Metropolitan Films
Matt Reeves am Set des Horror-Films "Let Me In"
Zwischen Kommerz- und Autorenkino
Interview: Blutgieriger Matt Reeves
Nach dem Erfolg von "Cloverfield" stehen Matt Reeves viele Türen offen. Die Idee, ein Independent-Projekt umzusetzen, scheitert dennoch an der Finanzkrise. Zu riskant sind den Produzenten jegliche künstlerische Ambitionen. Reeves bekommt das Angebot, ein Remake des schwedischen Horrorthrillers "So finster die Nacht" zu inszenieren. Ein konventioneller Film ist aus "Let Me In" dennoch nicht geworden. In seiner gemächlichen Erzählweise und der gedämpften Stimmung erinnert das Werk an das europäische Autorenkino. Im Interview mit Filmreporter.de spricht der 45-Jährige über Einflüsse, Kindheit und seiner Begegnung mit dem Autor der Buchvorlage.
erschienen am 15. 12. 2011
Wild Bunch
Let Me In
Ricore: Wie kam es dazu, dass Sie ein Remake von "So finster die Nacht" drehten?

Matt Reeves: Als ich "Cloverfield" 2008 fertig stellte, suchte ich nach einem neuen Projekt. Dabei stieß ich auf einen interessanten Stoff, den ich gerne inszenieren würde. Es handelt sich um einen Independent-Film. Ich war sicher, dass ich nach dem Erfolg von "Cloverfield" keine Probleme haben würde, den Film zu machen. Wegen der Wirtschaftskrise herrschten jedoch schwierige Zeiten. Viele Produktionsunternehmen meldeten Konkurs an. Es wurde immer schwieriger, unkonventionelle Filme zu machen. Ich reichte das Drehbuch einer Firma ein. Die Produzenten mochten es zwar, fanden es aber zu riskant. Daraufhin fragten sie mich, ob ich nicht Lust hätte, ein Remake zu inszenieren. "Nein", sagte ich, "nicht wirklich" (lacht)...

Ricore: Zu dem Zeitpunkt war "So finster die Nacht" in den USA noch nicht erschienen, oder?

Reeves: Stimmt, der Film kam erst im Oktober 2008 in die amerikanischen Kinos. Das heißt, ich hatte ihn zum damaligen Zeitpunkt noch nicht gesehen und wusste nichts darüber. Als ich ihn mir später ansah, war ich hin und weg. Er erinnerte mich an meine eigene Kindheit. Natürlich kannte ich keine Vampire, dafür aber das Gefühl der Einsamkeit, die in "So finster die Nacht" so beherrschend ist. Ich rief die Produzenten an und sagte ihnen, dass ich das Remake nicht machen wolle, weil das Original einfach zu gut ist. Daraufhin sagten sie, dass sie die Rechte für die Verfilmung noch nicht haben und ich genug Zeit hätte, es mir zu überlegen.

Ricore: Das Projekt ließ Sie nicht los?

Reeves: Nein, ich konnte nicht aufhören, an "So finster die Nacht" zu denken. Dann erfuhr ich, dass der Film auf einem Roman basiert. Ich fragte meinen schwedischen Freund, mit dem ich zusammen in der Filmhochschule war, ob er mir etwas über das Buch und den Autor sagen könnte. Er erzählte mir, dass "So finster die Nacht" einer der beliebtesten Romane in Schweden und dessen Autor John Ajvide Lindqvist das schwedische Pendant von Stephen King sei. Ich las das Buch und fand noch mehr Anknüpfungspunkte mit dem Protagonisten. Ich erkannte, dass die Geschichte offenbar sehr persönlich ist. Das Buch handelte von der Kindheit Lindqvists. Er ist ungefähr in meinem Alter ist und erlebte seine Kindheit in den 1980er Jahren. Ich dachte vielleicht gibt es einen Weg, wie ich dem Buch treu sein und trotzdem einen Kontext zu meiner eigenen Kindheit herstellen kann.
MFA+
So finster die Nacht
Ricore: Am Anfang von "Let me in" blenden Sie eine Rede des damaligen Präsidenten Ronald Reagan ein. Welche Verbindung sehen Sie zwischen den Ereignissen im Film und der Reagan-Ära?

Reeves: In den 1980er waren fundamentale Gedanken bestimmend. In "Let me in" sagt Reagan, dass die Sowjetunion böse sei, während die Amerikaner grundsätzlich die Guten wären. Ich dachte, dass das ein guter Kontext für die Handlung von "Let me in" wäre. Als Kind hat man oft sehr dunkle Gefühle, die von der Erfahrung mit anderen Menschen herrühren. Owen wird von seinen Klassenkameraden terrorisiert, seine Eltern lassen sich scheiden, kurzum: er fühlt sich hilflos. Für ein Kind mit dieser Erfahrung kann es äußerst verwirrend sein, wenn es gesagt bekommt, dass die Menschen in Amerika ausnahmslos gut seien.

Ricore: Haben Sie mit John Lindqvist Kontakt aufgenommen?

Reeves: Ja, ich habe ihm geschrieben. Immerhin war das seine Geschichte. Ich wollte das Remake nicht machen, bevor er mir nicht seinen Segen gibt. Ich sagte ihm, dass mich die Vorlage nicht nur wegen der Horrorelemente interessiere, sondern weil die Geschichte Bezugspunkte zu meinem eigenen Leben aufweist. Er antwortete mir, dass er "Cloverfield" gesehen habe und den Film möge. Es fände es toll, wenn ich das Remake von "So finster die Nacht" machen würde. Er gab mir also seinen Segen und so entschied ich mich, "Let me in" zu machen.

Ricore: Wurden Sie nicht doch ein wenig skeptisch, als das Original in den Kinos anlief und Publikum sowie Kritiker in Erstaunen versetze.

Reeves: Als "So finster die Nacht" in die Kinos kam, befand ich mich bereits mitten im Drehbuch zu "Let me in". Der Film kam tatsächlich sehr gut an. Das war für mich keine Überraschung. Trotzdem dachte ich, dass ich den Fehler meines Lebens gemacht habe. Ich befürchtete, dass niemand meinem Film eine Chance geben würde. Das versetzte mir einen unglaublichen Schrecken. Dann beschloss ich, es einfach durchzuziehen und den Film aus dem Grund zu machen, wieso ich mich ursprünglich dafür entschieden hatte. Ich liebte die Geschichte und konnte mich damit identifizieren.
Wild Bunch
Kodi Smit-McPhee in "Let Me In"
Ricore: Wie hat Lindqvist Ihr Film gefallen?

Reeves: Meine größte Sorge war, ob Lindqvist "Let me in" mögen würde. Am Tag der US-Aufführung des Films erhielt ich von ihm einen Brief. Darin hieß es, dass er sich den Film zusammen mit seiner Frau in London angesehen hätte. Er schrieb, dass er der glücklichste Autor der Welt sei, da sein Buch gleich zwei Mal großartig verfilmt wurde. Diese Akzeptanz war für mich das größte Lob, das ich bekommen konnte. Er lud mich und meine Frau ein, sie in Schweden zu besuchen. Das taten wir auch. Er und seine Familie sind sehr nett. Es war eine tolle Zeit.

Ricore: Er soll früher Zauberkünstler gewesen sein. Hat er Ihnen eine Kostprobe seines Könnens gegeben?

Reeves: Ja, er hat uns ein paar Tricks gezeigt und wir redeten über unser Leben. Es war ein sehr schöner Abend.

Ricore: Eine schöne Geschichte. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Reeves: Ja, absolut (lacht).

Ricore: Im Vergleich zu "So finster die Nacht" ist in "Let me in" das Horrorelement sehr ausgeprägt. Im Kontext der Genregeschichte zeigen Sie endlich wieder einen Vampir, der zubeißt.

Reeves: (lacht). Ja, die "Twilight"-Filme haben die Grundidee des Vampirfilms stark verändert. Sowohl an der Vorlage als auch an der Adaption gefiel mir besonders gut, dass sie den Vampirismus als Metapher für den Schrecken des Aufwachsens verwendet haben. Auch ich benutze das Motiv als Metapher. Die Vampirelemente stehen gleichwertig neben der Gewalt der Kinder. Der Junge ist in seiner Kindheit permanent von Bedrohungen umgeben. Für ihn ist die Schule wie ein Horrorfilm.
Alive
Ein kurzer Film über die Liebe
Ricore: So bedrohlich das Vampir-Mädchen ist, so menschlich ist es auch. Sie zeigen quasi den Menschen im Tier.

Reeves: Ja, das Vampirdasein ist für Abby eine Bürde. Als ich mit Chloë Grace Moretz die Rolle besprach, sagte ich ihr, dass sie Abby traurig und niedergedrückt spielen soll. Für mich ist Abby ein einsames und entwurzeltes Mädchen. Obwohl sie erst zwölf Jahre alt ist, hat sie Sachen erlebt, die kein Kind in ihrem Alter erleben sollte. Sie ist ein Mädchen mit großer Bürde und Scham, ein Mensch, der sich seiner dunklen Seiten schämt.

Ricore: "Let me in" ähnelt mit seiner langsamen Erzählweise und den statischen Kameraeinstellung auffällig dem europäischen Autorenfilm.

Reeves: Es gibt zwei Stile im Film und einer davon ist tatsächlich europäisch. Ich wurde sehr von Alfred Hitchcock geprägt. Er war ja Engländer, der später zu einem sehr amerikanischen Regisseur wurde. In "Let me in" wandte ich den Hitchcock'schen Suspense an. Auch das Motiv des Voyeurismus habe ich von ihm. Außer Hitchcock gibt es einen weiteren europäischen Filmemacher, der den Stil von "Let me in" stark geprägt hat, und zwar Krzysztof Kieslowski. Vor allem sein "Ein kurzer Film über die Liebe" ist in "Let me in" eingeflossen. In beiden Filmen spielt Voyeurismus eine wichtige Rolle. Inhaltlich geht es hier wie da um einen jungen Mann, der sich in ein Mädchen verliebt. Außerdem ist die Erzählweise von "Let me in" sehr an "Ein kurzer Film über die Liebe" angelegt. Insofern betrachte ich ihre Bemerkung als ein Kompliment. Ich bin ein Anhänger des internationalen, vor allem des europäischen Films.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 15. Dezember 2011
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