahl?

Hüller: Ich überlege mir genau, mit wem ich mich acht Wochen in eine solche Situation begebe. Das ist alles sehr nah und man muss sich dafür verstehen. Das ist nicht nur ein Job für mich. Außerdem habe ich ja auch noch das Theater, was ich sehr liebe. Ich muss nicht jeden Film drehen.

Ricore: Gibt es oft Überschneidungen zwischen Theater und Drehplan?

Hüller: Nein, eigentlich nicht. Ich habe alle Dinge, die ich machen wollte, gemacht.

Ricore: Und warum machen Sie immer diese kleinen, ambitionierten Filme?

Hüller: Weil ich nicht das Gefühl habe - ohne jemand zu nahe zu treten - dass die Leute von dem anderen noch mehr wollen. Es ist ja eine andere Auseinandersetzung mit den Stoffen. Ich komme mit so großen Produktionen im Moment noch nicht zurecht, weil es mir da zu sehr um technische Sachen geht. Damit kann ich noch nicht so viel anfangen.

Ricore: Ist das auch der Grund, warum Sie oft an Kurzfilmprojekten mitwirken?

Hüller: Der letzte liegt schon etwas länger zurück. Ich habe das zu einer Zeit gemacht, als ich das Gefühl hatte, ich müsste mich erden. Ich wollte gern mit Leuten arbeiten, die das gerade erst lernen.
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Durchbruch mit "Requiem"
Ricore: Kleine Filme, Theater, Kurzfilme. Sie sind eine Schauspielerin, die ihren Beruf als Kunstform aufzufassen scheint, im Gegensatz zu anderen, bei denen Publikumserfolge im Vordergrund stehen.

Hüller: Ich bin nicht Schauspielerin geworden, um berühmt zu werden, sondern weil ich mich ausdrücken wollte. Das ist die einzige Art, wie das ging. Das ist immer noch so. Selbst wenn keiner zugucken würde, würde ich es vielleicht auch machen (lacht).

Ricore: Sind Sie Idealistin?

Hüller: Oh, das ist schwierig. Ich sehe schon, was sie daraus machen. Sagen wir es mal so: Ich mag die Schlampigkeit des Herzens nicht. Ich betreibe meine Dinge gerne mit Ernsthaftigkeit.

Ricore: Haben Sie Angst, dass sie irgendwann doch Kompromisse eingehen müssen?

Hüller: Das kann natürlich passieren. Ich habe jetzt eine Familie und das muss ich sehen, ob ich so weiter machen kann. Diese Frage beschäftigt mich im Moment.

Ricore: Sie haben mal gesagt, Film ist eher ein Flirt, das Theater die große Liebe. Hat sich daran etwas geändert?

Hüller: Natürlich bin ich mit dem Film vertrauter geworden, weil ich mittlerweile mehr gedreht habe. Ich mag das auch, aber eben nicht so oft wie Theater. Ich mag die Arbeitsweise am Theater, dass alles langsam entsteht und dass man auch in der Vorstellung noch Gelegenheit hat, das weiter zu entwickeln. Es gibt nichts Endgültiges, wie beim Film. Dort muss immer alles auf dem Punkt sein und eine hohe Energie haben. Aber es ändert sich alles permanent.
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Die Schauspielerin und ihr Entdecker: Hans-Christian Schmid und Sandra Hüller am Set von "Requiem"
Ricore: Und was steht als nächstes an, Film oder Theater?

Hüller: Im August habe ich die Ehre, ein Mitglied der Jury des Filmfestival Locarno zu sein. Und ab November bin ich wieder in München bei den Kammerspielen.

Ricore: Was das Theater angeht, sind Sie lange als Freischaffende unterwegs gewesen. Ist das immer noch so?

Hüller: Ja. Ich habe zwar keinen festen Vertrag mit München, aber ich werde wahrscheinlich ausschließlich dort arbeiten, weil es einfach das Haus ist, an dem es mir am besten gefällt.

Ricore: Warum binden Sie sich nicht fest an ein Theater?

Hüller: Weil ich meine Termine gerne selber mache.

Ricore: Sie würden sich also als unabhängigen Menschen bezeichnen?

Hüller: Ich arbeite daran, ja (lacht).

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 4. Juli 2011
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Gleich für ihre erste Kinorolle wird Sandra Hüller mit dem Nachwuchspreis des Requiem" spielt sie die Epileptikerin Anneliese Michel, an der ein religiöser Exorzismus durchgeführt wird. Ihre Schauspielausbildung schließt sie im Jahr 2000 an der Hochschule für Schauspielkunst Brownian Movement" und Franziska in der preisgekrönten Tragikomödie "Finsterworld". Seit Herbst 2011 steht Sandra Hüller wieder bei den Münchner Kammerspielen auf der Bühne. Seit Anfang 2011 ist Hüller Mutter einer..
Eine junge Frau trifft sich mit verschiedenen Männern in einer Wohnung, um mit ihnen Sex zu haben. Ihr Verhalten passt in kein rationales Erklärungsmuster, da sie glücklich mit einem attraktiven Mann verheiratet und Mutter eines Kindes ist. Als das geheime Doppelleben der Ärztin entdeckt wird, verliert sie ihren Job. Auch in der darauf folgenden Psychotherapie findet weder ihr Mann noch der Zuschauer einen Schlüssel zu ihrem Verhalten. "Brownian Movement" ist ein formal gewagter Film, der die..
2024