Jean-François Martin/Ricore Text
Woody Allen
Woody Allen über die Tragik des Lebens
Interview: Alltagsleben mangelhaft
Das Londoner Traditionshotel Dorchester gleicht einer gut bewachten Festung. Wegen eines Feuers im Claridge, so heißt es, wurden Brad Pitt, Matt Damon und Jim Carrey kurzfristig in Luxusabsteige am Hide Park verlegt - und das ausgerechnet heute. Denn so berühmt diese Superstars auch sein mögen, an diesem Tag spielen sie nur die zweite Geige. Schuld daran ist Woody Allen, der mich in seiner abgeschotteten Suite zu einem Interviewtermin zu "Melinda und Melinda" empfängt.
erschienen am 20. 06. 2005
Chloë Sevigny in: Melinda & Melinda
Auf dem Weg zum Aufzug lasse ich den Tee trinkenden Rod Steward links liegen und denke lieber an die Vorgaben der Pressedamen: Fragen sollen genau und vor allem laut formuliert werden, denn der personifizierte Stadtneurotiker gilt als kritischer Interviewpartner mit schlechtem Gehör. 25 Minuten, ermahnt mich seine Assistentin und schiebt mich durch die schwere Eingangstür der Suite im dritten Stock. Dann Stille. Ein graziler Woody Allen fixiert mich mit scharfem Blick, schüttelt mir die Hand und wünscht ein simples "Good Luck". Ein letzter Blick aus dem gegenüberliegenden Fenster offenbart einen grauen, Wolken übersäten Himmel. Ich habe Glück. Woody Allen ist gut gelaunt.



Ricore: Mr. Allen, Komödie ist Tragödie in einem anderen Gewand. In Ihrem neuen Film "Melinda und Melinda" diskutieren Sie diesen schmalen Grat und beleuchten zwei Geschichten aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Warum?


Woody Allen: An meinen Geschichten fällt mir immer wieder auf, dass man sie lustig oder dramatisch erzählen könnte, ganz nach Belieben. Meistens entscheide ich mich für eine komische Inszenierung, aber der Gedanke, einmal beides zur selben Zeit zu wagen, ließ mich seit langem nicht mehr los.

Ricore: In vielen Ihrer Filme haben Sie neben dem Regiepart auch eine der Hauptrollen übernommen. Was hat bei "Melinda und Melinda" dagegen gesprochen?


Allen: Es hätte den Fokus dieses Mal zu sehr von den Geschichten abgelenkt. Die Zuschauer wären nicht bei der Sache gewesen, hätten sich zu sehr auf mich konzentriert. Unabhängig davon hätte ich aber sehr gut eine der Rollen im Film spielen können. Das steht außer Frage.
20th Century Fox
Will Ferrell an der Seite von Radha Mitchell
Ricore: Welcher Erzählstrang hätte denn am ehesten zu Ihnen gepasst: die Komödie oder die Tragödie?

Allen: Die Tragödie, denn für mich ist das Leben von Natur aus entsetzlich tragisch. Für mich gibt es zwei Kategorien von Menschen: Die einen haben eine tragische Sicht der Dinge und können gut damit leben. Die anderen dagegen haben noch eine viel tragischere Sicht der Dinge und müssen deswegen schon wieder Witze darüber reißen. Sie empfinden das Leben als so entsetzlich, dass sie sich, würden sie nicht ständig Witze machen, auf der Stelle selbst umbringen müssten. Für mich stellt sich die Frage also nicht nach "lustig" oder tragisch", sondern nur nach "tragisch" oder "sehr tragisch". Am tragischsten sind dabei jene, die versuchen, sich mit Witzen aus ihrer furchtbar misslichen Lage zu befreien - und es nicht schaffen.

Ricore: Also gehören Sie - aus Ihrer Sicht betrachtet - zu den tragischsten Menschen auf Erden?


Allen: Korrekt. Es mag vielleicht ein Klischee sein, dass die erfolgreichsten Komiker immer viel gelitten haben, aber kraft meiner Erfahrung kann ich heute sagen: Es stimmt. Betrachten Sie einfach mal die Biographien großer Komiker und Clowns, befragen Sie ihre Familien und Ehefrauen. Egal ob Buster Keaton, Charlie Chaplin oder die Marx Brothers. Alle haben sie gelitten, Zeit ihres Lebens.

Ricore: Was macht Sie persönlich froh?


Allen: Das Wetter zum Beispiel. Schauen Sie aus dem Fenster, für mich gibt es kein besseres Wetter als das in London. Psychologische Studien beweisen, dass Menschen depressiv werden, wenn die Wolken zu lange über ihnen hängen und es zu lange düster ist. Bei mir ist genau das Gegenteil der Fall. Wenn in New York die Sonne scheint, spüre ich ein Übelkeitsgefühl im Bauch. Es muss ja nicht unbedingt regnen, aber wenn es bewölkt und grau ist, spüre ich automatisch ein wundervolles Gefühl von Wärme. Im Sommer dieses Jahres habe ich zum ersten Mal einen Film hier in London gedreht. Es war tagein tagaus bewölkt. Herrlich. Ich sollte mir ernsthaft überlegen, nach London zu ziehen.

Ricore: Sie sind Ihrer Filmheimat New York also nur wegen des Wetters abtrünnig geworden?


Allen: Nein, das lag am lieben Geld. Bis man in Amerika Geld bekommt, muss man sich viele Fragen gefallen lassen. Geldgeber verstehen sich nicht nur als Banker, sondern wollen das Skript lesen und vorab genaue Infos über die Besetzung haben. Kurz gesagt: Sie wollen Teil meines Projektes werden, was ich wiederum nicht möchte. Hier brauchte ich nichts erklären. Man drückte mir blind das Geld in die Hand und ließ mich machen.

Ricore: War der Dreh im Gegensatz zur vertrauten Atmosphäre New Yorks eine große Umstellung für Sie?


Allen: Anfangs war ich natürlich sehr nervös, aber alle Bedenken waren unsinnig. Der Dreh war eine wundervolle Erfahrung.

Ricore: Seltsam: Normalerweise sind Sie mit Ihren Filmdrehs nie zufrieden. Angeblich weigern Sie sich sogar, Ihre Filme nach Fertigstellung auch nur ein einziges Mal anschauen. Was also ist passiert?


Allen: Ich kann es mir auch nicht erklären. Von der Crew über die Schauspieler bis hin zum Wetter hat alles zusammengepasst. Das seltsamste ist, dass ich bis heute dieser Meinung bin. Denn im Schneideraum werde ich für gewöhnlich immer am kritischsten und kann an dem, was ich gedreht habe, nur wenig Gutes finden. Diesen Film dagegen empfinde ich als Geschenk, das ich gar nicht verdient habe. Ich habe genauso gearbeitet wie sonst auch, habe nichts anders gemacht. Vermutlich hatte ich einfach Glück. Mal abwarten.
20th Century Fox
Woody Allen am Set von Melinda & Melinda
Ricore: Traut ein Neurotiker wie Sie dem Glück?

Allen: Aber natürlich, das Leben hat ja seine schönen Momente. Man gewinnt in der Lotterie, trifft eine schöne Frau oder bekommt ein gutes Essen vorgesetzt. Persönliche, individuell gestaltete Glücksmomente erlebt man also genug. Nur wenn man einen Schritt zurücktritt und diese Momente in ihrer Gesamtheit betrachtet, sind sie nichts anderes als angenehme Oasen eines tragischen Lebens. Nehmen Sie einen Film wie "Das siebente Siegel" von Ingmar Bergman. Da gibt es zwischen Tragik und Morden eine Szene, in der der Protagonist mit seinen Kindern Milch trinkt und wilde Erdbeeren isst. Der Augenblick scheint nahezu perfekt, doch kurz darauf muss er zurück in die Realität.

Ricore: Fühlen Sie sich in Ihrer Heimat nach dem erneuten Wahlsieg von George W. Bush noch wohl?


Allen: Lassen Sie mich es so sagen: Ich habe dasselbe Problem wie fünfzig Prozent aller Amerikaner auch. Wir müssen die schlimmste Regierung ertragen, die unser Land je erlebt hat, und das bedrückt mich natürlich. Aber in vier Jahren bekommen wir wieder eine neue Chance. Und in diesem Fall bin ich ausnahmsweise mal optimistisch.

Ricore: Für viele sind Sie der europäischste Regisseur, den Amerika hat. Würden Sie dieser These zustimmen?


Allen: Verglichen mit Los Angeles ist New York ist an sich schon eine sehr europäische Stadt. Ein Woody Allen der Westküste wäre unter Umständen sogar denkbar, nur würde er dort nicht lange durchhalten. Im Alter von achtzehn Jahren, als ich meine Leidenschaft für Film entdeckte, hatten europäische Filme auf einen New Yorker wie mich großen Einfluss. Fast jede Woche wurden wir mit europäischen Filmen von Bergman, Godard, Truffaut oder Antonioni konfrontiert, die um so vieles besser waren als der ganze infantile Mist, den Hollywood zustande brachte. Mit Sicherheit gab es auch in Europa schlechte Filme, nur bekam ich die nie zu Gesicht. Nach New York kam nur die Crème de la Crème, und die hat mich natürlich in meinem Schaffen beeinflusst.

Ricore: Wie genau?


Allen: Ohne es zu wollen, ganz unterbewusst. Der Stil orientiert sich an dem, was man mag. Wie ein Musiker, der seine persönliche Linie automatisch aus seiner Lieblingsmusik ableitet. Meine Zuneigung zum europäischen Kino musste sich also zwangsläufig in meinen Filmen widerspiegeln.

Ricore: Sind Sie über die aktuellen deutschen Filme informiert?


Allen: Nicht mehr so wie früher zu Zeiten von Fassbinder. "Good Bye, Lenin!" und Bruno Ganz kenne ich natürlich, aber ausländische Filme werden in den Vereinigten Staaten fast nicht mehr gezeigt.

Ricore: Haben Sie jemals im Kino geweint?


Allen: Ständig, immer wieder. Das Kino ist vermutlich der einzige Platz auf der ganzen Welt, an dem ich weinen kann. Im echten Leben habe ich damit starke Probleme, es ist so gut wie unmöglich. Ich kann mich noch erinnern, als ich beim Dreh zu "Hannah und ihre Schwestern" auf Knopfdruck weinen sollte. Man träufelte mir sogar diese berühmten Tränentropfen in die Augen, aber es ging trotzdem nicht. Es war katastrophal. Im Kino kann ich dagegen heulen wie ein Schlosshund. Fast ein bisschen wie Magie.

Ricore: "Melinda & Melinda" schildert die Suche nach Liebe, Sie selbst sind nach zwei gescheiterten Ehen nun mit Ihrer Stieftochter Soon-Yi Previn verheiratet. Was ist das Wichtigste, das Sie in all den Jahren über die Liebe gelernt haben?


Allen: Dass sie wesentlich mehr von Glück abhängt als man zugeben möchte. Man denkt, man kann den Verlauf einer Beziehung kontrollieren, aber das stimmt nicht. Immer wieder hört man Leute sagen, dass man an einer Beziehung arbeiten muss, damit sie gut funktioniert. Aber warum sagt man das nicht über Dinge, die wir wirklich lieben und gerne tun? Niemand muss daran arbeiten, immer gerne ins Fußballstadion zu gehen oder die Freizeit auf seinem Boot zu genießen! Warum soll man an einer Beziehung arbeiten können, wenn man das Schöne in der Regel einfach genießt? Nein, nein, eine Beziehung lässt sich nicht kontrollieren. Wenn Sie sich verlieben, genießen Sie den Moment in der Hoffnung, dass Ihnen das Glück auch in Zukunft hold ist. Ist dem nicht so, sollten Sie auf ein gewisses Maß an Leid vorbereitet sein. So wie es bei den meisten Beziehungen ist. Man bleibt zusammen, weil man zu träge ist, Angst vor Einsamkeit hat oder die Kinder im Weg stehen. Eine glückliche Beziehung, die über Jahrzehnte funktioniert, ist ein seltener Glücksfall.

Ricore: Warum haben Sie die beiden Erzählstränge in "Melinda & Melinda" nicht identisch aufgebaut, um den feinen Unterschied zwischen Tragik und Komik nur durch Veränderung von Atmosphäre, Spielweise und Inszenierung auszuarbeiten?


Allen: Das war auch meine erste Überlegung, aber die Doppelungen hätten den dramaturgischen Aufbau des Films zerstört. Es mag der Idealfall sein, vielleicht schafft es ja jemand mit mehr Talent. Für mich lag es außerhalb meines Machtbereichs.
Radha Mitchell
Ricore: Was liegt im täglichen Leben noch außerhalb Ihres Machtbereichs?

Allen: Fast alles, glauben Sie mir. Ich kann Leute unterhalten, und dieses Talent hat mir rückblickend ein produktives Leben ermöglicht. Aber ansonsten habe ich es nicht leicht. Die simpelsten Dinge bereiten mir Probleme, ich bin im täglichen Leben entsetzlich ungeschickt. Es fällt mir schwer, in ein Hotel einzuchecken, einen Spaziergang zu machen, etwas in einem Geschäft umzutauschen oder meine zwischenmenschlichen Beziehungen auf die Reihe zu bringen. Dinge, die für andere kindisch einfach sind, fallen mir extrem schwer.

Ricore: Wenn dem wirklich so ist: Wie strukturieren Sie Ihre Tage, um überhaupt leben zu können?


Allen: Ich vermeide Schwierigkeiten, so gut es eben geht. Ich drehe permanent. Und wenn ich ein Projekt abgeschlossen habe, fange ich sofort wieder an zu schreiben. Etwas anderes macht keinen Sinn. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr arbeite ich auf derselben Olympus-Schreibmaschine und sie sieht trotzdem aus wie neu. Alle meine Filme sind darauf entstanden, aber bis vor kurzem konnte ich noch nicht einmal das Farbband wechseln. Es gab Zeiten, da habe ich Leute zum Essen eingeladen, nur damit sie mir danach das Band wechseln. Es ist eine Tragödie.

Ricore: Verstehen Sie Ihre Filme als eine Art der Selbsttherapie?


Allen: Auf alle Fälle. Jede Art von Arbeit kann in gewisser Weise therapeutisch wirken. In den letzten Jahren habe ich auch viel Psychoanalyse ausprobiert. Auch das hat mir etwas geholfen, nur nicht in dem Maße, wie ich es mir anfangs erhofft hatte.

Ricore: Und Ihre Jazz Band, mit der Sie um die Welt touren? Verstehen Sie die als Leidenschaft, Hobby oder zweiten Beruf?


Allen: Eher als Wunder. Ich bin kein guter Musiker, und das sage ich nicht aus falscher Bescheidenheit. Ursprünglich habe ich mich einmal pro Woche zuhause mit meinen Freunden getroffen, um Musik zu machen. So wie andere beim Pokern relaxen, hatte ich meine Klarinette. Irgendwann schlug jemand vor, unsere Musikabende in ein Kabarett zu verlegen. Alle waren begeistert, also willigte ich ein. Dann, nach einigen Jahren, bekamen wir ein erstes Angebot aus Europa. Ich fügte mich wieder und ließ den Dingen ihren Lauf. Inzwischen spielen wir in Konzert- und Opernhäusern vor tausenden von Menschen, und ich weiß nicht so recht, wie es geschehen konnte. Vermutlich kommen die Leute einfach nur, weil sie meine Filme kennen und mich sehen möchten. Das, was wir spielen, ist gar nicht so wichtig.

Ricore: Stört Sie das denn nicht?


Allen: Ein bisschen schuldig fühle ich mich schon. Einmal gab ich in Paris ein ausverkauftes Konzert, kurz nachdem eine Jazzlegende vor einer Handvoll Zuschauer spielen musste. Meine Band mag nicht schlecht sein, unsere Auftritte vielleicht auch authentisch, aber bei mir ist die Leidenschaft und Zuneigung zur Musik größer als mein eigentliches Können. Ich gebe nur mein Bestes, aber das scheint dem Zuschauer zu reichen.

Ricore: Sie werden im nächsten Dezember 70. Haben Sie noch nie überlegt, einen Gang herunterzuschalten?


Allen: Ach, ich arbeite einfach gerne. Das lenkt mich ab und beschäftigt mich wenigstens. Wo sollte ich auch sonst Ehrgeiz entwickeln? Als Künstler strebt man immer nach dem ultimativen Werk und erreicht es doch nie. Man dreht einen Film, und das Ergebnis lässt zu wünschen übrig. Man versucht es erneut - und scheitert wieder. In gewisser Weise finde ich es angenehm, man verliert sein Ziel dadurch nie aus den Augen. Ich mache meinen Job ja nicht, um Geld zu verdienen oder möglichst hohe Besucherrekorde zu erreichen. Ich probiere einfach vor mich hin. Was, wenn ich irgendwann Perfektion erreichen würde? Was würde mir dann noch bleiben?
erschienen am 20. Juni 2005
Zum Thema
Woody Allen zählt zu den bekanntesten und anerkanntesten Filmemachern des amerikanischen Independentkinos. Der am ersten Dezember 1935 in Brooklyn geborene Allan Steward Königsberg realisiert seine Filme als Drehbuchautor, Regisseur, Schauspieler und Produzent. Durch seine eigenwilligen, skurrilen und bittersüßen Werke schuf sich Allen weltweite eine große Fangemeinde. Viele seiner frühen Filme haben bis heute an Frische, Spritzigkeit und intellektuelle Schärfe nichts eingebüßt. Allen wurde in..
Stadtneurotiker Woody Allen lamentiert nach langer Zeit wieder einmal kunstvoll über seine Lieblingsthemen: Liebe, Sex und den Sinn des Lebens. Ausgangspunkt sind zwei Pärchen in einem New Yorker Restaurant. Bei ihren heißen Diskussionen über die Mysterien der Liebe beginnen die vier eine tragische und eine komische Geschichte über die fiktive Melinda (Radha Mitchell) zu spinnen. Allens Komödie besticht durch ihre pointierten und ironischen Dialoge.
2024