Ricore Text
Juliette Binoche beim Interview mit Ricore Text
Die Frau, die Spielberg zwei Körbe gab
Interview: Ihr letzter Traum
Die Karriere von Juliette Binoche war stets eine Gratwanderung zwischen großen amerikanischen Produktionen ("Der englische Patient") und europäischen Arthousefilmen ("Drei Farben: Blau"). Bekannt ist der französische Star auch dafür, in den letzten Jahren immer wieder lukrative Angebote aus Hollywood auszuschlagen. Zwei Mal gab sie Steven Spielberg einen Korb: Bei "Jurassic Park" und "Schindlers Liste". Dafür spielte Binoche in "Caché" bereits zum zweiten Mal in einem Film des preisgekrönten österreichischen Regisseurs Michael Haneke auf.
erschienen am 19. 01. 2006
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Fühlt sich im Arthousekino wohl: Juliette Binoche
Ricore: Frau Binoche, Sie haben bereits in Michael Hanekes "Code: unbekannt" gespielt. Wie ist Ihre Beziehung zu dem österreichischen Regisseur?

Binoche: Ich bin von Michael als Mensch und Filmemacher fasziniert. Deswegen habe ich das Angebot angenommen, ohne das Drehbuch gelesen zu haben. Michael hat mir gesagt: 'Ich hätte eine Rolle für dich'. Da hab ich ihm gleich zugesagt. Es gibt zwischen uns einfach ein tiefes Vertrauen.

Ricore: Was ist das Besondere an Haneke?

Binoche: In Michael gibt es eine Spannung und Präzision, die man in all seinen Geschichten wieder findet. Genau diese Eigenschaften liebe ich an seinen Filmen. Als Schauspieler ist man ständig gefordert, muss über sich hinauswachsen. Das ist das Beste, was einem Darsteller überhaupt passieren kann. Seine Filme sind alle sehr ausdrucksstark. Sie verstören mich und lassen mich nicht mehr los. In seinen Filmen gibt es eine unbedingte, kompromisslose Suche nach Wahrheit. Das fasziniert mich einfach. Zugegeben, seine Wahrheiten sind oft bitter. Als Frau finde ich, dass Anne mit ihrem Mann zu wenig Mitleid hat. Ich hätte gerne mehr Gefühle zeigen wollen, aber Michael war strickt dagegen. Es ist seine Entscheidung. Manchmal muss man sich als Schauspieler zurücknehmen. Vor allem bei jemandem, der starke Visionen hat.

Ricore: Diskutieren oder streiten Sie oft mit Regisseuren?

Binoche: Selten. Eigentlich nur wenn ich das Gefühl habe, der Regisseur versteht seine Charaktere nicht.

Ricore: Wie sieht Hanekes Arbeitsweise aus?

Binoche: Er ist extrem genau. Wie ein Dirigent gibt er Pausen, halbe Pausen und Momente der Stille vor. Er hat eine unglaubliche Kontrolle über das Ganze, während ich eher dazu neige, mich gehen zu lassen. Ich glaube, wir sind sehr gegensätzlich und gerade deshalb ergänzen wir uns ganz gut. Außerdem ist Michael jemand, der sehr respektvoll mir Schauspielern arbeitet, was heutzutage selten ist. Er ist aber auch sehr rafiniert. Ich erinnere mich noch an einen Augenblick während der Dreharbeiten. Ich musste Georges wutentbrannt anschreien. Direkt vor dieser Szene kam Michael zu mir und meinte, französische Schauspieler würden ihren Text nie können. Das hat mich natürlich aufgeregt. Dadurch wurde mein Ausbruch im Film viel glaubhafter.
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Suche nach Wahrheit bietet Möglichkeit der Identifikation
Ricore: Was hat Sie an der Rolle von Anne so fasziniert?

Binoche: Ich wusste zwar, dass es keine leichte Rolle war. Anne ist ein Mensch, der nicht viel Mitleid zeigt. Womit ich mich aber gut identifizieren konnte, war ihre Suche nach Wahrheit. Ich wusste aber auch, dass Michael im Grunde genommen die Geschichte von Georges erzählen wollte. Das war mir von Anfang an klar. Ich bin ja nicht blöd. Ich hab aber trotzdem mitgespielt. Für mich war's einfach lustig, einmal in schreckliche Kleider zu schlüpfen und eine Nebenrolle zu spielen, sonst bekomme ich eigentlich nur noch Hauptrollen angeboten.

Ricore: Sie haben in letzter Zeit in zwei Filmen mitgespielt, in denen es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld geht: "Country of My Skull" und "Caché". Ist das Thema Schuld für Sie sehr wichtig?

Binoche: Als Bewohner der westlichen Welt sind wir mit diesem Thema unweigerlich konfrontiert. Ob wir es wollen oder nicht. Ich glaube Schuld ist ein Gegenstand, worüber man nie genügend Filme drehen kann.

Ricore: "Caché" ist auch ein politischer Film. Sind Sie ein politischer Mensch?

Binoche: Ich weiß nicht, was es bedeutet, ein politischer Mensch zu sein. Ich bin mir aber der politischen Lage, in der wir leben, durchaus bewusst. Ich bin heute politisch bewusster, als ich es vor 20 Jahren war. Ich weiß zum Beispiel, dass wir nur sehr selten, die Wahrheit erfahren und dass es wahrscheinlich so besser ist. Ich denke, die Wahrheit würde uns zutiefst erschüttern und völlig entmutigen. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir vollkommen manipuliert werden. Um etwas auf dieser Welt zu bewegen, müssen wir bei den kleinen Dingen anfangen: Auf der Straße, in kleinen Wohltätigkeitsvereinen, um dort direkte Hilfe zu leisten. Ich glaube nicht an die großen Organisationen. Da weiß man nicht, wo das Geld letztlich hingeht und wenn man es einmal erfährt, wird einem gleich schlecht. Deswegen denke ich, dass man im Kleinen arbeiten muss, um dort das zu leisten, was man leisten kann.

Ricore: Sie sind Patin von fünf Kindern aus Kambodscha....

Binoche: Ich hab vor kurzem mit dem kambodschanischen Dokumentarfilmer Rithy Panh gesprochen. Es war so spannend, ihm zuzuhören. Er meinte: Zuallererst müssen die Menschen in Kambodscha ihre Identität finden. Doch je stärker sich die westliche Welt und die internationalen Hilfsorganisationen im Land einmischen, desto schwerer wird es für sie, ihre eigene Identität finden. Deswegen sollte man helfen, ohne sich aufzudrängen. Natürlich ist auch materielle Hilfe nötig, aber wir müssen den Menschen vor allem dabei unterstützen, sich selbständig zu entwickeln. Deswegen müssen wir lernen, uns zurückzuziehen. Das gleiche gilt auch bei Kindern. Man kann ständig präsent sein.
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"Die Einwanderer bleiben am Rande der Gesellschaft"
Ricore: "Caché" erzählt auch von den schwierigen Umständen, unter denen Ausländer in Frankreich leben. Wie bewerten Sie die Lage in den Vororten der französischen Städte?

Binoche: Man hat jahrelang versucht, darüber hinwegzuschauen und das Problem zu vertuschen. Doch die Wahrheit ist, dass die Einwanderer am Rande der Gesellschaft bleiben. Sie sind alles andere als integriert. Es wird einige Generationen und viel Mut brauchen, um dieses Problem zu lösen. Zum Glück spricht man seit einigen Jahren mehr davon. Ich glaube, dass Filme, Musik und andere Künste eine Veränderung herbeiführen werden. Ich bin überzeugt, dass die derzeitige Zuspitzung positiv ist, auch wenn die Unruhen die eine oder andere Schwierigkeit mit sich bringt. Zum Glück hat Premierminister de Villepen jetzt mehr Geld für die Vororte versprochen.

Ricore: Wie würden Sie sich an Stelle der Ausländer verhalten? Würden Sie auch randalieren?

Binoche: Ich hoffe nicht. Ich würde versuchen, meinen Frust auf andere Art zum Ausdruck zu bringen. Aber manchmal ist es schwer, eine andere Ausdrucksweise zu finden.

Ricore: Könnten Sie sich vorstellen, gewalttätig zu werden?

Binoche: Ja, ich kann durchaus gewalttätig werden. Ich glaube, wir können alles werden.

Ricore: Bei "Caché" spielt ein Geheimnis eine große Rolle. Glauben Sie, dass man in einer festen Beziehung dem Partner gegenüber Geheimnisse haben darf?

Binoche: Ja, darf man durchaus. Die Frage ist nur, was für eine Beziehung man will. Es ist eine Frage der Entscheidung. Ich glaube, dass Geheimnisse als Selbstschutz dienen. Aber sie können auch sehr gefährlich sein. In der Bibel steht, dass man um zu reifen den eigenen Dämonen ins Auge blicken muss. Ich glaub in "Caché" geht es um das gleiche. Man muss einfach lernen, in den Spiegel zu blicken. Egal ob hässlich oder schuldig. Man muss die eigenen Schwächen akzeptieren, um stark zu werden. Dabei, das ist das wichtigste, wird man menschlicher.

Ricore: Mussten Sie sich in Ihrem Leben mit vielen Dämonen rumschlagen?

Binoche: Selbstverständlich. Es braucht viel Mut, aber das gehört zum Leben. Als Schauspielerin hat man das große Glück, verschiedene Situationen durchleben zu können. Man schlüpft in unterschiedlichste Charaktere und Geschichten hinein und erlebt Dinge, die im normalen Leben so nie passieren. Deswegen brauche ich auch keine Therapie. Das Schauspielen hat an sich schon so viel mit Analyse, Lockerlassen und Konfrontation zu tun. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich nach 20 Jahren besser kenne, als zu Anfang meiner Karriere.
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"Bedürfnis nach Anerkennung des kleinen Mädchens"
Ricore: Könnten Sie uns von einer Schwierigkeit oder einem Problem erzählen, dass Sie durch das Schauspielen lösen konnten.

Binoche: Es handelt sich um sehr intime Sachen. (Pause) Ich hatte eine Auseinandersetzung mit Daniel Auteuil. Dieser Film war für mich eine wunderbare Gelegenheit, ihm Sachen zu sagen, die ich ihm so wohl nie gesagt hätte.

Ricore: Der Film hat in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Was bedeuten für Sie Auszeichnungen?

Binoche: Als Kind habe ich nie Preise gewonnen. Die Achtung, die ich jetzt als Schauspielerin genieße, stillt das Bedürfnis nach Anerkennung des kleinen Mädchens in mir. Natürlich freue ich mich jedes Mal, wenn ich einen Preis gewinne. Aber man sollte nicht vergessen: Preise haben eher eine symbolische Bedeutung, da sie oft mit den extremen Situationen von Dreharbeiten sehr wenig zu tun haben.

Ricore: Sie waren als Kind sehr einsam. Was tun Sie, damit Ihre Kinder nicht einsam aufwachsen?

Binoche: Wir alle wachsen einsam auf. Und wir sind alle unglücklich. Das ist die Realität. Ich glaube, dass man auch in der Einsamkeit Glück empfinden und sich mit den anderen verbunden fühlen kann. Ich denke sogar, dass wir einsame Momente erleben sollten. Wenn Eltern versuchen, ihre Kinder immer zu schützen, können sie große Schäden anrichten. Wir müssen einfach erfahren, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Und das ist oft sehr schwer.

Ricore: Dieser Film handelt von schlimmen Kindheitserinnerungen. Welches sind Ihre schönsten Kindheitserinnerungen?

Binoche: Zu spielen. Mit Steinen zu spielen, mit kleinen Zweigen oder mit Schnecken. Und diese Freude mit anderen Kindern zu teilen.

Ricore: Sie träumen bekanntlich viel. Könnten Sie uns Ihren letzten Traum erzählen?

Binoche: Ich erinnere mich zwar sehr intensiv an meine Träume, aber ich vergesse sie dann auch genau so schnell. Mein letzter Traum... Ja, ich kann mich noch erinnern: Ich stand gegenüber der Tsunamiwelle und träumte, dass ich den Wassermassen entgegen gehe und sie aufhalten könne. Das war für mich etwas absolut Verblüffendes. Ob ich auch im wirklichen Leben so gehandelt hätte, weiß ich nicht. (Lacht)

Ricore: Frau Binoche, vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 19. Januar 2006
Zum Thema
Caché (Kinofilm)
Mit dem Begriff Verstörung lässt sich das Gefühl beschreiben, das den Zuschauer von "Caché" noch lange nach seinem Kinobesuch begleitet. Kein Wunder bei einem Regisseur wie Michael Haneke. Wie kein Zweiter Filmemacher vermag der Österreicher die verborgendsten und dunkelsten Seiten im Menschen zu enthüllen. Waren es in "Die Klavierspielerin" die seelischen Abgründe einer verbitterten Frau, so ist es hier die stillgeschwiegene Schuld eines Pariser Fernsehmoderators, die sich langsam aber sicher..
Die Karriere von Juliette Binoche war stets eine Gratwanderung zwischen großen amerikanischen Produktionen ("Der englische Patient") und europäischen Arthousefilmen ("Drei Farben: Blau"). Bekannt ist der französische Star auch dafür, in den letzten Jahren immer wieder lukrative Angebote aus Hollywood auszuschlagen. Zwei Mal gab sie Steven Spielberg einen Korb: Bei "Jurassic Park" und "Schindlers Liste".
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