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Fernando Meirelles am Set zu "Der ewige Gärtner"
Entscheidender Augenblick
Interview: Fernando Meirelles' Wendepunkt
"City of God" ist ein Wendepunkt in Fernando Meirelles ' Leben. Nach dem Erscheinen seines fesselnden Dramas über das Leben in den Favelas von Rio, wurde der Brasilianer zum weltweit gefeierten Regisseur. Auf dem Filmfest München 2012 präsentierte Meirelles mit "360" ein Episoden-Drama über die Macht des Zufalls und die Liebe in Zeiten der Globalisierung. Filmreporter.de traf den sympathischen Künstler während des Festivals und sprach mit ihm über sein Werk und den Moment, der alles verändert hat.
erschienen am 15. 08. 2012
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Fernando Meirelles
Ricore: Was haben Sie beim ersten Lesen von Peter Morgans Drehbuch zu "360" gedacht?

Fernando Meirelles: Ich habe mich mit einigen Charakteren identifiziert, insbesondere mit deren Konflikten. Mir gefiel vor allem, dass es keinen Antagonisten gibt. Alle Figuren versuchen, ihr Bestes zu geben, wollen gute Ehegatten, Ehefrauen oder Väter sein. So geht es auch mir und den meisten von uns. Alle Charaktere werden jedoch durch Wünsche und Impulse in Versuchung gebracht, so dass sie vom Weg abkommen, den sie für sich selbst vorgesehen haben. Wie jeder andere, habe auch ich solche Konflikte mehrmals austragen müssen und habe dumme Dinge getan, die ich später bereut habe. Ich habe mich schon immer gefragt, was uns dazu bringt, diese Dinge zu tun, anstatt einfach das zu machen, was unser Verstand uns sagt. Selbst der Vergewaltiger im Film will sein Verhalten ändern. Menschen sind ziemlich primitiv, wir werden immer noch von Dingen beherrscht, die wir nicht kontrollieren können.

Ricore: Die episodenhafte Struktur von "360" wurde bereits bei diversen Filmen eingesetzt. Was unterscheidet Ihren Film von vergleichbaren Werken wie "Magnolia" oder "Short Cuts"?

Meirelles: Ja, diese Struktur ist bestens bekannt. Selbst in der Literatur des Mittelalters kommt sie bereits vor. Das Problem bei "360" ist, dass es zu viele Geschichten sind, so dass man wenig Zeit, um die Geschichten zu entwickeln. Bei "Magnolia" waren es, glaube ich, drei Geschichten. Dadurch hat man genug Zeit, um die Charaktere, deren Welt und Konflikte zu präsentieren und weiterzuentwickeln. Wir hatten allerdings nur sieben oder acht Minuten pro Geschichte. Das ist nichts. Ich wusste, dass der Film wie ein Kurzfilmfestival wirken könnte. Doch ich entschied mich, das Risiko einzugehen.

Ricore: Was haben Sie getan, um dem Eindruck eines Kurzfilmfestivals entgegenzuwirken?

Meirelles: Zwei Dinge. Zum einen habe ich versucht, Übergänge zu schaffen, die auf organische Weise von einer Geschichte zur anderen führen. Zum anderen habe ich bekannte Darsteller gewählt, deren Gesichter wiedererkannt werden. In ihren jeweiligen Ländern sind die Darsteller alle sehr bekannt. Wenn man im Film Jude Law sieht, erkennt man ihn auf Anhieb und ist sofort an ihm interessiert. In gewisser Weise habe ich mir die Berühmtheit der Darsteller zu Nutze gemacht, damit das Publikum eine Beziehung zu den Figuren aufbauen kann. Ich bin nicht sicher, ob mir das gelungen ist…

Ricore: Normalerweise ist es einfacher, die Illusion der filmischen Realität aufrechtzuerhalten, wenn man die Darsteller nicht kennt.

Meirelles: Das sehe ich genauso und normalerweise mache ich das auch. Ich arbeite gerne mit unbekannten Darstellern. Doch da ich in diesem Fall keine Zeit hatte, dachte ich mir, dass bekannte Gesichter hilfreich sein würden.

Ricore: Inwiefern reflektiert der Film die heutige globalisierte Welt?

Meirelles: In dem Film geht es darum, wie alles in der Welt miteinander verbunden ist. Peter Morgan wollte diesen Aspekt thematisieren. Er reist viel, lebt in Wien, arbeitet in London, New York und Los Angeles und bewegt sich dauernd hin und her. Er dachte daran, etwas über die Wirtschaft zu schreiben, wie etwa die Wirtschaft in Deutschland jemanden in Südamerika beeinflusst. Doch dann entschied er sich, etwas über persönliche Beziehungen zu machen. Das ist eine riskante, aber sehr interessante Idee, weil es weniger offensichtlich ist.
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360 - Jede Begegnung hat Folgen
Ricore: Sie selbst sind schon in Ihrer Jugend oft in der Welt herumgereist, nicht wahr?

Meirelles: Nicht so oft, wobei ich eine Zeit lang in Los Angeles und Frankreich gelebt habe. Seitdem ich Filmemacher bin, reise ich allerdings mehr, als mir lieb ist und als ich je gedacht hätte [lacht]. Ich bleibe sehr gern zu Hause, doch ich muss eben viel reisen.

Ricore: Haben die vielen Reisen Ihre Sicht auf die Welt verändert?

Meirelles: Ja. Ich bin sehr brasilianisch und meine Familie ist eine sehr alte, große, brasilianische Familie, doch ich sehe mich selbst als internationalen Bürger. Ich habe überall Freunde und wenn ich etwa an einem Samstag nach London komme, ist es in gewisser Weise, als ob ich zu Hause wäre. Es gibt sehr viele Orte, an denen ich mich zu Hause fühle. Ich fühle mich frei und die Welt ist kleiner für mich geworden.

Ricore: In "360" wird gezeigt, wie scheinbar unbedeutende Augenblicke weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen können. Ist alles im Leben eine Reihe von Zufällen oder glauben Sie an eine Art intelligentes Design, das dahinter steht?

Meirelles: Ich glaube, dass wir uns entscheiden können. Darum geht es auch im Film. Allerdings treffen wir die Entscheidungen aufgrund der Chancen, die sich uns bieten. Es ist eine komplexe Struktur und es ist schwer, das zu kontrollieren. Genau das zeigt der Film: eine Entscheidung in Wien ändert das Leben eines anderen Menschen in Phoenix.

Ricore: Können Sie sich an einen zufälligen Moment in Ihrem Leben erinnern, der alles verändert hat?

Meirelles: Ja, es gibt einige Momente, die mein Leben komplett verändert haben. Einer davon war der Augenblick, in dem ich das Buch "City of God" gelesen habe. Das war an Weihnachten, ich glaube 1997. Am Tag vor meinem Weihnachtsurlaub wollte ich mich gerade von meinen Partnern verabschieden, als ich auf dem Tisch eine Ausgabe des Buchs sah. Ich las es, erwarb die Rechte, verfilmte den Stoff und hier sitze ich nun.
City of God
Ricore: Wie wichtig ist "City of God" für Ihre Karriere?

Meirelles: Ich denke, dass "City of God" die Grundlage meiner Filmkarriere gelegt hat. Zu der Zeit, als ich das Buch las, war ich bereits auf der Suche nach Ideen und geeigneten Drehbüchern. Zuvor hatte ich Jahre lang Werbespots und Arbeiten fürs Fernsehen realisiert und ich wollte mich unbedingt weiterentwickeln. Ich wollte einen Spielfilm drehen. Da "City of God" weltweit so gut ankam, haben sich die Dinge geändert. Ohne den Film, würde ich wahrscheinlich nur in Brasilien drehen - was allerdings ebenfalls in Ordnung wäre für mich.

Ricore: Wie hat sich die Situation in Brasilien und speziell in den Favelas geändert, seit Sie "City of God" gedreht haben?

Meirelles: Ich habe den Film vor zehn Jahren gedreht. Seitdem hat sich das Land sehr schnell verändert. Brasilien ist ein ganz anderes Land als noch vor zehn, zwölf Jahren. Große Teile der Bevölkerung sind während dieser Zeit zur Mittelklasse geworden. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung waren wirklich arm, nun sind es etwa fünf oder sieben Prozent, der Rest ist aufgestiegen. In den Favelas in Rio gibt es nun die sogenannte 'Friedens-Polizei', eine spezielle Polizei für die Favelas. Zuvor wurde die Polizei in den Favelas von den dortigen Einwohnern gehasst, da die Polizisten sehr aggressiv waren. Es war immer ein Konflikt zwischen Einwohnern und Drogendealern gegen die Polizei. Inzwischen hat die Bevölkerung mit der Polizei die Drogendealer vertrieben. Zudem wurden die Favelas urbanisiert, es gibt Wasser und Strom. Zuvor war alles illegal. In den meisten Favelas ist es nun besser. Natürlich muss noch viel gemacht werden, aber in den letzten zehn Jahren haben sich die Dinge schnell entwickelt.

Ricore: Inwiefern hat "City of God" dazu beigetragen, dass sich die Dinge ändern?

Meirelles: In dem Fall denke ich natürlich nicht, dass der Film für irgendwelche Veränderungen verantwortlich ist. Die Situation der Favelas wurde allerdings nicht verstanden, so als wäre es eine Black Box. Als ich den Film drehte, war es so, als hätte ich auf einen Teil des Landes Licht geworfen. Aufgrund des Erfolgs wurden danach noch weitere Filme darüber gedreht, weil die Leute Geld damit machen wollten. Zudem gab es im Fernsehen einige Seifenopern in den Favelas. In gewisser Weise habe ich diesen Teil des Landes in das Bewusstsein der Leute gebracht. Nun weiß man, was sich innerhalb dieser Black Box befindet. Ich denke, dass der Film in der Hinsicht hilfreich war.

Ricore: Zurück zu "360": Was sagt der Film über die Liebe in unserer heutigen Welt der sozialen Netzwerke aus, in der jeder mit jedem verbunden zu sein scheint?

Meirelles: Ich glaube, dass sich die Liebe nicht allzu sehr ändert. Wir haben dieselben Gefühle wie die Griechen, die Römer oder die Menschen im Mittelalter. Ich wollte vor allem eines ergründen: Warum tun wir nicht das, was wir tun wollen? Wie sehr haben wir uns selbst unter Kontrolle?

Ricore: Wie ist das bei Ihnen: Sind Sie eher impulsiv oder haben Sie sich selbst unter Kontrolle?

Meirelles: Bei meiner Arbeit, bei Filmen und Drehbüchern bin ich sehr impulsiv, was ich mehrere Male bereut habe. Doch in meinem Privatleben bin ich das Gegenteil. Ich bin seit 26 Jahren sehr glücklich verheiratet und liebe meine Frau. Ich fühle mich nie alleine in der Welt, weil ich weiß, dass sie da ist. Natürlich hatten auch wir unsere Krisen, doch ich weiß, dass sie bis zum Ende da sein wird.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 15. August 2012
Zum Thema
Anhand zusammenhängender Episoden beleuchtet "360" mehrere Liebesbeziehungen. Jude Law und Rachel Weisz spielen ein Londoner Paar, dessen Ehe unter keinem guten Stern steht. Während er in Wien eine Prostituierte (Lucia Siposová) treffen will, betrügt sie ihn mit einem brasilianischen Fotografen (Juliano Cazarré). Dessen Freundin hat es wiederum satt, hintergegangen zu werden und kehrt nach Brasilien zurück. Trotz hervorragender Darsteller und der stilsicheren Inszenierung reicht das von Arthur..
"City of God" ist sein Durchbruch. Der Film über das Überleben in einem Favela von Rio de Janeiro macht Fernando Meirelles 2003 zum international beachteten Regisseur. Er selbst entstammt einer Mittelstandfamilie der Industriemetropole Sao Paulo. Der ewige Gärtner" (2005) von John Le Carré, sowie José Saramagos "Die Stadt der Blinden" (2007). 2011 folgt das Episodendrama "360".
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