Movienet Film GmbH
Marie Miyayama
Marie Miyayamas Spielfilmdebüt
Interview: Japanisches Element: Schweigen
Marie Miyayama wuchs in Tokyo auf. 23-jährig kam sie nach Deutschland, um Theaterwissenschaften zu studieren. 1998 wechselte sie an die Hochschule für Fernsehen und Film München. In dieser Zeit hörte sie von einem tragischen Unfall, bei dem ein japanischer Junge seine Familie verlor. Auf diese Geschichte basierend, drehte Miyayama ihren ersten Spielfilm "Der rote Punkt" als Abschlussarbeit ihres Studiums. Das Budget war entsprechend gering, die Schauspieler arbeiteten umsonst. Die Resonanz auf das Drama war so gut, dass die Regisseurin es mit ihrem Erstlingswerk ins Kino schaffte. Wir sprachen mit Miyayama über die Entstehungsgeschichte ihres Films.
erschienen am 3. 06. 2009
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Regisseurin Marie Miyayama (Mitte) mit ihren Darstellern
Ricore: "Der rote Punkt" beruht auf einer wahren Begebenheit. Einen Teil der Geschichte bekamen Sie hautnah mit. Können Sie uns etwas darüber erzählen?

Marie Miyayama: Ich habe als Dolmetscherin eine Japanerin kennen gelernt, die mich zu diesem Film inspiriert hat. Sie war jedoch nicht das Kind, das den Unfall erlebt hat und überlebt, wie die Hauptfigur in meinem Film. Diese Japanerin war die Cousine des Kindes. Als Dolmetscherin habe ich die Frau begleitet, ohne zu wissen, was sie vorhatte. Sie trug eine Kopie einer Landkarte bei sich, auf der ein roter Punkt eingezeichnet war. Dort wollte sie hin. Wie sich herausstellte, befand sich dieser Punkt mitten im Nirgendwo auf einer grünen Wiese an der B 17. Wir fuhren erst mit dem Zug nach Landsberg, von dort aus nahmen wir ein Taxi. Sie zeigte dem Taxifahrer die Landkarte, hatte auch mehrere Fotos von der Stelle dabei, zu der sie wollte. Als wir ausstiegen, gab es dort tatsächlich nur Felder und Wiesen. Neben der Straße stand jedoch ein Gedenkstein. Die Frau nahm eine Flasche japanischen Reiswein, aus ihrer Tasche und schüttete den kompletten Inhalt auf den Gedenkstein. In diesem Moment war ich vollkommen sprachlos. Ich kannte die Hintergründe nicht, spürte aber eine Betroffenheit. Hinterher erzählte sie mir die Geschichte. Ihr Cousin hatte hier einen Unfall, bei dem seine gesamte Familie ums Leben kam. Ihre Tante adoptierte den Jungen daraufhin, mittlerweile ist er erwachsen. Der Unfallverursacher beging Fahrerflucht und konnte nie identifiziert werden.

Ricore: Eine tragische Geschichte. Doch in Ihrem Film erzählen Sie nicht nur die des Opfers, sondern auch jene des Täters...

Miyayama: Als ich die Geschichte erzählt bekam, war ich sehr bewegt - ich wusste gar nicht, was los ist. Dann dachte ich an den Menschen, der seine komplette Familie verloren hat. Doch ich dachte auch daran, dass es irgendwo jemanden gibt, der das alles verursacht hat. Der sich nie gestellt hat und vielleicht einfach seinen Alltag weiterlebt. Das war für mich der eigentliche Anlass, diese Geschichte zu erzählen.
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Szene aus "Der rote Punkt"
Ricore: Haben Sie noch Kontakt zu der japanischen Frau, weiß sie von dem Film?

Miyayama: Ja. Sie hatte mir damals alles in einem Café in Landsberg erzählt, worauf ich wie gesagt sehr bewegt war. Damals hatte ich gerade mein Studium an der Filmhochschule in München begonnen. Das muss so 1998 gewesen sein. Ich dachte sofort daran, diese Geschichte irgendwann einmal zu erzählen, vielleicht als Abschlussfilm meines Studiums, wie es dann auch passiert ist. Damals war ich noch am Anfang meines Studiums und wollte warten. Nach ein paar Jahren begann ich langsam mit der Recherche. Ich schrieb der Frau einen Brief - damals hatte ich noch keine Mailadresse. Ich erzählte ihr, dass ich jetzt Film studierte und gerne diese Geschichte erzählen würde. Ich fragte, ob sie mir die Geschichte ausführlich erzählen und ich sie besuchen könnte. Dann bin ich nach Japan geflogen. Ich selbst komme aus Tokyo, doch diese Familie kommt aus einer ganz anderen Ecke, wohnt in einer Stadt im Westen. Also bin ich dorthin gefahren. Die ganze Familie hat auf mich gewartet, sie haben mir alles gezeigt. Auch Tagebücher der Tante, die das Kind damals adoptiert hat und darin ausführlich alles beschrieb.

Ricore: Welche anderen Dokumente standen Ihnen zur Verfügung?

Miyayama: Sie zeigten mir auch viele Fotos von damals. Durch diese Fülle an Informationen habe ich eine sehr klare Vorstellung davon bekommen, wie der Film letztlich aussehen sollte. Es sollte zwar noch sehr lange dauern, bis ich den Film verwirklichen konnte, doch seitdem habe ich engen Kontakt zu der Familie gehalten. Von dem Unfall hörte ich etwa 1998, die Familie besuchte ich erstmals 2002. Ab 2005 habe ich dann an dem Drehbuch gearbeitet. Ich probierte zwei Jahre herum, es war nicht so einfach. Doch 2007 konnte ich endlich drehen, letztes Jahr ist der Film fertig geworden. Von Anfang bis Ende hat es also zehn Jahre gedauert. Als letztes Jahr alles fertig war, habe ich die Familie wieder besucht und ihnen alle Sachen - wie die Tagebücher und die Fotos zurückgegeben. Ich sagte ihnen, dass ich mit dem Film zufrieden sei und dass ich hoffe, dass sie es auch sein würden, wenn sie ihn sehen. Der Film wird zurzeit noch nicht in Japan gezeigt, doch wir arbeiten daran. Wie Sie sich vorstellen können, ist es mir sehr wichtig, dass die Familie mit dem Film zufrieden ist.
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Der rote Punkt
Ricore: Es ist ihr erster Spielfilm, "Der rote Punkt" ist die Abschlussarbeit ihres Studiums. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber warum wird dieser Film im Kino gezeigt?

Miyayama: Sie haben Recht, das ist ungewöhnlich.

Ricore: Wie ist es dazu gekommen, können Sie das beschreiben?

Miyayama: Für mich ist das, als hätte ich im Lotto gewonnen. Wir haben das natürlich nicht geplant. Ursprünglich hatte ich nicht mal einen Spielfilm geplant. Weil es sich um eine reale Begebenheit handelte, dachte ich eher an ein Mischprojekt, wollte mehr in die dokumentarische Richtung. Es sollte ein Film mittlerer Länge mit einigen fiktiven Elementen werden. Doch diese Idee wurde nicht so richtig verstanden. Ich war ja noch im Studium, vielleicht war das Projekt einfach noch nicht reif. Dann riet mir mein Professor zu dem Versuch einer fiktiven Geschichte. Erst dann begann ich, das Drehbuch zu schreiben. Ich hatte einen Koautor, der mir half. Das Drehbuch wurde letztlich länger als geplant. Die Filmhochschule will eigentlich nicht, dass Studenten einen Langfilm als Abschlussarbeit machen. Es ist aufwendiger, umständlicher, die Professoren müssen mehr Zeit aufwenden. Deshalb war die Schule nicht begeistert. Weil der Professor mein Projekt von Anfang an begleitet hatte, unterstützte er mich. Trotz des erstaunlich kleinen Budgets konnten wir einen Langfilm machen. Das ist eigentlich die Leistung des Produzenten. Er hat Sponsoren zu finden, die uns beispielsweise ein Auto zur Verfügung stellen. Die Teammitglieder haben kaum Geld bekommen. Wir konnten ihnen lediglich die Miete zahlen, das ist viel weniger, als sie sonst bekommen. Die Darsteller haben gar kein Geld bekommen. Wir fanden es unhöflich gegenüber den guten Darstellern, ein bisschen Geld anzubieten. Irgendwie haben wir es mit dem Budget also geschafft. Doch zu diesem Zeitpunkt wussten wir nicht, ob der Film überhaupt öffentlich gezeigt werden würde.
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Yuki Inomata in "Der rote Punkt"
Ricore: Doch er lief auf internationalen Festivals.

Miyayama: Richtig, zuerst bekamen wir eine Einladung von Montreal. Das ist ein ziemlich gutes Festival, was für uns an sich schon ein Riesenerfolg war. Wir dachten aber, dass sich niemand einen so kleinen Film ansehen würde. Doch der Film wurde viermal gezeigt und bei jedem Mal kamen mehr kanadische Besucher. Am Ende war er sogar ausverkauft. Darüber waren wir sehr überrascht. Obwohl sie nicht einen Schauspieler oder Produzenten kennen, sahen sie sich den Film an. Das hat uns das Gefühl gegeben, dass der Film doch funktionieren könnte, denn es war ein Indiz dafür, dass dem Publikum die Geschichte gefiel. Die Leute von der bayerischen Delegation in Montreal kamen nur aus Höflichkeit zu unserem Film. Doch als sie ihn gesehen hatten, waren sie begeistert und sagten, dass sie uns unterstützen wollten. Damit hat alles angefangen. Das war großes Glück. Dann hatte "Der rote Punkt" die deutsche Premiere auf dem Filmfestival in Hof. Dort wurde er wieder gut vom Publikum aufgenommen, alle drei Vorstellungen waren ausverkauft. Dann kam ein Filmverleih auf uns zu und wollte den Film ins Kino bringen. Das kam alles sehr überraschend, ich war sehr glücklich. Meine Erwartungen waren eher niedrig.

Ricore: "Der rote Punkt" läuft am 4. Juni in den deutschen Kinos an. Sind Sie aufgeregt?

Miyayama: Schon, sehr. Doch mittlerweile habe ich Vertrauen in den Film. In Kanada war ich total aufgeregt, hatte Magenschmerzen und sogar Durchfall. Ich dachte, dass niemand meinen Film sehen wollte. Doch dann sind die Leute gekommen und er hat ihnen sogar gefallen. In Deutschland war es das Gleiche. Deshalb habe ich mittlerweile das Gefühl, dass der Film funktioniert. Wobei das Publikum auf einem Filmfestival noch einmal ein anderes ist. Es interessiert sich für Filme und ist solche Werke gewohnt. Deshalb bin ich natürlich gespannt, ob das normale Kinopublikum meinen Film mögen wird. Er ist sehr ruhig und langsam, es kann daher durchaus sein, dass sich Zuschauer langweilen, die Hollywoodfilme gewohnt sind. Doch ich bin schon ein bisschen gelassener als am Anfang.
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Szene aus "Der rote Punkt"
Ricore: Mit am besten gefällt uns die Szene, in der Aki mit ihren imaginären Familienmitgliedern ein Picknick macht. Das ist sehr berührend, emotional und trotzdem nicht kitschig...

Miyayama: (unterbricht) ...ja, das war wichtig!

Ricore: …ist das der Punkt, an dem Akis Suche beendet ist, das Mädchen ihren inneren Frieden findet?

Miyayama: Ja, definitiv. Für mich war diese Szene der Schlüssel des Films. Funktioniert diese Szene, dann funktioniert auch der Film. Wenn es hier kippen würde, wäre der gesamte Film kitschig. Für mich war sehr wichtig, dass es in dieser Szene auch Freude gibt, nicht nur Trauer und Tränen. Obwohl es sehr traurig ist, sollte die Szene lustig und leicht sein. Das war von Anfang an der Plan. Die Darsteller, Akis Vater und Mutter, sind beide gute Freunde von mir. Der Vater ist ein guter Schauspieler, er hat selbst gerade ein Kind bekommen. Die Mutter wohnt in Paris und ist mit einem Franzosen verheiratet. Sie hat gerade ein Baby bekommen, das Baby in der Szene ist ihres. Deshalb habe ich sie gebeten, aus ihrer eigenen Erfahrung zu schöpfen. Wir haben viel geprobt und viel improvisiert. Ich habe die Darsteller dann in die Konzeptionierung der Szene einbezogen. Was ich vorher geschrieben habe, war mir immer noch zu kitschig. Und durch das Lustige wirkte die Szene auch irgendwie unnatürlich. Dann haben wir die Szene praktisch nochmal neu erfunden. Was man jetzt sieht, stimmt nur noch teilweise mit meiner ursprünglichen Szene aus dem Drehbuch überein. Die Darsteller haben ihre eigenen Gefühle in dem Moment ausgedrückt, wir haben daraus gemeinsam eine Szene gemacht. Das hat erstaunlicherweise gut geklappt. Es war ein großes Glück, dass ich solche Darsteller hatte, die frei genug spielen konnten und ihren eigenen Gefühlen Platz geben konnten. Diese Picknick-Szene hatte ich von Anfang an im Kopf, wollte sie zur Schlüsselszene machen.

Ricore: Kommunikation und Sprache sind ein zentrales Motiv in "Der rote Punkt". Genauer gesagt: die Unfähigkeit, zu kommunizieren. Zum Einen ganz banal am Beispiel von Aki, die kein Deutsch kann, zum Anderen auf der familiären Ebene zwischen Vater und Sohn, die aus anderen Gründen nicht miteinander sprechen können...

Miyayama: Die nonverbale Kommunikation war mir sehr wichtig. Das ist eine der Stärken des Mediums Film im Gegensatz zu Büchern. Man kann vieles durch Mimik, generell durch Bilder deutlich machen. Als ich die Filmkunst kennengelernt habe, war ich bereits 16 Jahre alt. Ich bin recht spät zum Film gekommen. Ich sah damals einen europäischen Film und war beeindruckt. Es wurde etwas vermittelt, das man nicht mit Worten fassen kann. Dieses Prinzip, etwas ohne Worte zu erklären, macht für mich bis heute einen Teil der Schönheit eines Filmes aus. Solche Filme möchte ich auch machen. Auch in der japanischen Kultur wird viel ohne Worte kommuniziert, wir lesen viel zwischen den Zeilen. Dieses Schweigen ist sozusagen das japanische Element in "Der rote Punkt".

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 3. Juni 2009
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Der rote Punkt (Kinofilm)
Aki (Yuki Inomata) hat vor Jahren bei einem Autounfall ihre Familie verloren. Die junge Japanerin entschließt sich, an den Ort des Unglücks in Deutschland zu reisen, um mit ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen. In einem Dorf kommt sie bei der gastfreundlichen Familie Weber unter. Dabei kommen sich Aki und Elias (Orlando Klaus), der rebellische Sohn der Webers, immer näher. Doch Vater Johannes (Hans Kremer) hütet ein Geheimnis, das sowohl seinen Sohn als auch Aki erschüttern wird...
2024