Majestic Filmverleih
Carla Juri proviziert in "Feuchtgebiete"
Spielen, was man versteht
Interview: Nachdenkliche Carla Juri
Man möchte kaum glauben, dass es sich bei dieser zierlichen jungen Frau um dieselbe Person handelt, die in der Verfilmung des Bestellerromans "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche die extrovertierte und freizügige Helen spielt. Carla Juri ist zurückhaltend und spricht zu Beginn des Filmreporter.de-Interviews mit leiser Stimme. Es scheint, als wundere sie sich über die Fragen, die wir ihr stellen. Im Verlauf des Gesprächs taut sie dann doch auf.
erschienen am 26. 08. 2013
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Was Carla Juri in "Feuchtgebiete"
Ricore: "Feuchtgebiete" hatte seine Premiere auf dem Filmfestival von Locarno - Ihrem Heimatort. War das ein Heimspiel für Sie?

Carla Juri: Finde ich nicht. Es ist ein internationales Festival.

Ricore: Sie sind als Mensch sehr ruhig und leise. Auf der Leinwand spielen sie die extrovertierte Helen Memel.

Juri: Ich bin Schauspielerin. Das ist mein Beruf. Ich muss nicht so sein wie meine Figuren.

Ricore: Was passiert mit Ihnen, wenn die Kamera läuft?

Juri: Es passiert schon viel früher etwas. Man muss die Figur und ihre Biografie schon vorher verstehen. Ich hätte Helen nicht gespielt, wenn ich nicht den Menschen hinter der Provokation verstanden hätte. Wenn es nur um Provokation gegangen wäre, dann hätte es mich nicht interessiert. Ich musste herausfinden, warum sie all das tut. Es ist ja fast wie ein Zwang bei ihr.

Ricore: Was fanden Sie an der Figur interessant?

Juri: Ihre Komplexität. Helen hat es in der Kindheit nicht einfach gehabt und versucht, damit zurecht zu kommen. Man empfindet Mitgefühl für sie, gerade wenn man bedenkt, dass ihre Mutter einen Selbstmordversuch unternommen hatte und ihren Bruder mitnehmen wollte. Dann versteht man, wenn Helen sich fragt: 'Warum nimmt sie mich nicht auch mit? Bin ich es nicht wert?' Sie versucht, sich abzulenken von ihrer Einsamkeit und der Angst vor dem Alleinsein. Das kennen wir alle. Wir versuchen oft, von unseren existentiellen Problemen abzulenken. Deshalb kann ich ihre Rebellion, die ja nicht kalkuliert ist, sondern aus einem Schmerz kommt, verstehen.

Ricore: Kannten Sie das Buch schon vorher?

Juri: Nein.

Ricore: Hatten Sie wegen der vielen Nacktszenen Bedenken?

Juri: Wenn ich ergründen kann, die Szene Nacktheit verlangt, dann ist das spielbar. Helens Nacktheit hat eine emotionale Dimension. Das ist ihr seelischer Zustand.

Ricore: Sie haben also diese ganzen Sachen aus dem Verständnis der Rolle heraus gemacht?

Juri: Ja.
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Charlotte Roche ("Feuchtgebiete")
Ricore: Ist Helen ein selbstbewusster Mensch?

Juri: Sie ist ein Profi darin, ihre Hilflosigkeit zu überspielen. Sie überspielt auch ihren Schmerz. Sie würde nie zugeben, dass sie unsicher ist oder Ängste hat. Es wäre ein Risiko für sie, das zuzugeben.

Ricore: Charlotte Roche hat erzählt, dass Sie sofort wie Freundinnen waren, als Sie sich kennenlernten.

Juri: Ja das stimmt, ich mag sie sehr. Ich finde es auch schön, dass ihr meine Interpretation gefallen hat.

Ricore: Sie kannten sich zuvor nicht?

Juri: Nein. Ich habe sie erst nach den Dreharbeiten kennengelernt.

Ricore: Ab wann wussten Sie, dass die Schauspielerei Ihr Ding ist?

Juri: Mit neunzehn oder zwanzig. Mich hat Kunst schon immer interessiert, von der Malerei bis zur Literatur. Irgendwann bemerkte ich, dass Film alle Künste die mich faszinieren vereint.

Ricore: Sie haben in den USA studiert. Was hat Ihnen das gebracht?

Juri: Ich hatte einen sehr guten Lehrer, der mich unter anderem darin unterstützt hat meine Wahrnehmungen zu erweitern.

Ricore: Was gibt Ihnen die Schauspielerei?

Juri: Geschichten, die größer sind als mein eigenes Leben.

Ricore: Wie lange tragen Sie eine Rolle noch mit dir sich herum. Wie lange hat Helen Sie noch begleitet?

Juri: Man muss Abschied nehmen. Die Person, sie wächst einem ans Herz und dann muss man sie wieder loslassen. Dann braucht es Zeit, um wieder Distanz zu gewinnen.
Peter Hartwig/Majestic Filmverleih
Regisseur David Wnendt und Hauptdarstellerin Carla Juri am Set von "Feuchtgebiete"
Ricore: Sie sprechen mehrere Sprachen. Gibt es eine, in der Sie am liebsten drehen?

Juri: Das ist von der Figur und der Geschichte abhängig.

Ricore: In welcher Sprache denken und träumen Sie?

Juri: Wenn ich das wüsste.

Ricore: Hat Helen Ihnen Spaß gemacht?

Juri: Ja. Es hat Spaß gemacht, weil sie so vielschichtig ist

Ricore: Heißt Schmerz verstehen, dass Filmemachen ein schmerzhafter Prozess ist?

Juri: Ja.

Ricore: Wie begegnet man dem Schmerz, lässt man den zu?

Juri: Das ist menschliche Empathie. Wir alle haben unsere Geschichte und unsere Tragik. Meine Aufgabe als Schauspielerin ist es, diese Schicksale zu spüren. Das ist es wert. Kunst ist ein schmerzhafter Prozess.

Ricore: Sind Sie schon immer so grüblerisch gewesen?

Juri: Wir reden alle zu viel auf der Welt. Das hat nichts mit grüblerisch zu tun. Das ist mein Anspruch an die Rolle und an mich selbst.

Ricore: Haben Sie Angst, dass man ihnen in fünf Jahren Dinge vorhalten wird, die Sie jetzt sagen?

Juri: Man muss die Verantwortung übernehmen. Diese Verantwortung habe ich schon längst übernommen, in der Interpretation meiner Figur.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 26. August 2013
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