Neue Visionen Filmverleih/Friede Clausz
Julia Jentsch in "24 Wochen"
Abtreibungsdrama "24 Wochen"
Interview: Julia Jentsch in der Rolle ihres Lebens
Es war klar, dass der Film heftig diskutiert werden würde und so kam es dann auch. "24 Wochen", der Abschlussfilm der 34-jährigen Nachwuchsregisseurin Anne Zohra Berrached ist eines der Highlights der Berlinale 2016. Der Grund für die Kontroverse ist das Thema des Dramas. Es geht um ein glückliches Ehepaar, das mit der Nachricht konfrontiert wird, dass ihr ungeborenes Baby an Downsyndrom leiden wird. Sie stehen vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens: Das Kind zur Welt bringen oder die Schwangerschaft abbrechen. Im Interview mit Filmreporter.de spricht Hauptdarstellerin Julia Jentsch über die wohl härteste Rolle ihrer Karriere.
erschienen am 10. 10. 2016
Neue Visionen Filmverleih
24 Wochen
Das Drehbuch hat mich sehr runtergezogen
Ricore Text: Frau Jentsch, wie sind Sie zu diesem bemerkenswerten Film der wunderbaren Regisseurin Anne Zohra Berrached gekommen?

Julia Jentsch: Ich habe das Drehbuch von meiner Agentin zugeschickt bekommen. Sie gab es mir mit der Ankündigung, dass es zwar ein großartiges Drehbuch sei, ich den Film aber bestimmt nicht machen wolle.' Ich sagte: 'Wenn du es mir schon so ankündigst, dann muss ich es unbedingt lesen.' Ich tat es und fand es sehr glaubwürdig und bewegend. Gleichzeitig hat es mich sehr runtergezogen und ich fragte mich, ob ich mich mit diesem Thema in den nächsten Monaten wirklich auseinandersetzen will.

Ricore: Was war der Grund, dass Sie sich dafür entschieden haben?

Jentsch: Letztendlich hat die wunderbare Regisseurin für die Entscheidung gesorgt. Ich traf mich mit Anne zu einer Art Kennenlern-Casting und merkte, wie sie arbeitet und wie sie als Mensch ist. Ich war beeindruckt. Bald wusste ich, dass ich mit ihr auf diese Reise gehen möchte.

Ricore: "24 Wochen" enthält einige schier unerträgliche Szenen. Wie haben Sie die Dreharbeiten durchgestanden?

Jentsch: Das fragte ich mich beim Lesen des Drehbuchs auch. Während der Vorbereitung ging es mir sehr schlecht, was ich nicht verstehen konnte. Schließlich ist das mein Beruf, den ich liebe. Außerdem handelt es sich um eine großartige Rolle. Trotzdem fühlte ich mich schlecht. Das Drehbuch lag die ganze Zeit in meinem Wohnzimmer und während die Dreharbeiten immer näher rückten, musste ich mich zur Arbeit überwinden. Ich wusste: Wenn ich dieses Buch erneut aufschlage, dann geht es mir wieder dreckig. Und so war es dann auch wirklich.

Ricore: Wie war es dann bei den Dreharbeiten?

Jentsch: Ich hatte großen Respekt vor dem Dreh und dachte, dass ich zehn Kreuze machen werde, wenn alles vorbei ist. Die ersten zwei, drei Tagen waren ein bisschen von dieser Stimmung geprägt. Dann kam das ganze Team zusammen, viele kannten sich noch nicht. Keiner wusste, wie er sich benehmen soll. Darf man angesichts des Themas lachen? Irgendwann wurde ein Schalter umgelegt und plötzlich waren alle diese lustigen, motivierten und positiv gestimmten Menschen am Werk. Auf einmal ging es nur darum, seine Arbeit zu machen und die Geschichte zu erzählen.

Ricore: Trotz des wuchtigen Themas, spielen Sie die Rolle sehr zurückgenommen. Das hätte leicht auch zu einem Schrei-Drama ausarten können. Wie haben Sie sich vorbereitet?

Jentsch: Ich hatte während der Vorbereitung das Bedürfnis, mit Menschen zu sprechen, die Ähnliches erlebt haben. Außerdem habe ich auf Annes Recherche zurückgegriffen. Sie hatte mehrere Paare getroffen, eines davon durfte ich auch kennenlernen. Es war ein extremes und bewegendes Erlebnis. Obwohl sie mir fremd waren, erzählten sie mir von ihren schlimmsten und intimsten Erlebnissen. Ich war gespalten. Einerseits wusste ich nicht, wie damit umzugehen. Andererseits habe ich diese Offenheit als Geschenk betrachtet.
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Julia Jentsch in "24 Wochen"
Julia Jentsch: Riesenrespekt vor diesen Menschen
Ricore: Ihre Figur geht mit ihrer Entscheidung an die Öffentlichkeit. Hätten Sie an ihrer Stelle ähnlich gehandelt?

Jentsch: Eine Entscheidung zu treffen, wie sie Astrid treffen musste, ist schwer genug. Zumal sie unter dem Eindruck der Einflüsse in ihrem sozialen Umfeld stand. Dann kam noch die Situation hinzu, in der sie von der öffentlichen Meinung beurteilt zu werden drohte. Diese Situation ist furchtbar, insofern verstehe ich ihre Entscheidung, unter diesem Druck an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich war zum Glück noch nicht mit so etwas konfrontiert.

Ricore: Im Film haben auch Menschen mit Downsyndrom kleine Auftritte. Wie war die Zusammenarbeit mit ihnen?

Jentsch: Ich hatte schon einmal mit einem Mädchen mit Downsyndrom bei einem Film zusammengearbeitet. Bei "24 Wochen" habe ich mich daran erinnert. Zum Beispiel erzählten mir die Eltern des Mädchens, dass sie bis zur Geburt von der Krankheit ihrer Tochter nichts wussten. Damals wurden noch keine pränatale Diagnosen gemacht. Die Mutter erzählte mir, dass sie manchmal nicht wusste, wie sie das schaffen sollte, weil ihr Kind extrem fordernd war. Die Zusammenarbeit machte damals großen Spaß und in "24 Wochen" war das nicht anders. Sie waren alle ganz toll und sehr offen. Einige von ihnen sind in einer Theatergruppe in Berlin und am Set waren sie sehr professionell bei der Sache.

Ricore: Eine andere Herausforderung dürfte die Tatsache gewesen sein, dass Astrid Kabarettistin ist.

Jentsch: Ich habe einen Riesenrespekt vor diesen Menschen. Ihr Job ist so ganz anders als die Schauspielerei. Man muss dafür schon einen speziellen Charakter haben. Sie haben diesen extremen inneren Motor. Wenn niemand bei ihren Witzen lacht, müssen sie sich trotzdem anfeuern und ihre Pointen bringen. Dabei sind sie allein auf der Bühne, während wir Schauspieler Partner um sich haben. Das ist echte Knochenarbeit, die sie da auf der Bühne machen.

Ricore: Gab es auch diesbezüglich Quellenrecherchen?

Jentsch: Anne sagte irgendwann, dass wir in echten Kabarett-Shows auftreten würden. Ich würde mich auf die Bühne stellen und die Sache schon schaukeln. Ich dachte nur: Oh Gott, das ist ja furchtbar (lacht). Dadurch habe ich aber die wunderbare Kabarettistin Lisa Feller kennengelernt, die mich unterstützt und Mut gemacht hat.
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Julia Jentsch und Bjarne Mädeln in "24 Wochen"
Crashkurs Stand-Up-Comedy?
Ricore: Gab Sie Ihnen einen Crashkurs in Sachen Stand-Up-Comedy?

Jentsch: Ja, das war eine Art Crashkurs. Klar konnte ich in der kurzen Zeit keine Kabarettistin werden. Aber sie half mir, einen Weg zu finden, damit es für den Film glaubwürdig wird.

Ricore: Wie bekamen Sie die echten Comedians in den Film?

Jentsch: Es lag vor allem an der unglaublichen Überzeugungskraft von Anne, dass wir so viele Leute aus der Branche gewinnen konnten. Sie machten gerne mit und erlaubten uns in ihren Shows zu drehen. Bevor wir unseren Auftritt in "Ladies Night" hatten, hatte Gerburg Jahnke noch eine andere Show. Es war eine Art Warm-up für sich selbst, die nicht fürs Fernsehen aufgezeichent wird, aber ganz normal vor Publikum stattfindet. Auf einmal sagte Gerburg: Ach ja, und hier ist Julia, die zwar erst morgen ihren Auftritt hat, aber vielleicht will sie es ja heute schon probieren. Ich war vor Aufregung fast gestorben. Gleichzeitig war ich so beeindruckt von dieser Frau. Es war ja mutig von ihr, schließlich hätte ich ihre Show ja ruinieren können.

Ricore: Wissen Sie, dass Sie bereits als Kandidatin für den Darstellerpreis dieser Berlinale gehandelt werden?

Jentsch: Wie bitte? Was sagen Sie da? (lacht)

Ricore: Nun, man kann bereits so einiges lesen?

Jentsch: Ich bin noch nicht viel zum Lesen gekommen. Ich weiß nur, dass es gestern diese wunderbare Reaktion vom Publikum gab. Nachdem wir alle so aufgeregt waren und nicht wussten, wie der Film angenommen wird, war das eine überwältigende Erfahrung. Heute spüren wir alle eine freudige und erschöpfte Erleichterung.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 10. Oktober 2016
Zum Thema
24 Wochen (Kinofilm)
Es ist einer der einfühlsamsten und intensivsten Filme der Anne Zohra Berrached an der Filmakademie Baden-Württemberg. Nicht nur, weil es ein schwieriges Thema anpackt, sondern sich diesem auch auf filmisch sensible Weise nähert.
Bevor Julia Jentsch das Kino im Sturm eroberte, war sie zumeist auf Theaterbühnen zu sehen. So war sie bis 2006 festes Ensemblemitglied bei den Die fetten Jahre sind vorbei" ergatterte, und in Sophie Scholl in Marc Rothemunds gleichnamigen Film verkörperte. Zahlreiche Preise und eine Oscar-Nominierung für den besten nicht-englischsprachigen Film waren die Folge. Heute konzentriert sich Julia Jentsch mehr auf ihre Schauspielkarriere. Im Theater ist sie nur mehr als Gast-Darstellerin zu..
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