Sascha Hilpert
Sascha Hilpert
"Erschreckend, wie wenig man weiß"
Interview: Eine große, tragische Geschichte
Anfang der 1970er Jahre ist Wolfgang Lötzsch das große Talent des DDR-Radsports. Die Olympischen Spiele stehen kurz bevor, nur eine kleine Formalität trennt den Ausnahmesportler von der internationalen Karriere: Der Eintritt in die SED. Aber Lötzsch weigert sich, vielleicht mehr aus jugendlichem Trotz als aus wirklicher Überzeugung. Bis heute weiß er nicht genau, ob er damals einen schweren Fehler oder eine kleine Heldentat beging. Sascha Hilpert und Sandra Prechtel haben dem widerspenstigen Spitzensportler im Dokumentarfilm "Sportsfreund Lötzsch" ein Denkmal gesetzt. Bei der Vorpremiere in München stellten sich die Regisseure bereitwillig unseren Fragen.
erschienen am 21. 07. 2008
MFA+ Film Distribution
Regisseurin Sandra Prechtel
Filmreporter.de: Wer von Ihnen kam auf die Idee, einen Film über den Radfahrer Wolfgang Lötzsch zu machen?

Sascha Hilpert: Ich habe in der taz einen Bericht über Wolfgang gelesen und mir gedacht, dass dies mehr als eine übliche Sportgeschichte ist. Die Geschichte von Wolfgang Lötzsch erzählt mehr als nur über übliche politische Dissidenten, und es geht um mehr als nur um Radsport.

Sandra Prechtel: Der Artikel hieß "Sonne in den Speichen". Wir fanden ihn schon beim Lesen wahnsinnig toll. Die Geschichte war tragisch und berührend gleichzeitig. Es ging über die DDR und erzählte gleichzeitig über einen Kampf David gegen Goliath. Das hat uns neugierig gemacht. Dann sind wir nach Chemnitz gefahren und haben Lötzsch kennengelernt.

Filmreporter.de: Wie schnell war Wolfgang Lötzsch bereit, den Film zu machen?

Prechtel: Als wir ihn in Chemnitz besuchten, hat er uns sofort seine Geschichte erzählt, von der Stasi, von der Überwachung und seinem Kampf. Es war gleich klar, dass er am liebsten sofort loslegen würde.

Filmreporter.de: Wieso haben Sie den Film zusammen gedreht?

Hilpert: Gemeinsam haben wir in der Kulturredaktion vom rbb gearbeitet und Magazinbeiträge gemacht. Eigentlich war es von Anfang an klar, dass wir den Film gemeinsam drehen. Das war von großer Bedeutung. Den Wolfgang musste man manchmal richtig in die Zange nehmen. Die erste Begegnung, von der Sandra sprach, war von einer gewissen Vorfreude auf das Projekt geprägt. Wolfgang hatte den Wunsch und das Bedürfnis, seine Geschichte zu erzählen. Auf der anderen Seite gab es auch ein spürbares Misstrauen. Es war zum Beispiel eine zentrale Frage, ob wir aus dem Osten oder Westen kommen. Zugleich stand seine Frage im Raum: "Könnt ihr meine Geschichte richtig erzählen, bin ich da wirklich gut aufgehoben?" Es gab von seiner Seite aus immer wieder Widerstände, aber das ist sein Naturell. Dabei hat sich gezeigt, dass es ganz gut war, dass wir selber nicht im Osten sozialisiert waren und deshalb auch Vieles nicht kannten. Wir mussten genauer nachfragen: "Was ist denn eine BSG? Inwieweit war denn das Ministerium für Staatssicherheit verquickt mit dem Deutschen Turn- und Sportbund?" Wir als Außenstehende hatten auch das Recht, genauer nachzufragen.
MFA+
Sportsfreund Lötzsch
Filmreporter.de: Hat das für Sie einen Teil der Faszination am Projekt ausgemacht? Dieses Eintauchen in eine Welt, zu der man nie einen direkten Bezug hatte?

Prechtel: Das ist ein wesentlicher Grund, warum man Dokumentarfilme macht. Man möchte in eine fremde Welt eintauchen. Die Radsportwelt, die Chemnitzer Welt, diese ganze Verquickung eines Lebens mit dem Überwachungsstaat ist uns fremd. Und genau darin liegt der Reiz, das will man entdecken. Bei mir gibt es eine unheimliche Neugierde. Ich habe auch schon davor einen Film gemacht, der sich mit der Geschichte der DDR befasst. Ich habe gemerkt, wie wenig ich eigentlich über diesen Staat weiß. Es ist erschreckend, welch verzerrtes Bild man davon hat. Ich wollte begreifen, wie der Alltag aussah und wie sehr man sich entscheiden musste, mit zu machen oder nicht. Diese Feinheiten haben wir in den Protagonisten in unserem Film gefunden, und das war sehr spannend.

Filmreporter.de: Wie haben Sie die anderen Protagonisten gefunden?

Hilpert: Schon nach der ersten Begegnung mit Wolfgang in Chemnitz war klar, dass diese Geschichte komplex und verfahren ist. Wir bekamen von Wolfgang seine Stasi-Akte, die kann man nicht so einfach von der Birthler-Behörde bekommen. Es gab verschiedene Freunde und darunter war Wolfgangs bester Freund. Wir haben uns sehr bemüht, ihn für ein Interview zu gewinnen, aber er wollte nicht. Wir haben nachgebohrt, aber irgendwann aufgehört, weil das nicht der Stil des Films ist. Stattdessen gab es den Gegenspieler Heinz Engelhardt, einen Stasi-Major, von dem wir auch aus den Akten erfahren haben. Und der war tatsächlich für ein Interview bereit. Es war schwierig zu recherchieren, wo der Mann heute lebt und was er macht.

Filmreporter.de: Man kann sich darüber wundern, mit welchem Selbstbewusstsein er sich vor der Kamera präsentiert und solche Dinge von sich gibt.

Prechtel: Einerseits weiß er, dass er im Fall Lötzsch Mist gebaut hat. Das war sein persönlicher Fall. Andererseits fehlt ihm das Gefühl dafür, dass er sich mit seinen Aussagen völlig bloßstellt. Er zeigt, dass er noch genauso denkt, dass es keine Einsicht oder Selbstkritik gibt. Er schaut in den Spiegel und findet sich toll. Dieses fehlende Bewusstsein dafür, was er gemacht hat, hat dazu geführt, dass er uns ein Interview gegeben hat. Er hat nicht gemerkt, dass er sich völlig demaskiert.
MFA+ Film Distribution
Eine Szene aus "Sportsfreund Lötzsch"
Filmreporter.de: Hat er den Film gesehen?

Hilpert: Er weiß zumindest, dass er fertig ist, aber kennt ihn noch nicht. Wahrscheinlich wünscht er sich eine Ansichts-DVD. Das Recht hat er, und wir sind neugierig, wie er reagiert.

Prechtel: Noch einmal zu den anderen Protagonisten. Es war schnell klar, dass Wolfgang Lötzsch diesen Widerstand nicht hätte leisten können, wenn nicht diese treue Truppe von Fans und kleinen Helden gewesen wäre. Der Radfahrer beispielsweise, der Lötzsch auf dem Podium die Hand gereicht und deshalb seine Stellung im Nationalkader verloren hat. Wir haben schnell begriffen, dass man alleine gegen diesen Staat nichts ausrichten konnte. Wenn man Wolfgang Lötzsch gegenüber loyal war, ist man unweigerlich in Opposition geraten. Und zwar so krass, dass alles auf dem Spiel stand. Es hat uns fasziniert, wie viele Leute sich für die Loyalität entschieden haben. Diesen kleinen Helden wollten wir auch ein Denkmal setzen.

Filmreporter.de: Wie haben sie reagiert, als sie gefragt wurden, ob sie mitmachen wollen? Gerade für die Ex-Frau und Freundin muss das komisch gewesen sein.

Prechtel: Das Irre bei allen Protagonisten war: Auch wenn sie nach so vielen Jahren nichts mehr mit Wolfgang zu tun hatten, waren sie von der Geschichte immer noch so mitgenommen und angerührt, dass sie sofort wieder in der Vergangenheit waren. Sie hatten Tränen in den Augen, wie zum Beispiel der Trainer Wolfgang Schoppe. Sie waren immer noch erschüttert, als hätte das Alles gestern stattgefunden. Auch bei den Frauen merkt man - das klingt vielleicht kitschig - dass sie ihn immer noch lieben. Die Berührung mit diesem Mann hat so nachhaltig das Leben eines jeden verändert, dass sie alle noch darüber reden wollten. Diese Geschichte hat sie bis heute extrem beschäftigt. Trainer Schoppe ist bis heute fassungslos, was Wolfgang widerfahren ist.

Hilpert: Mit Gabi, mit der Wolfgang kurz verheiratet war, hatte er keinen Kontakt mehr, auch keine Telefonnummer oder sonst was. Als wir sie auskundschafteten und sie gefragt haben, ob sie zu einem Interview bereit wäre, sagte sie: "Wolfgang soll erst einmal sagen, ob es für ihn ok ist, wenn ich über unsere Beziehung rede." Das ist absolut nachvollziehbar und fair. Dann haben wir die zwei telefonisch wieder zusammen gebracht.

Prechtel: Das war süß!

Hilpert: An der Stelle hat uns Wolfgang sehr vertraut. Wir haben ihm auch gesagt, dass es eine Grenze gibt, die wir nicht überschreiten. Es geht uns ja nicht darum, schmutzige Wäsche zu waschen.

Filmreporter.de: Was war die Begründung von Wolfgang Lötzschs besten Freund, warum er sich nicht öffentlich äußern will?

Hilpert: Auf der einen Seite sagte er: "Das interessiert heute keinen mehr. Den Film will keiner sehen, das sage ich Ihnen jetzt schon." Er hatte natürlich auch Angst. Er ist nicht angeworben worden, um jemand völlig Unbekannten zu bespitzeln, wie es in der DDR tausendfach vorkam. Er ist eingebrochen, nachdem man ihn festnahm. All das wollten wir thematisieren, es wäre auch für ihn eine Chance gewesen, seine Sicht der Dinge darzustellen. Er hat seinen Freund Wolfgang Lötzsch vergöttert, hat ihn zu Rennen begleitet, er war sein bester Freund. Irgendwann, nachdem Lötzsch zum notorischen Ausreiseantragsteller wurde und die ständige Vertretung der BRD in Berlin aufsuchte, haben sie ihn festgenommen. Sie wollten von ihm etwas über die potentiellen Fluchtpläne von Wolfgang erfahren. Und da ist er eingebrochen, irgendwann in einer langen Nacht. Er behauptete auch, dass es mehr als ein Verhör war. Im Interview, das nicht zustande kam, hätten wir diese Schwäche nachvollziehbar machen können, dass man auch als guter Freund einbrechen kann. Das wollte er nicht, aber wir wollten ihn trotzdem thematisieren. Und auch die Tatsache, dass die beiden befreundet waren und er nicht ein beliebiger Spitzel war.
Ann-Catherin Karg/Ricore Text
Wolfgang Lötzsch
Filmreporter.de: Dokumentarfilme haben immer eine besondere Eigendynamik. Worin haben sich Ihre Erwartungen und Pläne am meisten davon unterschieden, wie es dann gekommen ist?

Prechtel: Wir haben nie damit gerechnet, dass der Stasi-Major eine Aussage macht. Wir dachten, diese Akten würden anonym bleiben. Auch dass wir die Akten einbauen, war nicht von Anfang an klar. Aber dann mussten wir die Texte haben, um zu zeigen, wie zynisch diese Sprache ist. Wir haben nicht gedacht, dass wir den Major brauchen. Aber der Name tauchte immer wieder auf. Und irgendwann dachten wir: "Mein Gott, versuchen wir es halt. Was hat sich dieser Typ dabei gedacht, wenn er an seinem Schreibtisch saß und das alles abgezeichnet hat?" Sie schmiedeten Pläne, Wolfgang Lötzsch zum Alkoholiker zu machen. Sie wollten, dass sein Leben den Bach runtergeht, dass er Frauenbekanntschaften hat, damit seine Beziehung zerstört wird. Alles, damit er sich nicht mehr dem Sport widmet. Was für uns auch immer spannend war und was wir nicht wussten: "Ist Wolfgang Lötzsch ein gebrochener Mensch oder hat er immer noch diesen Stolz? Wie ist er aus der Sache heraus gekommen?" Eigentlich ist er beides. Er sagt, sein Leben ist zerstört worden, gleichzeitig ist er unheimlich stolz auf die Geschichte. Er sieht das auch je nach Tagesform anders. Manchmal ist er deprimiert über diese Tragödie, dass er nie ganz oben stand und den wirklichen Siegerkranz bekam, statt der Ferngläser und Tischdecken. Am nächsten Tag ist er wieder stolz und sagt: "Das ist gut so, ich habe alles richtig gemacht." Das war für uns überraschend.

Hilpert: Das war im Schnitt, wenn sich die Dramaturgie noch einmal verändert, unglaublich schwierig. Wir haben lange diskutiert, wie wir ihn nun entlassen sollen, mit welcher Haltung. In einem O-Ton, der nicht mehr drin ist, sagt er: "Diese kleine DDR war in der Weltspitze im Sport ganz oben, und dieses System habe ich besiegt, das ist für mich eine Genugtuung." Zugleich sagt er aber auch: "Sie haben mein Leben zerstört. Und dann geht dieser Zaun auf und es ist zu spät." Es gibt eben beides.

Prechtel: Für uns war es auch überraschend, dass er manchmal sehr positiv über die Staatssicherheit gesprochen hat. Über jene, die nach ihrer ideologischen Überzeugung gehandelt haben. Das konnte er akzeptieren, im Gegensatz zu denen, die ihr Fähnchen nach dem Wind gedreht haben. Vielleicht ist das etwas, was man als jemand aus dem Westen schwerer nachvollziehen kann. Die Schicksale sind ja irgendwie ähnlich, die ideologisch Überzeugten haben sich nach der Wende ja auch schwerer mit der Gegenwart abgefunden. Das ist ein komischer Berührungspunkt zwischen Lötzsch und denen, die ihm das Leben zur Hölle gemacht haben.

Hilpert: Das hat Wolfgang immer gesagt: "Wenn ich weiß, da ist jemand der in der Garage die Lenin-Büste stehen hat und morgens ins Ministerium für Staatssicherheit geht und seine Arbeit macht, ist das in Ordnung. Was mich verletzt hat, sind Freunde, die hinter meinem Rücken Informationen weitergegeben und mir das Leben schwer gemacht haben." Das wirklich Schwere ist, wenn man hintergangen und verraten wird, und danach nicht mal ein Zeichen der Reue oder eine Entschuldigung bekommt.
erschienen am 21. Juli 2008
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"Sportsfreund Lötzsch" ist Sascha Hilperts erste Film. Für die Dokumentation tut er sich mit seiner langjährigen Kollegin Sandra Prechtel zusammen, um dem DDR-Radsportler Wolfgang Lötzsch ein Denkmal zu setzen.
Sandra Prechtel interessiert sich besonders für die ostdeutsche Vergangenheit. Im Zentrum des Fernsehfilms "Nd - Deutsches Neuland" steht der Medienpalast der DDR, die Kinodokumentation "Sportsfreund Lötzsch" ist dem ostdeutschen Radsportler Wolfgang Lötzsch gewidmet. Für Prechtel liegt der Reiz am Dokumentarfilm darin, für eine gewisse Zeit in eine fremde Welt einzutauchen.
In der DDR wurden Sportler extrem gefördert - zumindest solange sie erfolgreich waren und sich der Staatsführung unterordneten. Der Fall des Radsportprofis Wolfgang Lötzsch ist ein Paradebeispiel dafür, wie das System Karrieren von in Ungnade gefallenen Sportlern torpedierte. Lötzsch galt als Riesentalent, träumte von den Olympischen Spielen. Der SED wollte er jedoch nicht beitreten. Als sein Cousin in den Westen floh, war der Ofen aus.
2024