Ascot Elite
Regisseur Markus Imboden auf der Deutschlandpremiere am 01. Juli 2012 in München
Die Bürde, Menschlichkeit zu wahren
Interview: Markus Imbodens düsteres Heimatbild
Mit "Der Verdingbub" hat sich Markus Imboden einem traurigen Kapitel der Schweizer Geschichte zugewandt: dem Verdingwesen, bei dem Kinder bis Mitte des 20. Jahrhunderts von Bauern als billige Arbeitskräfte gehalten und missbraucht wurden. Entstanden ist ein aufrüttelnder, düsterer Heimatfilm jenseits des romantischen Bildes von jodelnden Bergmenschen und märchenhaftem Alpenglühen. Filmreporter.de hat den Schweizer Regisseur zum Interview getroffen und sich mit ihm darüber unterhalten, wie die Eidgenossen mit dem Thema heute umgehen.
erschienen am 26. 10. 2012
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Katja Riemann und Regisseur Markus Imboden
Ricore Text: "Der Verdingbub" behandelt ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte. Wie allgegenwärtig ist das Thema in Ihrem Land?

Markus Imboden: Für die Schweiz war das lange Zeit kein Thema worüber man sprach, es wurde tabuisiert. Es war vor allem ein Problem der Betroffenen. Sie haben sich für ihr Schicksal geschämt. Das ist ein übliches Verhaltensmuster. Wenn eine Frau vergewaltigt wird, schämt sie sich für die Tat, weil sie das Gefühl hat, selber schuld zu sein. So ähnlich ist das mit Gewalt und Armut. Man erzählt so etwas nicht weiter, weil man sich selbst die Schuld gibt. In diesem Sinne wurde das Thema Verdingkinder weniger von den Schweizern als von den Opfern unter den Teppich gekehrt. Man sprach nicht darüber und war froh, diese Zeit endlich hinter sich zu haben. Nachdem die Verdingkinder die Bauernhöfe verlassen hatten, versuchten sie, ein normales Leben zu führen. Einigen von ist es gelungen, andere hatten ein Leben lang mit ihrer Erinnerung zu kämpfen.

Ricore: Wie war die Reaktion der ehemaligen Verdingkinder auf Ihren Film?

Imboden: Nachdem "Der Verdingbub" gezeigt wurde, hatte ich tatsächlich sehr viele Begegnungen mit Betroffenen. Sie waren sehr froh, dass es den Film gibt, weil sie durch ihn eine Stimme und ein Bild gekriegt haben. Sie sind mit diesem Bild einverstanden und sagen, dass alles tatsächlich so gewesen ist. Natürlich hat jeder Betroffene eine andere Geschichte erlebt und das Traurige ist, das viele Geschichten weitaus schlimmer sind, als es der Film zeigt.

Ricore: Können Sie ein Beispiel nennen?

Imboden: Ich war in einer Talkshow, in der mir der Moderator sagte, dass ihm die Schilderungen übertrieben vorkommen. In der Sendung war auch eine ältere Frau, die früher ein Verdingmädchen gewesen war. Sie erzählte, dass sie vom Bauer jeden Tag vergewaltigt und von der Bäuerin täglich geschlagen wurde. Das alles hatte in einem Alter angefangen, als sie noch nicht in der Pubertät war und noch nicht wusste, was Sexualität überhaupt ist. Als "Der Verdingbub" in die Kinos kam, wurde sie von ihren Töchtern dazu getrieben, sich den Film anzuschauen. Sie wussten, dass mit der Mutter etwas nicht stimmt und wollten, dass sie mit Hilfe des Films darüber redet. Die Frau erzählte, dass sie danach drei Nächte nicht schlafen konnte, weil sie alles wieder erlebt hat. Sie sagte, dass es trotzdem gut war, sich den Film zuzumuten. Danach konnte sie über ihre Erfahrung reden und sich sogar an die Öffentlichkeit zu wagen. Es war für sie eine Befreiung.

Ricore: Ist das Phänomen der Verdingkinder nur auf die Schweiz beschränkt oder hat das auch auf die Nachbarländer ausgestrahlt?

Imboden: Ähnliche Systeme hat es auch in Frankreich gegeben. In Deutschland gab es die Schwabenkinder. Auch in Italien gab es das Phänomen. Das alles kommt aus einer Zeit, in der der Wert Familie besonders geschätzt wurde. Eigentlich steckte hinter dem Gedanken des Verdingwesens eine gute Absicht. Es sollte ursprünglich ein Akt der Fürsorge sein. Man wollte die Kinder nicht ins Heim schicken, sondern ihnen eine Familie geben. Dabei überschritt die Fürsorge ein ums andere Mal die Grenze zum Willkürlichen. Zum Beispiel dachte man, dass eine Frau alleine keine Kinder großziehen kann. Aus diesem Grund hat man sie ihnen weggenommen und in die Obhut einer anderen Familie gegeben. Man glaubte damals, es gäbe Menschen zweiter oder noch niederer Klasse, mit denen machen konnte, was man wollte. Im Grunde war man sich eines Unrechts nicht bewusst. Eine Ohrfeige wurde nicht als schlimm empfunden, ganz im Gegenteil. Es gehörte zur Vorstellung von Zucht und Ordnung, mit der man Kinder formen wollte.

Ricore: Waren Sie bei Ihren Recherchen auch auf Beispiele gestoßen, bei denen die Kinder herzlich aufgenommen und gut behandelt wurden?

Imboden: Ich persönlich war nicht auf positive Fälle gestoßen. Es hatten sich aber Menschen in Zeitungen gemeldet, die sagten, dass sie es auch gut hatten. Das will ich nicht abstreiten, es gab ja nicht nur böse Menschen. Das Verführerische an der ganzen Sache war die Tatsache, dass die Bauern für die Kinder Geld gekriegt haben. Sie waren für die arme Bevölkerung eine Einnahmequelle. Man konnte sich einen Knecht, eine Magd oder eine Hilfskraft sparen. Sie hatten nicht die Absicht, die Kinder zu erziehen. Sie waren arm und brauchten das Geld. Die Bauern in der Schweizer Berglandschaft sind traditionell sehr arm. Selbst heute können sie nur überleben, weil sie vom Staat subventioniert werden. Ohne eine finanzielle Spritze gäbe es in den Bergen der Schweiz keine Bauern.
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Katja Riemann und Stefan Kurt in "Der Verdingbub"
Ricore: Im Vorspann von "Der Verdingbub" heißt es sinngemäß, dass der Film ein Kondensat von hunderttausenden Erlebnissen ist. Gab es dennoch den einen oder anderen Fall, der sie besonders inspirierte.

Imboden: Nein, nicht wirklich. Aber wir hatten einige Biografien als Grundlage benutzt. Unter anderem haben wir ein Buch zurate gezogen, in dem ehemalige Verdingkinder von ihrem Schicksal berichten. Das Thema wurde bereits im 19. Jahrhundert literarisch verarbeitet. Auch Jeremias Gotthelf hat darüber geschrieben (Gotthelfs erster Roman "Der Bauernspiegel" handelt von diesem Thema; Anmerkung der Redaktion). Wir haben also viele Berichte und Zeugnisse zu einer fiktiven Erzählung verdichtet. Mit Fiktion wird man der Wahrheit ohnehin manchmal mehr gerecht. Man kann sich damit in tiefere Schichten begeben. Um die Realität greifbar zu machen, muss man sie gestalten.

Ricore: Und das hat den Identifikationsprozess der Opfer nicht beeinträchtigt?

Imboden: Nein, einige Betroffenen sagten sogar, dass das "Der Verdingbub" ihre Geschichte erzählt. Ein Mann hat sogar behauptet, wir hätten ganz konkret sein Leben verfilmt. Wie der Junge in "Der Verdingbub" hatte auch er einen Traum. Er träumte davon, Pilot zu werden und dass ist er auch geworden. Auch wenn viele weniger Glück, sich entweder das Leben nahmen oder sich im Alkohol verloren, musste man sich zusammenreißen und irgendwie weitermachen. Die ältere Frau, die ich eben erwähnte, sagte zu sich irgendwann: 'Ich muss mich selber aus der Scheiße ziehen'. Das hat sie geschafft.

Ricore: Wie wird das Verdingsystem in der Schweiz heute aufgearbeitet. Gibt es neben Ihrem Film weitere Bemühungen in Richtung Transparenz?

Imboden: Es hat sich schon früher einiges getan. Es gibt seit einiger Zeit einen Kampf für Aufklärung und Auseinandersetzung mit diesem Thema. So hat sich auch der Bundesrat öffentlich für die Missstände entschuldigt. Es gibt eine breite Schicht von Betroffenen, die eine finanzielle Entschädigung für das ihnen zugefügte Unrecht einfordern. Ihre Hauptmotivation ist, dass sie dem Staat wehtun wollen, und das erreichen sie, indem sie ihn zu Zahlungen auffordern. Entschuldigungen genügen ihnen nicht, Sie stellen keine Leistung dar.

Ricore: Wie war die Stimmung am Set angesichts des deprimierenden Themas?

Imboden: Eigentlich hatten wir es sehr lustig auf dem Set, es war alles andere als deprimierend. Das lag unter anderem an Katja Riemann, die vor der Kamera Schweizer-Deutsch gesprochen hat. Sie hat es extra für den Film gelernt. Manchmal hat es sehr komisch geklungen. Das Schweizer-Deutsch ist für einen Nicht-Schweizer schwer zu sprechen. Das kriegt kaum ein Deutscher hin, selbst wenn er länger in der Schweiz lebt. Abgesehen davon ist "Der Verdingbub" kein ausnahmslos deprimierender Film. Im Gegenteil, er hat in gewisser Hinsicht auch etwas Leichtes an sich. Es war mir wichtig zu zeigen, dass es noch eine andere Welt gibt, eine Welt des Traums und eine Welt der Musik.
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Regisseur Markus Imboden auf der Deutschlandpremiere am 01. Juli 2012 in München
Ricore: Katja Riemann ist sehr überzeugend in ihrer Rolle. Inwieweit war ihre Besetzung aber auch pragmatische bedingt, insofern als durch sie der deutsche Kino- und Fernsehmarkt erschlossen werden sollte?

Imboden: Das hat sicher auch eine Rolle gespielt. Der Hintergrund ist aber auch die Tatsache, dass wir den Film in der Schweiz nicht finanzieren konnten. Er hatte ungefähr vier Millionen Schweizer Franken gekostet. Man kriegt kaum privates Geld zusammen. Es gibt zwar eine Filmförderung, aber auch da ist bei zwei bis zweieinhalb Millionen der Deckel zu. So muss man ins Ausland gehen. Bei den Schweizern liegt es nahe, sich an deutsche Institutionen zu wenden. Weil bei "Der Verdingbub" der Bayerische Rundfunk mit an Bord kam, war es wichtig, auch Schauspieler zu engagieren, die man in Deutschland kennt. Sicher hat diese Besetzungsstrategie auch mit medialer Präsenz zu tun. Damit man bei der Menge von Filmen, die tagtäglich produziert werden, in der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen wird, braucht man bekannte Gesichter. Doch ungeachtet dessen, war die Zusammenarbeit mit Katja sehr schön. Sie kommt vom Bremer Land und kennt das bäuerliche Wesen sehr gut. Sie hatte viele Verknüpfungspunkte mit ihrer Figur.

Ricore: Ist "Der Verdingbub" ein Heimatfilm?

Imboden: Wenn Sie wollen, ist es tatsächlich ein moderner Heimatfilm. Ich zeige darin meine Heimat auf eine Weise, wie sie wirklich ist. Es ist kein Heimatfilm, das fröhliches Jodeln auf den Bergen und das Alpenglühen thematisiert.

Ricore: Gab es im Zuge der Rezeption auch Stimmen, die sie als Nestbeschmutzer beschimpften?

Imboden: Persönlich habe ich nichts gehört. Der Grund, wieso sich so wenige kritische Stimmen melden, ist wohl die Tatsache, dass die Missstände doch zu eklatant sind. Das wissen sie und halten deshalb die Klappe. Die Tendenz ging in Richtung Zustimmung. Im Vergleich zu früher, sind wir Schweizer heute eine liberale Gesellschaft, auch wenn wir manchmal ein bisschen konservativ sind. Manchmal dauert es bei uns etwas länger, bis sich Ansichten und politische Entscheidungen durchsetzen. Der parlamentarische Weg verläuft bei uns etwas anders als in Deutschland. Auch auf dem Land sind die Menschen aufgeschlossener. Auch wenn sie Angst hatten, dass wir sie mit "Der Verdingbub" in den Topf hauen, haben sie das Unrecht erkannt, das früher passiert ist. Wir sind also mit dem Film nicht gegen Mauern gerannt.

Ricore: Welches Menschenbild zeichnet der Film?

Imboden: Er zeigt, dass immer die Gefahr besteht, dass jeder Mensch so werden kann wie die Bösigers. Wenn das Leben den Bach runtergeht, wenn man immer weniger zufrieden und unglücklicher wird, dann ist es schwierig Menschlichkeit und Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten.

Ricore: Haben Sie das durch die Arbeit am Film festgestellt?

Imboden: Nein, wesentlich geändert hat sich mein Menschenbild durch "Der Verdingbub" nicht. Aber ich habe Zusammenhänge erkannt, die ich früher nicht so deutlich wahrgenommen habe. Mir wurde bewusst, woher menschliche Härte kommen kann.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 26. Oktober 2012
Zum Thema
Markus Imboden, 1955 im Schweizerischen Interlaken geboren, macht zunächst eine Ausbildung als Elektroniker. Nachdem er die Matura (das Schweizer Abitur) nachholt, studiert er Germanistik und Geschichte an der Moviestar". Nach einigen Fernseharbeiten gelingt ihm mit "Katzendiebe" ein erster Kinoerfolg. In Deutschland wird der Schweizer mit Filmen wie "Frau Rettich, die Czerni und ich" und "Komiker" einen Namen.Auf ewig und einen Tag", in dem er sich mit den Auswirkungen der Attentate vom 11...
Der Verdingbub (Kinofilm)
Markus Imbodens "Der Verdingbub" handelt von einem verwaisten Jungen (Maximilian Simonischek), der als so genannter Verdingbub für eine Bauernfamilie wie ein Leibeigener arbeiten muss. Nur Kraft seiner Leidenschaft für das Akkordeon-Spiels schafft es das Kind, sein trauriges Schicksal zu überstehen. Imboden ist ein packendes Drama gelungen, das sich authentisch und aufrichtig einem dunklen Kapitel der Schweizer Geschichte annimmt. In den Hauptrollen überzeugen Katja Riemann und Stefan Kurt als..
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