Sunfilm
Mike Figgis
Denken im dunklen Kinosaal
Interview: Mike Figgis - der letzte Avantgardist
"Leaving Las Vegas" sichert Mike Figgis eine Oscar-Nominierung und etabliert Hauptdarsteller Nicolas Cage zum Charakterdarsteller. Obwohl er produktiv bleibt, wird es danach stiller um den britischen Regisseur. Dass seine folgenden Filme nicht die Durchschlagskraft des schockierenden Alkoholiker-Dramas haben, liegt vor allem an Figgis' künstlerischer Kompromisslosigkeit. In seinen Filmen geht es weniger um die Story, vielmehr will er die Grenzen des filmischen Erzählens ausweiten. Dabei betrachtet Figgis die digitale Technik nicht als Endpunkt der brachliegenden Avantgarde, sondern als neue Chance. Filmreporter.de trifft den sympathischen Filmemacher im Rahmen des Filmfests München 2013, wo sein Thriller "Gefährliche Begierde - Im Rausch dunkler Gelüste" zu sehen ist.
erschienen am 6. 11. 2013
Sunfilm
Gefährliche Begierde - Im Rausch dunkler Gelüste
Publikum für Filmkunst?
Ricore Text: Mr. Figgis, würden Sie mit mir übereinstimmen, dass Sie mit "Gefährliche Begierde" ein Risiko eingegangen sind. Der Film ist formal wagemutig, wird es aber schwer haben, seine Zuschauer zu finden.

Mike Figgis: Ich strebe nie danach, Mainstream-Filme zu machen. In "Gefährliche Begierde" drücke ich meine Vorstellung vom idealen Kino aus. Sicher ist das eine Risiko-Unternehmung. Man muss eben einen Weg finden, den auch die Zuschauer gehen können. Aber ich bin realistisch: ein Arthouse-Film wie "Gefährliche Begierde" wird sicher nicht besonders viele Zuschauer finden. Es wird schwierig, dafür einen Verleih zu finden.

Ricore: Wie war die Reaktion der Zuschauer auf den Film?

Figgis: Der endgültigen Version von "Gefährliche Begierde" gingen zwei andere Schnittfassungen voraus. Bei der ersten war die Erfahrung mit den Zuschauern schrecklich. Vor der Vorführung war ich mit dem Ergebnis eigentlich zufrieden. Ich hielt den Film für großartig. Bei der Sichtung im Studio mit ca. 25 Zuschauern merkte ich plötzlich, was für ein Scheiß ich da inszeniert habe. Ich dachte, das ist der schlechteste Film, den ich je gemacht habe. Nach der Vorführung war ich kurz davor, mich für bei den Zuschauern zu entschuldigen. Es stellte sich aber heraus, dass diese den Film mochten, an einigen Stellen aber mehr Klarheit haben wollten. Ich stellte fest, dass das Problem meine persönliche Vertrautheit mit dem Film war. Ich dachte, wenn ich etwas verstehe, dann wird es auch der Zuschauer verstehen.

Ricore: Nahmen Sie viele Änderungen vor?

Figgis: Ich musste wieder von Null anfangen und schnitt den Film komplett um. Die Reaktionen waren besser. Fünfzig Prozent der Testzuschauer waren im Vergleich zur ersten Vorführung neu, und die waren unterschiedlicher Meinung. Beim dritten Schnitt behielt ich die Struktur bei und änderte lediglich bestimmte Passagen. Hier und da fügte ich auch etwas hinzu. Wenn zum Beispiel Martin, die Hauptfigur, für seine Recherche ins Ausland fährt, habe ich Aufnahmen eines startenden bzw. landenden Flugzeugs gedreht und sie der Szene vor- bzw. hintangestellt. Außerdem brachte ich etwas Humor hinein, der um den Prozess des Filmemachens kreist.
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Gefährliche Begierde - Im Rausch dunkler Gelüste
Postmoderner Film Noir, Mike Figgis?
Ricore: Das Ergebnis dieser 'Suche' ist ein postmoderner Film Noir. Würden Sie dem zustimmen?

Figgis: Ja, das stimmt. Vor ungefähr 18 Monaten habe ich auf Twitter um eine Definition der Postmoderne gebeten. Auch wenn ich ein eigenes Verständnis von der Postmoderne habe, ist es nicht einfach, das Phänomen zu verstehen. Ich habe viele Antworten bekommen, auch wenn sich viele davon - auch aufgrund der sprachlichen Barrieren - auf ein, zwei Wörter beschränkten.

Ricore: Sie spielen in "Gefährliche Begierde" mit Genreklischees und sind zugleich sehr experimentell.

Figgis: Ein großes Problem im Kino ist die Schwerfälligkeit. Das filmische Erzählen funktioniert anders als das Schreiben von Gedichten oder Kurzgeschichten, das Malen eines Gemäldes oder das Fotografieren. Filmherstellung ist ein aufwendiger, sehr langsamer Prozess. Das heißt, man hat als Filmemacher nicht die Möglichkeit, viele Filme zu drehen und dadurch zu experimentieren. Wenn man die Möglichkeit hat, sollte man sie nutzen. Darin liegt auch eine Chance, seine eigene Ausdrucksweise zu verbessern. Wenn man sie vor dem Hintergrund der mangelnden Übungsmöglichkeit nicht nutzt, macht man keine Fortschritte.

Ricore: Experimentelles Erzählen setzt auch ein völlig neues Zuschauer-Konzept voraus. Man hat den Eindruck, dass Sie keine Filme für faule Menschen machen.

Figgis: Tatsächlich werden die Menschen bei einem Mainstream-Film zur Faulheit eingeladen. Dazu wird ihnen im Kinosaal allerlei Süßigkeiten angeboten. Vielleicht dient der Zucker dazu, sie wachzuhalten. Ich denke, die Menschen sind manchmal dankbar dafür, dass sie sich bei einem Film etwas anstrengen können. Sie kommen stimuliert aus dem Kino, auch wenn sie genervt wegen der intellektuellen Anstrengung sein können. Wenigstens sind sie wach. Im Kino sollte man unaufhörlich gegen das Schlafen ankämpfen.
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Sebastian Koch und Rebecca Night in "Gefährliche Begierde - Im Rausch dunkler Gelüste"
"Das experimentelles Erzählen ist verloren gegangen"
Ricore: Streckenweise erinnert "Gefährliche Begierde" an eine Erzählweise, wie sie Jean-Luc Godard und François Truffaut vor Jahrzehnten praktiziert haben. Das heißt, avantgardistisches Erzählen mutet heute paradoxerweise altmodisch an, weil kaum jemand mehr auf diese Weise erzählt.

Figgis: Eines meiner Lieblingszitate stammt von Duke Ellington. Als er gefragt wurde 'Lassen Sie uns über die Avantgarde reden", sagte er: 'Müssen wir wirklich soweit zurückgehen?' Er hat Recht. Es gab einmal die definitive Avantgarde, in der die Standards bestimmt wurden. Ab den 1970er wurde es um die Avantgarde stiller. Heute blicken wir ironischer Weise auf diese Periode zurück, weil wir keine Avantgarde mehr haben. Es ist wirklich schade, dass das experimentelle Erzählen der Avantgarde-Künstler nicht weiterentwickelt wurde. Heute sind die Experimente eines Godard vom Mainstream längst aufgesaugt worden, angefangen mit den Filmen eines Quentin Tarantino bis zum Hollywood-Actionkino. Viele Filmemacher wissen heute nicht einmal, wer Godard ist, aber sie benutzen seine Sprache.

Ricore: Heute spricht auch kaum jemand mehr vom Autorenkino. Ist das Autorenkino tot?

Figgis: Die radikalste Auswirkung der digitalen Technik ist die Tatsache, dass sie für den Autorenregisseur neue Wege ebnet. Als ich mich neulich mit einigen jungen Filmemachern unterhielt, fragte ich sie, ob sie auch mit der Kamera arbeiten. 'Nein, nein', sagten sie, 'wir führen nur Regie.' Meine Antwort war: 'Wollt ihr nicht auch Künstler werden? Man sollte als Regisseur wissen, wie eine Kamera funktioniert. Genauso wie man wissen sollte, wie man einen Film schneidet, wie man mit Schauspielern umgeht oder ein Drehbuch schreibt. Heute hat man keine Ausrede mehr, sich nicht mit diesen Dingen zu beschäftigen. Früher hatte die Spezifizierung einen technischen Grund. Es gab einzelne Berufsgruppen, die das taten, wofür sie fachlich ausgebildet wurden. Heute ist es einfacher denn je, ein kompletter Filmemacher zu sein.

Ricore: Sie betrachten die Digitale Technik als Möglichkeit für das experimentelle Kino?

Figgis: Wir haben noch nicht wirklich angefangen, die filmischen Möglichkeiten mit der digitalen Technik zu erkunden. Sie wartet darauf, entdeckt zu werden.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 6. November 2013
Zum Thema
Nachdem Drehbuchautor Martin (Sebastian Koch) von seiner Frau (Emilia Fox) verlassen wurde, verschwindet diese spurlos. Diese Erfahrung versucht er in einem Drehbuch zu verarbeiten. Nachdem eine junge Frau tot aufgefunden wird, gerät er in Mordverdacht. Als die Zwillingsschwester der Toten auftaucht, findet sich Martin in einem Geflecht aus Lüge und Täuschung wieder. Mike Figgis hat mit "Gefährliche Begierde - Im Rausch dunkler Gelüste" einen intelligenten Diskurs über das filmische Erzählen..
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