Ricore

Dear Comrades

Originaltitel
Dorogie tovarishchi
Regie
Andrei Konchalovsky
Darsteller
Yuliya Vysotskaya, Vladislav Komarov, Andrey Gusev, Yuliya Burova, Sergei Erlish, Alexander Maskelyne
Kinostart:
Deutschland, bei
Genre
Historienfilm
Land
Russland
Jahr
2020
Länge
121 min.
IMDB
IMDB
|0  katastrophal
brillant  10|
8,0 (Filmreporter)
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Prozess der Entfremdung zwischen Staat und Volk
Ludmilla (Yuliya Vysotskaya) gehört zu den Kadern der Kommunistischen Partei einer sowjetischen Kleinstadt, die das Leben der Menschen bestimmen. In der Mangelwirtschaft denkt sie oft nicht an andere, weiß sich aber sehr wohl selbst zu helfen. Während sich Hunderten Kunden stundenlang anstellen, um Grundnahrungsmittel zu kaufen, erhält sie im Hinterzimmer die begehrtesten Produkte.

Ihre Tochter Swetka (Yuliya Burova) wurde in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs geboren. Sie hat längst den Glauben an die blühende Zukunft im Kommunismus verloren. Sie gehört zu den Tausenden Arbeitern der örtlichen Elektrolokomotivenfabrik, die in den Streik getreten sind. Die Betriebsleitung hat die Löhne willkürlich gekürzt, während Parteiführer Nikita Sergejewitsch Chruschtschow die Preise für Lebensmittel anheben lässt.

Ludmilla wird zufällig Zeugin, als Mitarbeiter des Geheimdienstes auf die unbewaffneten Streikenden schießen. Eine Atmosphäre der Angst breitet sich in der gesamten Stadt aus. Willkürlich werden Menschen verhaftet, andere verschwinden. Zu ihnen gehört auch Swetka. Ludmilla macht sich auf die Suche in Krankenhäusern und Leichenhallen.
Die Struktur der Handlung und der Desillusionierungsprozess der Protagonistin Ludmillas erinnert ein wenig an Constantin Costa-Gavrass "Vermißt", in dem Jack Lemmon als amerikanischer Geschäftsmann nach seinem Sohn im Chile nach dem Putsch von Augusto Pinochet sucht. Wie Gavras stützt sich Regiealtmeister Andrei Konchalovsky auf wahre Begebenheiten. 1962 treten rund 5.000 Arbeiter in Nowotscherkassk, einer kleinen Stadt an der Wolga und Hochburg der Kosaken, in den Streik. Dutzende sterben, etliche werden zu langen Haftstrafen verurteilt. Zudem werden die Ereignisse vertuscht.

Die Parallelen zum 17. Juni 1953 und den Unruhen in Ungarn im Jahr 1956 sind nicht zu übersehen. Konchalovsky, der das Drehbuch seiner Frau Yuliya Vysotskaya auf den Leib schreibt, interessiert sich vor allem für das Denken und die Psyche von Ludmilla. Sie gehört, wie er selbst sagt, zur Generation seiner Eltern, die nach dem Sieg über Hitlerdeutschland in ihrem Glauben an die Macht der Sowjetunion und den Sieg des Kommunismus kaum zu erschüttern sind.

Er bettet ihren Konflikt zwischen der Liebe zu ihrer Tochter, die sie mit allen Mitteln retten will, und der Parteilinie in ein stimmiges Zeitbild des Lebens in der Sowjetunion ein. Für manch Lacher und Kopfschütteln sorgt dabei das Verhalten ihrer Kollegen in den Parteileitungen und in der Betriebsleitung. Sie stehen fassungslos vor dem Aufschrei der Arbeitenden, die sie versuchen zu kriminalisieren. Sie haben keine Idee, wie sie deren berechtigten Anliegen begegnen sollen. Sie wirken hilflos wie kleine Kinder, wenn sie in eilig zusammengerufen Versammlungen nach der Niederschlagung des Streiks ihre Ergebenheitsbekundungen und Phrasen absondern. Über allem schwebt aber die Angst vor dem übermächtigen Geheimdienst, der eigenmächtig agiert und die Schuld für die Toten auf die Armee abwälzen will.
Katharina Dockhorn/Filmreporter.de
2024