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Radu Mihaileanu
Radu Mihaileanu zu Geh und lebe
Interview: Kosmopoliter Filmemacher
Radu Mihaileanu ist wenigen ein Begriff, sein Film "Zug des Lebens" war nicht nur auf zahlreichen Filmfestival ein großer Erfolg. Die Geschichte der jüdischen Bewohner eines kleinen Dorfes, die ihre eigene Deportation inszenieren, um den Konzentrationslagern zu entkommen, begeisterte und bewegte Publikum und Presse. Sein nicht minder beeindruckendes Werk "Geh und lebe" handelt ebenfalls von einer Tragödie jüngerem Datums, es thematisiert die Flucht äthiopischer Juden nach Israel und ihrer schwierigen Integration im gelobten Land.
erschienen am 7. 04. 2006
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Radu Mihaileanu am Set von "Geh und lebe"
Ricore: Ist es Spaß oder Stress einen Film bei einem Festival, wie der Berlinale vorzustellen?

Radu Mihaileanu: Es macht Spaß. Bei der ersten Vorführung, muss ich aber zugeben, hatte ich schon ein bisschen Herzklopfen. Schließlich war es die Weltpremiere des Films.

Ricore: Waren Sie sich unsicher, wie der "Geh und lebe" ankommen würde?

Mihaileanu: Man kann es vorher nie wissen. Sehen Sie: man arbeitet Jahrelang an einen einzigen Film und träumt die ganze Zeit von der ersten Vorführung. Aber man kann nicht vorhersehen, wie die Zuschauer die Geschichte annehmen werden und ob sie den Protagonisten in ihren Herzen schließen werden. Schließlich stammt er aus einem anderen Land und einer anderen Kultur. Wenn man am Ende sieht, dass die Menschen ihn wirklich mögen, das ist in großer Augenblick.

Ricore: Sie haben es dem Publikum leicht gemacht, indem Sie den emotionalen Film mit einer guten Portion Humor abgereichert haben.

Mihaileanu: Humor ist ein Bestandteil meiner Natur und meiner Kultur. Ich hasse es einfach, nur traurig zu sein. Ich glaube, dass Humor die einzige Waffe ist, die wir gegen die Tragödien, die sich täglich abspielen, besitzen. Unser Leben ist viel zu kurz, es kann schon in einer Sekunde vorbei sein, um nur traurig zu sein. Wir brauchen einfach Humor.

Ricore: Nach der Vorführung hier in Berlin haben Sie gesagt, dass Sirak M. Sabahat, der den älteren Schlomo spielt, eine ähnlich schwere Lebensgeschichte wie der Protagonist hinter sich hat.

Mihaileanu: Es gibt keinen einzigen Äthiopier, der nach Israel kommt und nicht eine schreckliche Geschichte zu erzählen hat.
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Geh und Lebe
Ricore: Wurden die beiden jüngeren Schlomo-Darsteller in Israel geboren?

Mihaileanu: Nur der kleinere, Moshe Agazai. Moshe Abebe, der den Teenager Schlomo spielt, wurde in Äthiopien geboren. Er kam nach Israel, als er zwei war. Während Sirak mit acht oder neun nach Israel kam.

Ricore: Haben Sie vor dem Film mit ihm viel über seine Geschichte gesprochen?

Mihaileanu: Nicht nur mit ihm. Viele Crewmitglieder und Schauspieler kommen aus Äthiopien. Ich hab mit allen gesprochen. Ein Schauspieler hat mir eine sehr berührende Geschichte erzählt. Als wir die Flugzeugszene im Sudan gedreht haben, fing er plötzlich an zu weinen. Als man ihn fragte, was mit ihm los sei, sagte er, dass er genau die gleiche Szene in seinem Leben erlebt habe. Damals habe er im Flugzeug nach Israel geweint und gebeten, zurückkehren zu dürfen. Er wollte seine Sandalen holen. Seine Sandalen waren das einzige, was er besaß. Diese Geschichte zeigt, aus welchen Verhältnissen die Menschen nach Israel gekommen sind. Die meisten von ihnen hatten nicht einmal Sandalen. Auch die Schauspielerin, die die wunderschöne Frau in der Disco spielt und heute als Model in Israel arbeitet, hat uns eine schreckliche Geschichte erzählt. Als sie mit ihrer Familie die Grenze zum Sudan überqueren wollte, wurden alle verhaftet. Ihr Vater wurde im Gefängnis misshandelt und erst nach Jahren wieder freigelassen.

Ricore: Wie lief es denn am Set? Wie war es mit Menschen zu arbeiten, die die Tragödie, von der der Film handelt, auf ihre eigene Haut erlebt hatten?

Mihaileanu: Es gab sehr bewegende Momente. Wir haben zum Beispiel in einem Flüchtlingslager gedreht. Als die äthiopischen Flüchtlinge, die ich für den Film gecastet hatte, das Lager sahen, wollten sie nicht aus dem Bus steigen. Sie hatten Angst, wir würden sie in ein echtes Lager bringen. Es gab sehr viele heikle Momente, die Dreharbeiten waren sehr anstrengend. Wir haben sechs Tage die Woche gedreht und jeden Tag über zwölf Stunden gearbeitet und das in einem Land, in dem Kriegszustand herrscht. Die Crew hat unter schwierigen Umständen und großer Anspannung gearbeitet. Außerdem wurden wir von fundamentalistischen Gruppierungen im Lande mit großem Argwohn beobachtet.
Wie eine Identität finden, wenn sich ein afrikanisches Kind in Israel als Jude ausgibt?
Ricore: Wie viele Juden leben heute noch in Äthiopien?

Mihaileanu: 10.000. Sharon hat mal gesagt, dass er bis 2007 alle Juden Äthiopiens nach Israel bringen wolle.

Ricore: Wollen denn alle Juden nach Israel?

Mihaileanu: Ich denke schon. Es kommen heute schon jeden Monat etwa 200 Juden von Äthiopien nach Israel.

Ricore: Sie sind ein in Rumänien geborener Jude, der heute in Frankreich lebt und einen französischen Pass besitzt. Was bedeutet Ihnen Israel? Wie nah ist Ihnen dieses Land?

Mihaileanu: Sehr nah. Ich bin kein israelischer Staatsbürger und lebe auch nicht dort, aber ich verfolge genau, was dort passiert. Gleichzeitig habe ich auch viele palästinensische Freunde. Was mit ihnen passiert, macht mir große Sorgen. Ich glaube, dass die einzige Lösung, so banal es auch klingt, Friede ist. Die Menschen dort wollen sich nicht bekämpfen. Sie sind die Opfer dieses Krieges. Nur 15 bis 20 Prozent Extremisten auf beiden Seiten und zwei bis drei Nachbarländer wollen den Konflikt. Ich hoffe sehr, dass der Friedensprozess wieder in Gang kommt und dass die Kinder auf beiden Seiten der Grenze nicht mehr nur von Krieg sprechen werden.

Ricore: Kannten Sie Israel gut, bevor Sie den Film gedreht haben? Oder war für Sie der Film auch ein Anlass, das Land kennen zu lernen?

Mihaileanu: Nein, ich war schon in den 1980ern in Israel, nach meiner Flucht aus Rumänien. Erst dann ging ich nach Paris. Seitdem war ich oft in Israel. Ich kenn das Land ziemlich gut. Allein für diesen Film habe ich drei Jahre dort verbracht.
Es ist für ein Kind nicht einfach in der Fremde (Moshe Agaza)
Ricore: Sie drehen sehr internationale Filme...

Mihaileanu: ...erst vor kurzem habe ich einen Film über Pygmäen gemacht. Er lief auf ARTE.

Ricore: Könnten Sie sich vorstellen, einen Film in Deutschland zu drehen?

Mihaileanu: Warum nicht? Ich brauch nur eine Geschichte. Ich suche mir nicht zuerst das Land aus, die Geschichte steht für mich immer an erster Stelle. Wenn die Geschichte stark genug ist, gehe ich in das Land, wo sie gedreht werden soll.

Ricore: Haben Sie bereits ein neues Projekt im Visier?

Mihaileanu: Vielleicht. Aber es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen.

Ricore: Es spielt aber nicht in Deutschland?

Mihaileanu: Nein, aber es gibt einen deutschen Koproduzenten und vielleicht wird ein Teil in Deutschland gedreht.

Ricore: Am Ende von "Zug des Lebens" gibt es einen Zoom aus dem Gesicht des Protagonisten, der uns zeigt und uns daran erinnert, vor welchem Hintergrund die Geschichte spielt. Auch in "Va, vis, et deviens" benutzen Sie die gleiche Technik. Sie verlassen den Protagonisten und zeigen uns dessen Welt. Ein sehr starkes Stilelement.

Mihaileanu: Ich hab darüber nie nachgedacht, aber es stimmt.

Ricore: vielen Dank für das Gespräch!

Mihaileanu: Ich danke Ihnen.
erschienen am 7. April 2006
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Das Drama über ein ungewöhnliches Flüchtlingskind stellt die Immigrations- und Integrationsfrage aus einer interessanten Perspektive. Radu Mihaileanu hat bereits mit "Zug des Lebens" bewiesen, dass er bewegende menschliche Schicksale gekonnt als Tragödie und als Komödie zugleich inszenieren kann, ohne sich über seine Figuren lustig zu machen. Hintergrund von "Va, vis, et deviens" ist die "Operation Moses", mit der Israel 1984 über 6.000 schwarze Juden aus dem Sudan ins heilige Land holt, aber..
Mihaileanu wird am 23. April 1958 in Rumänien geboren. 1980 verlässt er von Ceausescus Diktatur entnervt das Land, und landet nach einem Aufenthalt in Israel in Paris. Dort beginnt er ein Studium an der Filmschule IDHEC. Nach mehreren Kurzfilmen dreht er 1993 seinen ersten Spielfilm, "Trahir". Es folgen Arbeiten fürs Fernsehen bevor 1998 "Zug des Lebens" von Sundance und Venedig mit Preisen geehrt den internationalen Durchbruch bringt. Herkunft, Heimat und Identität sind die Themen, um die..
2024