Wirtschaftswachstum nur, wenn sich Akteure verschulden
Ricore Text: Gibt es zwischen ihnen einen Zusammenhang?
Carmen Losmann: Mich hat wirklich überrascht, dass Wirtschaftswachstum nur möglich ist, wenn Akteure sich verschulden. Was hat es zu bedeuten, wenn Wirtschaftswachstum sowohl die Voraussetzung als auch der Effekt von Verschuldung ist? Irgendwie bekam ich den Eindruck, die kapitalistische Ökonomie funktioniert als eine positive Feedbackschleife, wie eine Heizung, die immer heißer wird, weil die Temperatur steigt.
Ricore Text: Ihr Film vermittelt den Eindruck, dass viele Akteure diesen Zusammenhang nicht sehen wollen.
Carmen Losmann: Ich hatte schon den Eindruck, dass einige meiner Gesprächspartner meine Fragen naiv und einfältig fanden. Gleichzeitig sind sie selbst in ihrem ideologischen Frame der gegenwärtigen Wirtschaftslehre eingefasst, dass sie bestimmte Probleme nicht wahrnehmen. Beispielsweise werden wachsende Schulden als Problem gesehen, aber wachsende Gewinne und Vermögen sind wünschenswert - die Wechselwirkung zwischen beiden Seiten wurde selten angesprochen.
Ricore Text: Das heißt aber auch, ohne Kreditaufnahme bräche das System zusammen?
Carmen Losmann: Wenn die Nachfrage schrumpft und sich keiner findet, der sich neu verschuldet, gelangt das System an eine Grenze und kann in einem deflationären Prozess zusammenbrechen. Als in Deutschland die Märkte Ende der 1960er soweit gesättigt waren, dass die Unternehmen nicht von sich aus investierten und sich weiter verschuldeten, sprang der Staat ein, erließ das sogenannte Gesetz für Stabilität und Wachstum und verhinderte mit der Aufnahme von Staatsschulden, dass die Geldmenge schrumpft. Grundsätzlich gesprochen: Wenn wir eine Wirtschaft gut finden, in der Unternehmen nur dann produzieren, wenn sie einen Gewinn erwarten können, dann müssen wir es gleichermaßen gut finden, wenn sich dabei Akteure dauerhaft für diese Gewinne verschulden. Und wenn sich Staaten verschulden ist es allemal besser, als wenn sich Privatleute verschulden müssen. Technisch gesehen könnte der Staat das unbegrenzt über seine jeweilige Zentralbank tun anstatt sich bei privaten Investoren zu verschulden, die in erster Linie eine wachstumsorientierte Regierungspolitik erwarten. Oder zumindest Gewinne und Vermögen stärker besteuern, die ja unter anderem durch Staatsverschuldung ermöglicht wurden. Kurzum: Staaten könnten viel selbstbewusster auftreten was ihre monetäre Souveränität anbelangt. Und dies vor allem unter dem drängenden Aspekt, dass wir uns kräftig ins Bein hacken, wenn wir unsere ökologischen Lebensgrundlagen durch uneingeschränktes Wirtschaftswachstum ruinieren.
Ricore Text: Warum passiert dies nicht?
Carmen Losmann: Meine Wahrnehmung ist, dass sein Handeln oft mit Kapitalinteressen verwoben ist oder zumindest von dessen Blick auf die Welt. Alle Akteure scheinen geprägt von der Denkschule der Neoklassik, die die Wirtschaftswissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten dominierte. Sie klammert mit den sozialen und ökologischen Folgen des Wirtschaftens einen Teil der Realität einfach aus. Das ökonomische Weltbild muss sich daher dringend den gesellschaftlichen und ökologischen Problemlagen stellen. Dieses Wirtschaftssystem ist nicht Gott gegeben und nicht unveränderbar - im Gegenteil: wir könnten es auch ganz anders machen.
Ricore Text: Ist der Staat heute überhaupt noch in der Lage, das System zu regulieren?
Carmen Losmann: Wenn wir unsere Demokratie ernst nehmen, müssen wir im Interesse der Mehrheit von uns Menschen den Schutz des Klimas durchsetzen. Wir sind die intelligenteste Spezies der Erde, wir können Lösungen finden. Nur dürfen wir nicht vergessen, dass viele von uns von dem herrschenden System profitieren. Keiner verzichtet freiwillig auf das Fliegen oder zahlt Steuern. Das müssen wir als demokratische Gesellschaft erkennen und mittels einer Politik durchsetzen, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist.
Ricore Text: Danke für das Gespräch