Studiocanal
Regisseur Julian Pölsler auf der Deutschlandpremiere von "Die Wand" am 4. Oktober 2012 in München
'Ich bin ein Naturneurotiker'
Interview: Julian Pölslers Demut
Julian Pölsler ist Regisseur und Autor. Mit der gleichnamigen Adaption des 1963 erschienenen Romans "Die Wand" von Marlen Haushofer erreicht er den künstlerischen Höhepunkt seiner Karriere. Die Hauptrolle besetzte er mit "Bella Martha"-Darstellerin Martina Gedeck. Im Interview mit Filmreporter.de berichtet der Österreicher nicht nur von seinen Beweggründen, das berühmte Buch zu adaptieren, sondern erzählt auch von seiner engen Verbundenheit mit der Natur. Diese halte uns einen Spiegel vor, der uns zwingt, in uns zu gehen und uns mit existentiellen Themen auseinanderzusetzen.
erschienen am 9. 10. 2012
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Die Wand
Ricore: Wie hat sich der Roman seit dem ersten Lesen für Sie verändert?

Julian Pölsler: Ich habe den Roman zum ersten Mal 1986 gelesen, also vor genau 25 Jahren. Für mich sind Wandlung und Verwandlung die zentralen Themen. Es geht darum, wie sich diese Frau durch die Katastrophe verändert. Und so hat sich natürlich auch mein Zugang zu diesem Buch in den letzten 25 Jahren verändert. Mir begegnen immer wieder Zuschauer, meistens Frauen, die ihre eigenen Interpretationen haben. Das sind Interpretationen, an die ich nie gedacht hätte. So verwandelt sich mein Zugang zum Roman immer noch. Das ist das spannende an ihm, er ist nicht greifbar.

Ricore: Das Buch ist ja schon etwas älter. Welche gesellschaftliche Relevanz hat der Film heute nach?

Pölsler: Ich glaube, dass die Thematik heute immer noch sehr relevant ist. In unserer Zeit gilt das Motto 'Alles geht, nichts ist aufzuhalten'. Aber ich höre über allem immer ein Katastrophenszenario. Ob es sich um Europa, Euro oder Weltwirtschaft handelt, immer ist von einer Katastrophe die Rede.

Ricore: Glauben Sie nicht, dass das vielleicht ein deutsches Problem ist?

Pölsler: Nein, da muss ich heftig widersprechen. Im Gegenteil, die Deutschen haben sich von der Katastrophen-Larmoyanz mittlerweile weit entfernt. Was der Roman und hoffentlich auch der Film bieten, ist das Innehalten. Alle Menschen sind immer so gestresst und haben keine Zeit. Mir selber ging es ja ähnlich. Deswegen nehme ich mir immer wieder Auszeiten im Wald. Dabei merke ich, man muss sich Zeit für sich nehmen. Ich hoffe, dass die Kinobesucher etwas entschleunigt werden und trotzdem die Chance haben, über Fragen und Probleme unserer Zeit nachzudenken.

Ricore: Der Film spielt in der Gegenwart, die Sprache ist die von damals. Haben Sie damit ein bestimmtes Ziel verfolgt?

Pölsler: Ja, das habe ich. Ich wollte mit dieser Verfilmung dem Roman eine Plattform geben, damit noch mehr Menschen ihn lesen. Er ist einer der wichtigsten Texte Deutschlands. Schon in der Drehbuchphase wurde ich für zu viel Off-Text kritisiert. Dann habe ich eine Drehbuchvariante komplett ohne Off-Text geschrieben und dabei kam ein mittelmäßig-interessanter Fernsehfilm heraus. Also habe ich versucht, die Sprache auf drei Ebenen aufzuteilen. Das Voice-Over von Martina Gedeck, die Bach-Partiten und die Stille. Ich wollte bewusst auf den Text hinweisen.
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Regisseur Julian Pölsler begrüßt die Zuschauer auf der Deutschlandpremiere von "Die Wand" am 4. Oktober 2012 in München
Ricore: Gefällt Ihnen die Sprache von Marlen Haushofer?

Pölsler: Ja, allerdings. Marlen Haushofer spricht in einer sehr ruhigen einfachen Wortwahl Dinge an, die weit entfernt sind von Kitsch. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, das auch im Film zu übernehmen. Ihre Passagen über die Liebe oder die Zeit sind sehr gegenwärtig.

Ricore: Der Roman hatte eine unglaubliche Auswirkung sowohl auf die Frauen- als auch auf die Friedensbewegung. Warum kann der Text Ihrer Meinung nach auf so vielen verschiedenen Ebenen wahrgenommen werden?

Pölsler: Weil es ein großer Text ist. Große Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht von der Tagesaktualität abhängig sind. Das Phänomenale ist, dass Marlen Haushofer immer noch gelesen wird. Ich hoffe, dass nach dem Film noch mehr Menschen ihn lesen werden.

Ricore: Wie kommt es, dass die Hauptfigur so schnell handelt und beispielsweise ein Reh erlegt. Erscheint das nicht für unsere heutige Gesellschaft etwas unglaubwürdig?

Pölsler: Das geht so schnell, wenn man eine Woche nicht gegessen hat. Ich war in den Wäldern und habe die Erfahrung gemacht. Wenn man abgeschnitten ist und kein Internet und kein Handy hat, lernt man einfach ganz schnell andere Dinge.

Ricore: Ist uns das angeboren oder ist es das Produkt unserer Sozietät?

Pölsler: In der Evolution haben wir das einfach so lernen müssen. Ich bin nicht grundsätzlich gegen das Internet. Aber es kommt darauf an, was wir daraus machen. Die existenziellen Fragen bleiben und die stellt Frau Haushofer in ihrem Text.

Ricore: Durch die Konfrontation mit der Natur findet die Hauptfigur einen direkteren Weg zu sich selbst? Wie funktioniert das Ihrer Meinung nach?

Pölsler: Ich bin ja ein Natur- und kein Stadtneurotiker. Die Natur hält uns einen Spiegel vor, der uns zwingt, in sich selbst hineinzuschauen und uns mit gewissen Themen auseinanderzusetzen. Das kann aber auch im Börsenviertel in Frankfurt passieren, nur in der Natur ist es einfacher.

Ricore: In einem anderen Interview sprachen Sie einmal von Demut vor der Schöpfung. Wie wichtig ist Ihnen das?

Pölsler: Ich glaube daran, dass wir Menschen ohne diese Demut irgendwann auf den Kopf fallen. Sogar in unseren Gesetzesbüchern gelten Tiere als Dinge. Das finde ich ganz schlimm. Das wird eines Tages auf uns zurückfallen.

Ricore: Beim Sehen Ihres Filmes bekommt man den Eindruck, dass Sie filmästhetisch und weltanschaulich in der Tradition von Andrej Tarkowskij stehen.

Pölsler: Ja, ich bin ein großer Bewunderer Tarkowskijs. Vor allem liebe ich seinen "Andrej Rubljow". Dort gibt es Einstellungen, wo ich heute bis heute nicht weiß, wie er die gemacht hat. Andererseits war ich beim ersten Ansehen so hineingezogen im Film, dass es mir egal war, wie er die gemacht hat. Ich war einfach in einer anderen Welt. Das ist bei guten Filmen immer der Fall. Das wollte ich auch: eine andere Welt erschaffen. Deshalb auch die viele Natur in "Die Wand". Ich wollte, dass die Zuschauer das Gefühl haben, sie seien im Wald gewesen, natürlich verkettet mit der Problemstellung der Frau.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 9. Oktober 2012
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Der 1954 in der Steiermark (Österreich) geborene Regisseur und Autor Julian Pölsler erlernt sein Handwerk an der Die Hausmeisterin" und "Bella Block - Falsche Liebe". Für "Geliebter Johann geliebte Anna" erhält er 2010 eine Goldene Romy. Gelegentlich arbeitet Pölsler auch als Opernregisseur. Er lebt und arbeitet in Wien, der Steiermark und München.
Die Wand (Kinofilm)
Eine Frau (Martina Gedeck) fährt mit ihrer Kusine und deren Ehemann zur Erholung in die österreichischen Berge. Nachdem das Paar nach einem Dorfbesuch nicht zurückkehrt, macht sich die Frau auf die Suche. Dabei stößt sie auf eine rätselhafte, unsichtbare Wand. Von der Außenwelt abgeschottet, muss die Frau alleine in einer menschenleeren Landschaft überleben. Ihre einzigen Weggefährten sind eine Handvoll Tiere, darunter ein Hund und eine Kuh. Julian Pölsler "Die Wand" ist wie die berühmte..
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