Neue Visionen
Roy Andersson, Regisseur von "A Pigeon sat on a Branch reflecting on Existence"
Stärker als die Realität
Interview: Roy Anderssons Konflikte
Der schwedische Regisseur Roy Andersson ist wählerisch. In seiner über 40-jährigen Karriere verwirklichte er nur wenige abendfüllende Filme. In seinem Werk widmet er sich gesellschaftlich relevanten Themen. Im Interview mit Filmreporter.de erläutert er, weshalb sein Aufklärungsfilm "Någonting har hänt" zum Thema Aids von der schwedischen Regierung verboten wurde, obwohl diese ihn selbst in Auftrag gegeben hatte. Filmreporter.de sprach mit Roy Andersson im Rahmen des 2011er Filmfest München, das dem dem Regisseur eine Retrospektive widmete. Damals ist sein Venedig-Gewinner "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence" noch in Arbeit.
erschienen am 7. 09. 2014
Neue Visionen
Szene aus "Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach" (A Pigeon sat on a Branch reflecting on Existence, 2014)
Etwas Einzigartiges sehen
Ricore Text: Welche Eindrücke haben Sie auf dem Filmfest München gewonnen?

Roy Andersson: Ich bin sehr froh und stolz, dass meiner Arbeit so viel Interesse provoziert. Ich konnte leider keine Filme auf dem Festival sehen, weil ich die ganze Zeit mit anderen Dingen zu tun hatte. Aber ich hoffe, dass ich einige der hier gelaufenen Filme sehen kann, wenn ich nach Hause komme.

Ricore: Wie war die Reaktion des Publikums auf Ihre Werke?

Andersson: Viele meinten, dass sie etwas Einzigartiges gesehen hätten. Solche Aussagen gefallen mir natürlich und ich hoffe, dass sie der Wahrheit entsprechen.

Ricore: Was ist das Spezielle an Ihren Filmen?

Andersson: Besonders ist vor allem, dass ich Szenen in einer einzigen Kamera-Einstellung drehe. Außerdem sind karge Beleuchtungen und blasse Gesichter für meine Geschichten charakteristisch. Des Weiteren reduziere ich meine Bilder auf die wichtigsten Elemente. Der letzte Punkt ist, dass meine Geschichten nicht realistisch, sondern eher hyperrealistisch sind.

Ricore: Weswegen spielt Hyperrealismus für Sie eine so große Rolle?

Andersson: Ich habe zu Beginn meiner Karriere fünfzehn Jahre lang Filme aller Art im realistischen Stil gedreht, bis ich dessen müde wurde. Ich wollte den Job wechseln und habe überlegt, wie ich mich verändern kann. Eines Nachts habe ich festgestellt, dass ich die Abstraktion dazu verwenden kann, um Szenen zu purifizieren und etwas Interessanteres daraus zu machen.

Ricore: Dieser Stil findet sich auch in "Någonting har hänt" (Festivaltitel: "Something Happened"). Weshalb stritten Sie sich mit der schwedischen Regierung?

Andersson: Ich sollte einen Film drehen, der eine Diskussion zum Thema HIV ankurbelt. Ich wusste zunächst nicht viel über diesen Krankheitserreger, weshalb ich vor Drehstart eine Menge recherchieren musste. Die Regierung wollte jedoch nicht, dass ich zu viele Fakten recherchiere.
Neue Visionen
Das jüngste Gewitter
Roy Andersson: Seit über zwanzig Jahren Lügen verbreitet
Ricore: Weshalb?

Andersson: Sie wollten sich nicht intensiv damit beschäftigen, wie dieses Virus entstanden ist. Seit über zwanzig Jahren werden darüber Lügen verbreitet. Es ist doch eindeutig, dass es ein vom Menschen gemachter Virus ist. Es ist eine gefährliche Mischung unterschiedlicher Viren. Bevor ich mit dem Film begann, gaben mir Behörden und Mediziner einige Informationen, doch ich merkte, dass diese nicht korrekt waren.

Ricore: Welche Information zum Beispiel?

Andersson: Ich staunte insbesondere, dass mir die Wissenschaftler sagten, dass sich das Virus in Afrika durch die Nahrungsaufnahme verbreitet habe, weil sie dort Affen essen würden. Aber sie erzählten mir nicht, dass der Affe das am meisten missbrauchte Tier für Laborversuche ist. Sie haben versucht in Affen verschiedene Viren zu mischen. Ich hielt es für unfair und unehrlich, dass diejenigen mich belogen, für die ich ein Aufklärungs-Film drehen sollte.

Ricore: "Something Happened" thematisiert wie viele Ihrer Filme auch den Holocaust. Welche Beziehung haben Sie zu diesem Thema?

Andersson: Keine besondere. Ich denke vor allem, dass der Holocaust gut zum Thema 'Verbreitung von Lügen' passt.

Ricore: Welche Konflikte hatten Sie mit Ingmar Bergman an der Filmschule Stockholm?

Andersson: Bergman war sehr konservativ und hatte zugegeben, dass er Sympathien für den Nationalsozialismus hat. Er entstammte Stockholms gehobener Gesellschaft. Die Mitglieder dieser Schicht schickten ihre Kinder während des Sommers gerne nach Deutschland zur Hitlerjugend. Deswegen ist es natürlich, dass er gewisse Sympathien pflegte. Ich kam 1967 zur Filmschule, genau zu dem Zeitpunkt, als der Vietnamkonflikt eskalierte. Mit meinen Studienkollegen filmte ich viele Demonstrationen, weil wir von der Universität Kameras zur Verfügung gestellt bekommen hatten. Ingmar Bergman hasste das. Deswegen wurden ich und meine wenigen Studienfreunde nicht in sein Sommerhaus eingeladen, zu dem sonst alle Studenten eingeladen wurden. Außerdem sagte er mal zu mir: "Wenn du weiterhin die Vietnam-Demonstrationen filmst, wirst du nie die Chance erhalten, einen abendfüllenden Spielfilm zu drehen. Niemals".

Ricore: Inwieweit ließen Sie sich trotz der Schwierigkeiten von seinem Werk inspirieren?

Andersson: Ich habe großen Respekt vor der Arbeit Ingmar Bergmans. Da besteht überhaupt kein Zweifel. Ich finde insbesondere zwei seiner Filme interessant: "Das Schweigen" und "Persona". Keinen der beiden finde ich von Anfang bis Ende komplett gut. Jedoch gibt es jeweils einige Szenen, die ich beeindruckend finde. Er gehörte zur wichtigsten Gruppe europäischer Filmemacher: Den 1960ern. Diese Zeit war wirklich interessant.
Swedish Film Institute
Roy Andersson
Verzicht auf Montagen
Ricore: Weshalb verzichten Sie im Gegensatz zu früher in Ihren Filmen auf Montagen?

Andersson: Wenn man Montagen verwendet, glaubt man nach einem verpatzten Dreh noch Szenen am Schneidetisch retten zu können. Ich habe gemerkt, dass das für mich nicht funktioniert. Es ist besser, die Szene zu retten, wenn man sie dreht. So wirkt sie natürlicher. Dies ist mein Stil. Ich drehe Szenen ohne Schnitt und verzichte sogar darauf die Kamera zu bewegen. Meine Philosophie lautet: "Du darfst die Kamera nicht bewegen, es sei denn, es ist absolut nötig. Schneide nicht, wenn du es nicht musst."

Ricore: Was ist für Sie das Wichtigste, wenn Sie einen Film machen?

Andersson: Das Wichtigste ist, dass ich die Szenen auf ihre wichtigsten Bestandteile reduziere und alles Unnötige weglasse. Ich schaffe sozusagen ein schmutzfreies Bild. Die Philosophie dahinter ist, dass der Film eine höhere Realität darstellen soll, als die Wirklichkeit selbst.

Ricore: Was wird mit Hilfe der Hyperrealität deutlicher?

Andersson: Die meisten Filme, die heutzutage gemacht werden, sollen unterhalten. Für mich ist es nicht genug, zu unterhalten. Ich möchte den Zuschauern die Augen öffnen, wie etwa die Lügengeschichte zum Thema Aids. Meine Hyperrealität hat dazu geführt, dass mein Film schließlich verboten wurde.

Ricore: Inwieweit unterscheidet sich ihr aktuelles Projekt "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence" von Ihren vorherigen Filmen?

Andersson: Es gibt keine ernsthaften Unterschiede. Dieses Mal geht es um Fragen der menschlichen Existenz.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 7. September 2014
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2024