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Jaume Balagueró stellt in Berlin "Sleep tight" vor
Durch den Blick des Bösen
Interview: Jaume Balagueró hat uns im Visier
Jaume Balagueró mag's düster. Das beweist er auch mit seinem Thriller "Sleep Tight", in dem Luis Tosar zum Soziopathen wird, der seine Opfer mit kalter Kalkulation drangsaliert. Im Interview mit Filmreporter.de spricht der spanische Regisseur Balagueró über Gewalt, Moral und die Faszination des Bösen. Zudem erläutert er die Schwierigkeit, dem Zuschauer seine Autonomie zu lassen.
erschienen am 30. 11. 2012
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Sleep Tight
Ricore: Was haben Sie gedacht, als Sie zum ersten Mal das Drehbuch zu "Sleep Tight" gelesen haben?

Jaume Balagueró: Mich hat das Spannungspotential sehr beeindruckt. Im Grunde ist es eine Geschichte, die bereits 1.000 Mal erzählt wurde. Im Zentrum steht ein perverser Mann, der eine unschuldige, junge Frau terrorisiert. Allerdings wird die Geschichte aus der Perspektive des Bösen erzählt. Das fand ich sehr spannend.

Ricore: Normalerweise steht in Ihren Filmen eine Heldin im Mittelpunkt. Was fasziniert Sie an weiblichen Hauptfiguren?

Balagueró: Mir haben heldenhafte Frauenfiguren schon immer gefallen, Frauen, die bis zum Schluss kämpfen müssen. Woran das liegt, weiß ich allerdings selbst nicht.

Ricore: Vielleicht daran, dass gerade im Horror-Genre Frauen oft die Rolle des Opfers einnehmen müssen?

Balagueró: Ich denke, das kommt daher, dass körperliche Schwäche eher mit Frauen assoziiert wird. Zudem sind die Bösewichte fast immer Männer, als Folge davon werden die Frauen zu deren Opfern. Wenn wir uns einen Psychopathen vorstellen, haben wir meist einen Mann vor Augen. Zwar gibt es auch Ausnahmen, aber in der Regel verbinden wir den Schurken eher mit einem Mann.

Ricore: Wie beurteilen Sie das Verhältnis von Gewaltdarstellungen in härteren Horror-Filmen wie "Hostel" und Gewalt im wahren Leben?

Balagueró: Gewalt ist etwas, das mich sehr beunruhigt. Ich habe schon immer sehr empfindlich auf Gewalt reagiert. Wenn Filme Gewalt verherrlichen, fühle ich mich unwohl dabei. Das heißt nicht, dass ich nicht schon solche Filme gesehen habe, bei denen ich durchaus Spaß hatte. Doch für das Genre finde ich es problematisch. Die Gewalt hat irgendwie die erschreckende Bedeutung verloren, die sie in Wirklichkeit hat. Ich denke, das hat auch mit Filmen und Videospielen zu tun und ich sage damit nicht, dass Videospiele böse sind, mir selbst sind diese Dinge ebenfalls wichtig. Doch ich denke, es hat damit zu tun, dass die Dinge, beispielsweise Folter, nicht mehr als etwas Reales wahrgenommen werden.

Ricore: Inwiefern muss man als Geschichtenerzähler die moralische Dimension vergessen, um die dunklen Seiten des Menschseins zu ergründen?

Balagueró: Die eigene Moral sollte man nie aus den Augen verlieren. Das ist nicht notwendig, da man auch als Erzähler mit der eigenen Moral den Dingen auf den Grund gehen kann. Geschichtenerzähler können jede erdenkliche Geschichte erzählen, ohne dass es die eigene Geschichte ist. Ich habe in meinen Filmen schreckliche Dinge erzählt, und zwar im Bewusstsein, dass sie schrecklich sind. Doch genau das war der Grund, warum ich sie erzählen wollte.
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Böser Luis Tosar in "Sleep Tight"
Ricore: Inwieweit hatten Sie im Falle von "Sleep Tight" die Perspektive des Zuschauers im Blick, besonders in Anbetracht dessen, dass Psychopath César bis zu einem gewissen Grad zur Identifikationsfigur wird?

Balagueró: Dieser Aspekt war der Knackpunkt für mich. Genau das hat mich an der Geschichte fasziniert, eine Figur zu haben, deren Bösartigkeit keine Grenzen zu haben scheint und die trotzdem zur Identifikationsfigur wird. Von der Wahl des Hauptdarstellers bis hin zum Aufbau der Geschichte war alles auf dieses Ziel ausgerichtet. Gleichzeitig sollte sich das Publikum aber nicht wirklich auf die Seite des Bösen schlagen.

Ricore: Wie schwierig ist es, gewisse Emotionen des Zuschauers zu lenken, ohne ihm gleichzeitig seine Autonomie zu nehmen?

Balagueró: Das ist in der Tat immer schwierig. Ich frage mich dabei stets, wie ich mich als Zuschauer selbst dabei fühlen würde. Es war mir wichtig, dass der Zuschauer die Möglichkeit hat, frei zu entscheiden, ob er sich mit dem Bösewicht identifiziert oder nicht. Etwa in der Mitte des Films gibt es eine Szene, in der César droht, erwischt zu werden. In dem Moment fiebert man als Zuschauer mit ihm. Das ist eine sehr wichtige Szene, da man sich in dem Augenblick bewusst wird, dass man sich mit ihm identifiziert. Doch von da an machen wir es dem Zuschauer zunehmend schwerer, an seiner Seite zu bleiben, da César immer drastischere Dinge tut.

Ricore: Was fasziniert Sie an düsteren Stoffen wie "Sleep Tight"?

Balagueró: Die dunkle Seite des Menschseins zieht mich nicht an, doch sie fasziniert mich. Sie beunruhigt und erschreckt mich und ist eine große Inspirationsquelle für meine Geschichten.

Ricore: Erinnern Sie sich noch an den ersten Horrorfilm, den Sie je gesehen haben?

Balagueró: Daran erinnere ich mich nicht mehr, doch ein Film aus meiner Jugend, der mir stark in Erinnerung geblieben ist, ist "Maniac" von William Lustig. Der Film war sehr gut gemacht. Es war nicht mein erster Horrorfilm, doch es war einer der ersten sehr gewalttätigen Filme, die ich gesehen habe und hat einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ich hatte das Gefühl, etwas Verbotenes, Furchterregendes und gleichzeitig Faszinierendes zu sehen.

Ricore: Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie eine Karriere als Filmemacher einschlagen wollen?

Balagueró: Das war wohl mit 17 oder 18 Jahren. In dem Alter kam es mir wie eine Utopie vor, doch ich wollte es versuchen.
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Was mischt Luis Tosar ins Shampoo?
Ricore: Wie war es für Sie, als Sie zum ersten Mal Kritiken über Ihre Filme gelesen haben?

Balagueró: Das war sehr beeindruckend für mich. Seit ich 13 war, habe ich mir immer die französische Zeitschrift Mad Movies gekauft, da ich durch die Schule, auf der ich war, französisch sprechen konnte. In der Zeitschrift ging es um das phantastische Kino und Horrorfilme. Für mich war diese Zeitschrift ein wichtiger Teil meines Lebens. Viele Jahre später bin ich an dem Kiosk vorbeigegangen, an dem ich sie immer gekauft hatte und sah auf dem Titelbild der Zeitschrift "[•REC]" [Horrorfilm von Balagueró, Anm. d. Red.]. Das hat mich sehr bewegt. In dem Moment wurde mir bewusst, dass ein Traum, der einst unmöglich schien, Realität geworden ist.

Ricore: Filme wie "[•REC]" haben dazu beigetragen, dass das spanische Horrorkino weltweit einen sehr guten Ruf genießt. Wie erklären Sie sich die Qualitäten des spanischen Horrorfilms?

Balagueró: Ich denke natürlich schon, dass das spanische Horrorkino eine hohe Qualität hat, aber hier in Spanien haben wir nicht das Gefühl, dass unser Genre-Kino etwas Spezielles ist. Allerdings hören wir das immer wieder von außerhalb. Wir selbst versuchen einfach nur unser Bestes zu geben und unsere Geschichten zu erzählen.

Ricore: In Spanien ist das illegale Downloaden von Filmen ein großes Problem. Wie beurteilen Sie in Anbetracht dessen die Zukunft des Films?

Balagueró: Die Zukunft des Films liegt im Kino. Dem Internet gehört die Gegenwart, doch das Kino ist die Zukunft. Zumindest hoffe ich, dass die Leute in Zukunft wieder ins Kino gehen. In Spanien ist die Filmpiraterie ein großes Problem. Es ist eine Schande. Das Problem ist, dass es den Leuten zu einfach gemacht wird, die Sachen per Knopfdruck zu downloaden. Sobald sich das normalisiert, werden die Leute auch bereit sein, für das Downloaden eines Films zu zahlen.

Ricore: Neben dem finanziellen Aspekt, geht auch eine bestimmte Art der Rezeption verloren, wenn man einen Film auf dem Computerbildschirm statt auf der Leinwand im dunklen Kinosaal sieht.

Balagueró: Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen zwei unterschiedlichen Unterhaltungsformen schaffen, die von den Leuten momentan verwechselt werden. Den Film zu Hause zu sehen, ist eine Form der Unterhaltung, die es schon immer gab. Ich selbst habe es seit meiner Kindheit geliebt, mir zu Hause Filme auf VHS anzuschauen. In Zukunft sollte man das Anschauen der Filme zu Hause auf der einen und den Kinobesuch auf der anderen Seite wieder in Einklang bringen.

Ricore: Wie würden Sie die Hauptcharakteristika Ihrer Regiearbeiten beschreiben?

Balagueró: Ich weiß nicht, das ist für mich sehr schwer zu beantworten. Ich selbst könnte nicht sagen, was mich als Regisseur definiert. Ich erzähle immer dann eine Geschichte, wenn sie mich bewegt und ich die Notwendigkeit verspüre, sie zu erzählen. Mit Sicherheit kann ich jedoch sagen, dass ich bei allen meinen Filmen an meine Zuschauer denke, sicherlich mehr noch als an mich. Denke ich dabei doch an mich, dann deshalb, weil auch ich ein Zuschauer bin, und zwar kein besonderer, sondern bloß ein weiterer. Ich esse gern Popcorn im Kino, womit ich Ihnen sagen will, was für eine Art von Zuschauer ich bin. Davon abgesehen gilt für meine Horrorfilme natürlich, dass sie ziemlich düster sind. Wobei ich bislang kurioserweise ausschließlich Horrorfilme gemacht habe. Das heiß aber nicht, dass ich nicht eines Tages eine andere Art von Film machen werde. Das würde mir sehr gefallen. Meine Filme haben immer eine etwas pessimistische beziehungsweise düstere Sicht. Warum, weiß ich allerdings nicht.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 30. November 2012
Zum Thema
Schon als Kind begeistert sich Jaume Balagueró für das phantastische Kino. Der Film-Enthusiast kauft regelmäßig das französische Genre-Magazin Los sin nombre" gilt er als einer der renommiertesten Regisseure des spanischen Horror-Kinos. Atmosphäre und Inszenierungsstil seines Erstlings geben die Marschrichtung für sein weiteres Schaffen vor. Spätere Regiearbeiten wie "Darkness" und "Frágiles" zeichnen sich stets durch die finstere Stimmung und den pessimistischen Grundton aus. [•REC]"..
Sleep Tight (Kinofilm)
Sind andere Menschen glücklich, muss César (Luis Tosar) leiden. Nur wenn er das Glück anderer Leute zerstören kann, empfindet er eine gewisse Genugtuung. Als der Soziopath die unbeschwerte Clara (Marta Etura) kennenlernt, entwickelt er einen bösartigen Plan, um die junge Frau leiden zu lassen. Mit "Sleep Tight" hat der spanische Regisseur Jaume Balagueró erneut einen packenden Thriller realisiert, der durch seine unheilvolle Atmosphäre und die durchdachte Inszenierung besticht.
2024